Mittwoch, 25. Januar 2012

Wer innovative Pastoral machen kann

Legendär sind die Klagen pastoraler Mitarbeiter über die Unbeweglichkeit des Pfarrers, weniger bekannt die Klagen von Pfarrern über inkompetente Pfarrgemeinderäte, selten öffentlich wahrgenommen die Klagen von ReligionslehrerInnen, ihre Beiträge würden zuwenig ernst genommen. Wenn nun thematisiert wird, wer in der Kirche innovative Impulse geben kann und soll, dann ist es zugleich eine Frage nach dem pastoralen Subjekt. Dazu hat das letzte Konzil unhintergehbar auf die Taufgnade verwiesen, und damit den Handlungsimpuls von der Hierarchie weg auf die Gemeinde der Gläubigen, und sogar auf den einzelnen Christen verschoben. Natürlich müssen sich in der Folge auch die Gemeinden wandeln von den Gnadenempfängern hin zu selbstverantwortlichen Gestaltern des kirchlichen und öffentlichen Lebens.
Dieser Hinweis auf die Gottesunmittelbarkeit jedes Gläubigen, die innovative Pastoral in allen ihren Schattierungen voraussetzt, soll aber nun durch einige Vorschläge ergänzt werden, wie Gemeinden ihre Handlungsfähigkeit wahrnehmen können, wenn sie sich nicht ausreichend von ihrem Pfarrer unterstützt fühlen.
Interessensgruppen können sich bilden um pastorale Anliegen, z.B. um Liturgie oder Jugendpastoral. Da wäre abzuklären, welche Ziele verfolgt werden sollen und was dazu beigetragen werden könnte. Darüber wäre das Gespräch mit dem Pfarrer zu suchen. Weitere Unterstützung könne vom Dechant, einem anderen Pfarrer, ReligionslehrerInnen oder dem Pastoralamt erfordert werden. Auch in den weiteren Phasen der Realisierung sollte um die Rückendeckung des Pfarrers angesucht werden, auch wenn er nicht selber federführend beteiligt ist, denn innovative Projekte können Widerstand hervorrufen.
Eindeutig in der Reichweite von Gemeindemitgliedern liegen Aktionen des Sozialkreises, Akzente in der Sakramentenkatechese, Kontakte zu Medienvertretern, öffentliche kirchliche Aktionen, aber auch die Gestaltung des Kirchenraums, Kirchenmusik oder Mitgestaltung der Sonntagsmessen. Vielleicht gilt das alles ohnehin als bekannt und selbstverständlich: aber der Appell an die Initiative der Tatkräftigeren unter den Christen soll dem Zaudern und Jammern endlich ein Ende bereiten. Warum den Anfang immer auf die anderen schieben?

Donnerstag, 19. Januar 2012

Zur Notwendigkeit innovativer Pastoral

Ein großer Teil unserer kirchlichen Aktivitäten dient dazu, den eigenen Betrieb aufrechtzuerhalten. Gottesdienste, Sakramentenvorbereitung, Bürodienst können wie ein Hamsterrad sein, das in Gang zu halten mitunter den Atem raubt. Viel Zeit und Energie verschlingt ein Servicebetrieb, und von vielen, die sich wie Kunden fühlen, wird das auch so erwartet: ständige Erreichbarkeit, Terminwünsche, Sonderwünsche ohne Verpflichtung im Gegenzug.
Auf der anderen Seite ist jeder im Lande der Überzeugung, dass sich die Kirche grundlegend ändern müsste. Und gerade das „System“, von dem man als anspruchsvoller Konsument profitiert, ist Zielscheibe der Kritik. Ich halte allerding die Scharmützel, die seit Jahrzehnten um Papst und Zölibat ausgetragen werden (die Wortführer sind vor oder im Pensionsalter), für Scheingefechte, und die Interessen dahinter für bürgerliche, nicht kirchliche.
Aber ich vermisse kirchliche Antworten auf diese öffentliche Schieflage. Wie kann man Normalbetrieb spielen wie in einem Schrebergarten, wenn jedes Mal der Ball davonrollt? Eine der Antworten sollte eine längst fällige Modernisierung kirchlicher Abläufe sein, die in unserer Reichweite liegen. Das wird sich nicht nur auf Imagepflege beschränken können, sondern soll ein echtes und nachhaltiges Engagement für heutige Menschen und für die heutige Gesellschaft sein, angetrieben von großen Fragen und Bedürfnissen. Das Evangelium ist ja keine Mitgliederzeitung, sondern heilende Botschaft für die Welt. Und seine Verkündigung wurde nicht Firmen übertragen, sondern selbstverantwortlichen Menschen, auf deren volles Risiko. Zölibat und andere evangelische Räte haben doch gerade diesen Sinn: Ernst zu machen mit der christlichen Herausforderung für sich selber und für die Welt, in der man lebt!

Dienstag, 10. Januar 2012

Start

Als ich im vergangenen September in der Klagenfurter Pfarre Welzenegg neu begann, da habe ich mich nicht ungern als Anfänger bezeichnet. Und in Villach tat ich das zehn Jahre früher genauso. Der Neuanfang ist doch ein ganz wesentliches und zentrales Element des christlichen Glaubens: die Geburt des Herrn, die Auferstehung von den Toten, das Herabkommen des heiligen Geistes. Und deshalb feiern wir doch diese Feste, um den Anfang präsent zu halten das ganze Jahr!
Zum Neuanfang gehört Klarheit. Man soll wissen und bejahen, was da neu anhebt und in die Welt tritt. Bei den großen Festen steht immer eine menschliche Entscheidung dem göttlichen Ereignis gegenüber. Das Kind in der Krippe? Das Kommen der Hirten, der Weisen, aber nicht des Herodes. Das leere Grab? Das Kommen der Frauen, der Apostel nach und nach, aber nicht der Pharisäer und Schriftgelehrten. Der Geist in Sturm und Feuerzungen? Die Erleuchtung der Apostel und der Bewohner und Fremden in Jerusalem, aber nicht der Tempelpriester oder des Hohen Rates.
Zum Neuanfang gehört, dass Weichen gestellt werden. Entscheidungen müssen getroffen werden, die für die Zukunft gelten. Über solche Entscheidungen soll in den nächsten Wochen an dieser Stelle nachgedacht werden.

Noch etwas: Weil auch diese Artikelreihe, die von kirchlichen Erneuerungen handelt, selbst etwas Neues und ein Wagnis ist, stelle ich sie auf diesen Weblog und gebe so die Möglichkeit zu Kommentaren und Diskussion.

Samstag, 24. Dezember 2011

Imaginäre Größen. Eine Feiertagssendung

„Laudate dominum – oder: Lobe den Herrn/ Ehre sei Gott in der Höhe.
Bemerkenswert, wie viele Anrufungen erdacht und ersungen wurden, um einer imaginären Größe die Referenz zu erweisen.“
„Imaginäre Größen: Geronomo Cardamo, von der Inquisition des 16. Jhts verfolgter Mathematiker, prägte diesen Begriff.“
Elke Tschaikner und Christian Scheib zur Einleitung zu Bachs Choralvorspiel Nr.- 2459 und John Coltrains A love supreme.

Österreich 1 in Ö1 bis zwei – le week-end am 24. Dezember

http://oe1.orf.at/programm/291473


Ist es noch nötig, als bekennender Christ Medien zu konsumieren, etwa die ansonsten völlig harmlose und anspruchslose Brückensendung nach dem Mittagsjournal? Und sich dort den menschgewordenen Gott, der heute weltweit gefeiert wird, als imaginär hinstellen zu lassen? Wie ein Überfall hinterrücks, wenn man nicht zu kritischer Beobachtung aufgelegt ist. Und welche Alternative hat man in diesem freien Land mit seinen freien Medien...


Heute, 25. Dezember, 18. Uhr Abendjournal, über die Weihnachtsansprache des Papstes zum Neujahrssegen:

"Im Vergleich zum vergangenen Jahr war die Rede eher unambitioniert, Konfliktthemen sind nicht vorgekommen..."

Donnerstag, 10. November 2011

Die Kirche im Visier --- Replik auf Peter Strassers Beitrag „Im Reich der höheren Dummheit“

Wohltuend ist bereits, dass Peter Strasser in seiner Kritik an einer Geisteshaltung, die er mit Robert Musil „höhere Dummheit“ nennt, keine Feindbilder braucht. (http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/706148/Im-Reich-der-hoeheren-Dummheit?_vl_backlink=/home/spectrum/zeichenderzeit/index.do) Weder verdammt er die europäische Aufklärung, noch das österreichische Bildungssystem, noch bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Hochanzurechnen ist ihm, dass er ohne Polarisierungen geistige Phänomene in der gegenwärtigen Gesellschaft klar benennt und beschreibt. Als Betroffener der pauschalen Verdächtigung angestammter Institutionen wie der Kirche, „engstirnig und repressiv zu sein“, suche ich nach Subjekten, danach, wer diese Haltung der Vereinfachung und Banalisierung unterstützt und an ihr Interesse hat. Strasser nennt zuerst die Massenmedien, sodann den Lebenskunst-, Spiritualitäts-, und Esoterikmarkt, und schließlich das parawissenschaftliche Denken. Dass die Anprangerung der Kirche besonders ein Resultat der Meinungsproduktion von Massenmedien ist, hat sich dieser Tage wieder einmal klar gezeigt.
Vor wenigen Wochen bekam ich einen Anruf einer Dame, die mir Fragen zur Kirche stellen wollte. Ich habe diese Dame wohl sehr irritiert und gereizt, denn die Fragen des Zulehner´schen Pastoralinstituts waren allesamt tendenziell. Was soll man antworten, wenn nach der Notwendigkeit von Reformen gefragt wird? Ob man Probleme sähe beim Priesternachwuchs? Aber dass solche Erscheinungen durch die Änderung der Zulassungsbedingungen zum Priesteramt gelöst würden, wie die gesamte Befragung unterstellt, ist genauso triftig, wie wenn der österreichische Akademikermangel durch Vereinfachung der Matura und Verkürzung der Studien gelöst würde – was bekanntlich ja geschieht. Keine der Fragen beschäftigte sich mit dem Glaubensmangel und seinen Ursachen, es ging nur darum, Unzufriedenheiten abzutasten und in (altbekannte) Forderungen umzulenken. Warum diese Zulehner´sche Befragungsindustrie unwissenschaftlich ist, liegt daran, dass sich ja vornehmlich solche Priester daran beteiligen, die ihren ideologischen Hintergrund teilen. Viele meiner Priesterkollegen haben ihre Beteiligung verweigert.
Der ORF gab den Auftrag zu dieser Befragung, und auch das Geld. So produziert der ORF Schlagzeilen und platziert diese direkt zur herbstlichen Bischofskonferenz, um sie unter Druck zu setzen. So gut wie alle Printmedien sind ihm gefolgt. Ein Mechanismus der Produktion höherer Dummheit, den Strasser nicht anführt, ist die Anprangerung. So wie die Kirchenleitung seit Jahrzehnten, so werden die österreichischen Rechtspopulisten seit den Achzigerjahren angeprangert, trotzdem werden sie bei jeder Wahl stärker. Der seit vielen Jahren angezählte Berlusconi erweitert bisher stetig Macht und Einfluss, und seit einem Jahr stehen ganze Staaten am Pranger der öffentlichen Aufmerksamkeit. Als ein halbes Jahr lang (sehr bedauerliche!) Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen ans Licht gezerrt wurden, hörte man wöchentlich genüsslich verlesene Austrittszahlen. Die Empörung wird gelenkt. Nun sind in drei Wochen mehr Missbrauchsfälle in öffentlichen Heimen der Stadt Wien bekannt geworden, als damals im ganzen Land. Aber die Empörung hat sich nun einmal gegen die Kirche gewendet, nicht gegen die Wiener Sozialisten. Empörung ist säkular, der Feind Kirche ein Erbstück aus dem 17. Jahrhundert.
Die kritische Attitüde, die zwar einen Facebook-App einer katholischen Pfarre als Innovation feiert, aber wirkliche Erneuerungen wie demokratisches Mitwirken und Mitbestimmen von Frauen und Männern in der Kirche ignoriert, die weitsichtige kirchliche Bildungsarbeit oder engagiertes kirchliches Engagement für Ausgegrenzte nicht der Rede wert findet, folgt nur ausgetretenen Pfaden von Vorurteilen. Eine Beseitigung der höheren Dummheit bedürfte einer kritischen Reflexion der Methoden der Massenmedien!

Samstag, 15. Oktober 2011

Eine Entgegnung zu Rohrers „Ende des Gehorsams“

Am Stefanitag des Jahres 2010 hat Anneliese Rohrer versucht, den in Deutschland geborenen „Wutbürger“ mittels eines „Quergeschrieben“-Artikels in der PRESSE in Österreich heimisch zu machen. Die Reaktionen darauf waren verhalten, sie selbst klagt über Missverständnisse, als sie vom einberufenen Stammtisch in eine politische Leitungsrolle gedrängt wurde. Inzwischen hat sie ein Buch nachgereicht, das sie landauf landab vor kritischem und politikenttäuschtem Publikum präsentiert. Darin erregt sie sich über Politiker, die sich über Gesetze hinwegsetzen, und noch mehr über Bürger, die das nicht stört. Ihr Buch ist eine Kampfschrift, die zum Widerstand aufruft, und sie nennt als Inspiration die Revolutionen in arabischen Ländern. Die Methoden, die sie vorschlägt, sind Verfassung von Leserbriefen, Protestmails, mündlich geäußerte Kritik an Politikern und Ablehnung von Wahlzuckerln und Vergünstigungen, die von Politikern angeboten werden. Ich halte ihre Vorschläge für naiv, ihre zugrundeliegenden Analysen für falsch und vermute überdies eine Meinungskampagne des Blattes, für das sie arbeitet.

Rohrer sorgt sich um demokratische Einrichtungen in Österreich, die parteipolitisch missbraucht werden, und malt den Teufel an die Wand in der Form der hierzulande aus der Geschichte bekannten Ausschaltung des Parlaments durch autoritäre Politiker. Wie die Ökologiebewegung droht sie mit Untergangsszenarien, um Bürger zu demokratischer Wachsamkeit aufzurütteln. Aber ihr Demokratieverständnis ist zu formal. Wahlrecht, Bürgerbeteiligung und Gesetzestreue sind juristische Kategorien und entsprechen von Alters her dem lateinischen Diskurs im Dienst bürgerlicher Interessen der Erhaltung des Status Quo. Dagegen bedeutet Demokratie in der westlichen sowie allmählich auch in der arabischen Gesellschaft den Anspruch, frei über Lebenschancen, Sozialleistungen und vor allem über Konsumgüter verfügen zu können. Die bürgerliche Gesellschaft hat durch wirtschaftliche Prosperität und wissenschaftliche Forschung, Individualismus und Massenproduktion von Konsumgütern einen Hedonismus hervorgebracht, der längst nicht mehr ein Markenzeichen bloß der jüngeren Generation ist, sondern quer durch die Gesellschaft in allen Alters- und Berufsgruppen dominant ist. Die von Rohrer beklagte Lethargie ist ein Zustand der Sättigung, und ihr Versuch, die Satten an ihre Unzufriedenheit zu erinnern und zu „Wutbürgern“ zu emotionalisieren, wurde bereits früher von H.P.Martin, H.Schüller, J.Haider, H.C. Strache, F.Voves, R.Palfrader oder R.Düringer betrieben.

Ich selbst kämpfe hingegen darum, dass heutige Gläubige jeglicher Generation eine zeitgemäße christliche Identität entwickeln und stärken, die über den privaten Eigennutz hinausreicht. Dazu gehört die Stärkung der Gemeinde und ihrer Dienste, ganz besonders in der sonntäglichen Eucharistiefeier. Die von Rohrer beklagte Passivität und Konsummentalität muss auch hier überwunden werden, in Landgemeinden ebenso wie in städtischen, und in den älteren, bürgerlichen Generationen ist das noch schwieriger wie bei den Jungen. Am allgemeinen Desinteresse am öffentlichen Raum sind ja gerade die Massenmedien selbst sehr beteiligt, die das Öffentliche kolonisiert haben, sodass man zu Hause fernsieht oder Zeitung liest, wenn man sich informieren will, und nicht etwa ins Kaffeehaus geht oder auf den Markt. Für eine eucharistische Gemeinde muss hingegen der öffentliche Raum zurückerobert werden, und er ist mit Interesse am anderen sowie mit Inspiration durch das Evangelium zu füllen, und bitte nicht mit neuerlichen Konsumveranstaltungen aus der Brauchtums- oder Wohlfühlecke. Vorbilder für moderne Christen sind schwerlich in braven, angepassten Bürgerkreisen zu finden. Eher blicke ich auf Künstler und andere Wagemutige, und würde den Mut zu Risiko und Neuerung als spirituelles Ereignis betrachten. Vielleicht fällt der Übergang zu einem messianischen Christsein leichter, wenn man sich klar ist, dass eine moderne Kirche individuell sein muss und keine Massen erwarten kann. Aber an ihrer Lebendigkeit und Entschiedenheit wird sie zu erkennen sein – und das wird schwerlich von Provokationen zu Ungehorsam ausgelöst, gleich von welcher Seite.

Josef Mitterers neues Denken und unser alter Glaube

Nun sind endlich, nach zwei Jahrzehnten, seine beiden wichtigsten Bücher neu erschienen, und nach einigen Zufälligkeiten, dass dieser und jener Journalist in dieser und jener Zeitung sich entschied, darüber zu berichten (wie er selbst sagt), wird sein Denken auch von der philosophischen Kollegenschaft wahrgenommen. Es sind verhältnismäßig schmale Bände, „Das Jenseits der Philosophie“ und „Die Flucht aus der Beliebigkeit“, und sie benötigen kaum Fremdworte oder Fachvokabular, um ihre sehr radikalen Thesen darzustellen.
Die abendländische Philosophie, und im Anschluss erst recht die moderne Naturwissenschaft, würde immer von einem Gegensatz zwischen Denken und Sein ausgehen. Hier der menschliche Geist, dort die Natur, die er zu erkennen versuche. Aber diesen Gegensatz, den Mitterer als dualistisches Denken bezeichnet, macht das Denken. Es gibt keine Welt der Dinge, und daneben eine Welt ihrer Beschreibungen. Josef Mitterer, Philosoph an der Universität Klagenfurt, schlägt eine andere Art des Sprechens und Erkennens vor: das nondualistische Denken. Hier nimmt man den Gegenstand, über den man etwas sagen möchte, als bisherige Beschreibung, z. B. einen noch unbekannten Berg. Aber das Unbekannte wird bereits als ein Berg beschrieben, mit einer bestimmten Umgebung usw. Die Untersuchung soll nun diesen Berg erkunden, seine Höhe, seine Zusammensetzung und Geschichte. Der bisherigen Beschreibung wird somit eine weitere, spätere hinzugefügt. Nun hat der Berg einen Namen und gilt als bekannt und erschlossen. Die Erkenntnis findet zugleich in der Sprache (Beschreibung) und am Berg statt. Beides zusammen ist die Wirklichkeit. Es gibt keine Trennung zwischen Sprache und Wirklichkeit. Was hat das alles mit Religion zu tun?

Vor fast tausend Jahren hat der Benediktinermönch Anselm von Canterbury über Gottes Größe betend meditiert. Gott sei so groß, dass seine Nichtexistenz undenkbar wäre. Ein monotheistisches Gottesbild ist universal und transzendent. Die Grenzen unseres Denkens sind Gott nicht angemessen, zwischen hier und dort, zwischen früher und später, auch nicht die Grenze zwischen Gott bloß denken und Gottes wirklicher Existenz. Mit Josef Mitterer sage ich: Der Gläubige, der Gott begegnet, fügt den bisherigen Beschreibungen (Zeugnissen) eine hinzu: Dieser Gott, den die Väter bezeugen und zu dem Jesus betet, erweist sich auch in meinem Leben als liebender und lebendigmachender Gott. (Betende) Sprache und Wirklichkeit sind nicht zu trennen.

Samstag, 14. Mai 2011

Bürgerkirche und messianische Kirche

1.


Am Anfang dieser Untersuchung soll ein Gleichnis stehen, das Jesus erzählt:

Dann richtete er dieses Gleichnis an gewisse Leute, die von sich selber überzeugt waren, gerecht zu sein, und die anderen verachteten: Zwei Menschen stiegen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war Pharisäer, der andere Zöllner. Aufrecht stehend, betete der Pharisäer bei sich selbst so: O Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie der Rest der Menschen bin, wie die Räuber, Rechtsbrecher, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche; ich gebe den Zehnten von allem, was ich erwirtschafte. Der Zöllner hielt sich auf Distanz und wollte nicht einmal die Augen zum Himmel richten, sondern er schlug sich an die Brust, indem er sagte: O Gott, sei mit mir Sünder wieder versöhnt.
Ich sage euch, dieser stieg als der, der Recht bekommen hat, wieder hinunter nach Hause, eher als jener. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, aber derjenige, der sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.

(Lk 18, 9-14, übers. Francois Bovon, 2001)

a.
Weder Jesus wird genannt, noch die Adressaten seiner Erzählung. Diese „gewissen Leute“, die als selbstgerecht und verachtend beschrieben werden, sollen als Thema nicht nur des Gleichnisses, sondern auch meiner anschließenden Erörterung schon am Beginn in den Blick kommen. Gerade ihre ausdrückliche Nichtnennung macht den Hörer/Leser erst recht aufmerksam auf sie. Es ist eine Geste, welche anwesende Personen auf eine Weise adressiert, dass sie es erst bemerken können,
wenn sie dem Lauf der Geschichte folgen und die Pointe verstehen. Der Erzähler rechnet also damit, dass Anwesende die Geschichte hören könnten, ohne sie zu verstehen und sich selbst als Gemeinte zu erkennen. Somit hätte diese ungewöhnliche Einleitung eine markierende Funktion, etwa wie: Wer Ohren hat, der höre. Aber es ist mehr als das: Es wird vom Hörer eine Positionierung verlangt, er soll Stellung beziehen, ob er sich deklariert oder nicht. Denn er muss Kritik einstecken.

b.
Was hat es nun mit dem Gebet des Pharisäers auf sich, dass damit diese Person so umständlich und aufwändig in den Mittelpunkt gestellt wird? Es ist keine Bitte darunter – stattdessen eine Art Dank an Gott. Aber das, wofür gedankt wird, ist nicht ein glückliches Leben oder eine glückliche Geburt, sondern der Pharisäer dankt eigentlich für seine eigenen Leistungen – sich selbst. Denn kein Gesetzesbrecher zu sein führt er ja auf sein Pharisäersein zurück, das sich auf Gesetzestreue stützt. Fasten und der Zehnte entsprechen ebenfalls der pharisäischen Praxis zur Zeit Jesu. Somit bezieht sich sein vorgebliches Gespräch mit Gott gar nicht auf diesen, sondern ist ein Reflex auf sich selbst, eine Selbstvergewisserung im Tempel – aber nicht vor Gott, sondern vor der Tempelöffentlichkeit, als die hier bloß der Zöllner genannt ist.
Mit Ironie zeichnet der Text einerseits die aufrechte Haltung des Pharisäers, andererseits (siehe F. Bovon, S.209) sein Selbstgespräch, das womöglich laut – und dennoch zu sich selbst vorgetragen wird. Entscheidend ist hier, dass der vorgebliche Gottesbezug des Pharisäers, der in besonderer Gesetzestreue bestünde, als bloßes Selbstgespräch demaskiert wurde.

c.
In dieser Demaskierung scheint mir die besondere Dynamik des knappen Textes zu liegen. Die kleine Begebenheit im Tempel wird durch die Gegenüberstellung zweier Figuren zum Lehrgedicht, was am Schluss durch die doppelte Lehraussage angezeigt wird. Aber die Dynamik liegt nicht in diesem Ergebnis, das auswendig zu lernen und formelhaft nachzusagen wäre, sondern in der Anstrengung des Hörers, sich selbst als Angesprochenen zu erkennen und sich sodann auf den Weg der Umkehr zu machen. Dieser Erkenntnis dient dieses Gleichnis; sein Appell geht vom Zuhörer aus, der verstanden hat. Andererseits darf derjenige, der nicht dazu bereit ist, sich mit Unverständnis umhüllen und weiterhin andere Adressatengruppen benennen. Somit erlaubt das Gleichnis eine Navigation zwischen Glauben und Unglauben, und der Eingeweihte erkennt die Aufforderung zur Umkehr.

d.
Die Spannung, in die der Hörer versetzt wird, kann eigentlich nicht mehr zur Ruhe kommen. Denn sobald er aufhört, sich in seiner kirchlichen und sozialen Position von Gott legitimiert zu wähnen, wird er keine andere Ausflucht mehr finden. Er wird keine Umkehr mehr sehen, die in ein bestimmtes Verhalten mündet, in Frömmigkeitsformen oder eine bestimmte religiöse oder ethische Praxis, ohne wieder in die Ausgangssituation der Selbstgenügsamkeit zurückzukehren. In diese scheinbare Aporie einzutreten – vielmehr hineingestoßen zu werden, ist die eigentliche Absicht des Gleichnisses.
Doch diese unabschließbare Such- und Fragebewegung ist gerade die im Text gezeichnete Position des Zöllners, der sich auf Gottes Gnade angewiesen weiß. Seine Bitte um Versöhnung mit Gott ist das eigentliche Gebet. Die Distanz, die er hält, markiert seine religiöse und soziale Position, sein Beiseitestehen ist der Verzicht auf religiöse und soziale Anerkennung, auf die ein Zöllner offenbar von Standes wegen nicht hoffen darf. Was ihm nach menschlichem Ermessen verwehrt bleibt, richtet er als Bitte an Gott.

e.
Es bleibt also nur, entweder im Pseudogebet zu verharren und sich zu immunisieren durch Umadressierung religiöser Forderungen an die anderen, oder sich als von Gott getrennt zu bekennen und um Versöhnung zu bitten. Der solcherart anvisierte spannungsvolle Schwebezustand ist die eigentliche religiöse Haltung, die genau genommen in einem Offenhalten besteht. Im Gleichnis mag das in der Distanz des Zöllners sichtbar werden. Wie aber soll sich eine solche Spannung in einer geschichtlichen Religion manifestieren, ohne sofort wieder ins Pharisäische umzuschlagen? Diese Frage ist die Leitfrage des vorliegenden Essays.

f.
Die historische Gestalt der Pharisäer scheint im zweiten vorchristlichen Jahrhundert gegenüber den Makkabäern aufzutauchen, von denen sie sich abwenden. Die Peruschim (die Abgesonderten) wurden wohl zunächst abfällig so genannt (Gnilka 1994, S.107), fallen aber schon da durch ihre eigenwillige gesellschaftliche Positionierung auf. Trotz zeitweiliger Zerwürfnisse mit den Hasmonäerkönigen erlangen sie zunehmend gesellschaftlichen Einfluss, v.a. durch ihre besondere Art der Gesetzesauslegung. Josephus beschreibt als Zeitzeuge die pharisäische Halacha als eine außerbiblische Tradition, mit der die Tora zeitgemäß interpretiert werden konnte. Der „Zaun um die Tora“ ermöglichte eine Laienfrömmigkeit, die sozusagen demokratisch an die Seite des Tempelpriestertums trat und sich in den Synagogen entfaltete. Sadduzäer und Essener warfen ihnen Lässigkeit, Verführung und Irrtum vor und kritisierten ihren Standesdünkel und ihre strenge Vergeltungslehre, nach der die Heiligen und Frevler jeweils belohnt oder bestraft würden. Anhänger und Gegner berichten gleichermaßen von ihrem großen Interesse an der sozialen Stellung, die religiös sanktioniert wird. Ihre Führer stammen aus dem städtischen Bürgertum und tws. aus der Priesterschaft, ihre Anhänger aus allen gesellschaftlichen Schichten (Roland Deines). Nach dem jüdischen Krieg gehen die Pharisäer in der Rabbinischen Bewegung auf und bestimmen deren Gestalt maßgeblich.

g.
Ganz anders sieht es Jacob Neusner (Ein Rabbi spricht mit Jesus, 2007), der dem Jesus des „jüdischen“ Matthäusevangeliums wie ein Zeitzeuge bei der Bergpredigt begegnet und als amerikanischer Rabbiner des 21. Jahrhunderts in ein fiktives Gespräch mit ihm eintritt. Neusner kann viele Forderungen der Bergpredigt nachvollziehen. Aber woran er sich immer wieder stößt, ist Jesu Adressatenkreis. „Jesus spricht nicht zum ewigen Israel, sondern zu einer Gruppe von Jüngern.“ (45) Neusner wirft Jesus vor, sich mit einer Jüngerschar zu begnügen, anstatt seine Botschaft an das ganze Volk zu richten und ihm eine praktizierbare Form zu geben. Diese Radikalisierung der Tora, die Neusner durchaus anerkennt, fordert persönliche Entscheidung und führt tendenziell aus der sozialen Ordnung heraus, während Neusner die Tora an das Volk in seiner Gesamtheit adressiert sieht. Im Blick Neusners sucht Jesus ein abgeschiedenes Leben mit Anhängern, die ihre soziale Einbettung verlassen und sich allein seiner über der Tora stehenden Autorität unterwerfen müssen. Er verteidigt das Ansinnen der Pharisäer, durch Studium und Aneignung der Tora zu persönlicher Reinheit und Heiligung gelangen zu wollen, und zitiert zustimmend Rabbi Pinchas (Mischna, Sota 9,14), der eine Stufenleiter bis zur Auferstehung von den Toten anführt. Neusner zieht dieses allgemeine Gebot der Heiligung der Forderung Jesu vor, denn sie sei an das ganze Volk gerichtet und könne auch im gewöhnlichen alltäglichen Leben befolgt werden, etwa wie das Sabbatgebot. „Verkaufe alles, was du hast, gib das Geld den Armen und folge mir nach“ ist jedoch immer an einzelne gerichtet und würde als allgemeines Gebot jede Gesellschaft unterminieren.
Rabbi Neusner demonstriert, wie die Pharisäer das alltägliche Leben im Blick haben und dieses durch vernünftige, fromme Reglementierung an den in der Tora bezeugten Gott heranführen. Aber prophetisch argumentiert er nicht.

h.
In der Tat stehen die meisten alttestamentlichen Propheten gerade in einem Gegensatz zu dem bürgerlich-selbstzufriedenen Leben der Israelitenmehrheit. Die Beschimpfungen des Amos entzünden sich an leeren religiösen Ritualen, während die Armen – ebenfalls ein Anliegen der Tora! – geflissentlich übersehen und weiterhin übervorteilt werden. Seit den Tagen des Elija suchen die Propheten die Entscheidung, wollen prüfen, wollen Zuspitzung, verlangen den Wahrheitsbeweis. Das prophetische Drängen nach der göttlichen zurechtrichtenden Offenbarung mündet in die Apokalyptik, in die Erkenntnis von der eigentlichen, sonst verborgenen wirklichen Zugehörigkeit des Gläubigen wie des Gottlosen. Und während prophetische Kritik meist den Einzelnen vom ganzen, irrenden Volk abhebt, steht in der Apokalyptik doch Rettung oder Verderben aller auf dem Spiel. Gerade diese Zuspitzung aber führt zum Messianischen.



2.


Michel Foucault hat wie nebenher den Begriff des Dispositivs eingeführt und ihn kaum irgendwo definiert, außer durch den jeweiligen Gebrauch. Neuerdings hat Giorgio Agamben wieder darauf hingewiesen (2008) und ist dem Begriff durch die ganze Denkgeschichte gefolgt.

a.
Foucault verwendet den Begriff für eine „heterogene Gesamtheit von Willensäußerungen“, etwa durch Diskurse, Institutionen, Gesetze, Polizeimaßnahmen oder philosophische Haltungen. Es geht um Macht, und zwar weniger um Aneignung oder tätige Ausübung, sondern um das, was man will, und wie es dazu kommt, dass dieses oder jenes gewollt wird. Foucault gewinnt den Begriff durch sein Hegel-Studium und dessen Auseinandersetzung mit der Differenz zwischen „natürlicher“ und „positiver“ Religion. Ihn interessiert nämlich, wie es dazu kommt, dass einer historischen Religion mit ihren Vorschriften, Regeln und Institutionen ein bestimmter, persönlicher Glaube entspricht. Es geht um den Zusammenhang zwischen der inneren Einstellung und den realen, beobachtbaren gesellschaftlichen Vorgängen. Für das Verständnis von realer Macht leistet der Begriff Dispositiv vielleicht soviel, dass er die Gefühle und Einstellungen, die Haltungen und Normen, Gesetze, Ängste, Sorgen, Wünsche usw. ins Interesse rückt, ohne bei Beschreibungen von Machttechniken, Machtzentren oder Herrschaften stehen zu bleiben. Ihm geht es mehr um die subjektiven Vorgänge, als um die gesellschaftspolitische Umsetzung. Foucault hat mit diesem Begriff dem Machtverständnis eine entscheidende Wende gegeben, um von technischen Fragen, wer wozu welche Macht besitzt, zu den Fragen vorzudringen, was Menschen eigentlich suchen und erstreben, oder wovon sie sich abwenden, womit sie im Diskurs sind und in welche Richtung der Diskurs geht.

b.
Agamben zeigt den Begriff Dispositiv mit der theologischen Rede der göttlichen Ökonomia verwandt, die Gottes Schöpfungshandeln in der Welt, sein Inkarnationshandeln im Menschen, oder auch Gnadenhandeln in der Seele beschreibbar und unterscheidbar macht – während zugleich von Gottes Einheit gesprochen wird. Er nennt verschiedene Impulse oder verschiedene „Subjektivitäten“ in Gott (die drei Hypostasen Vater – Sohn – heiliger Geist), der dennoch als einer denkbar bleiben soll. Agamben stellt nun die Dispositive neben die Lebewesen, und sieht zwischen ihnen sich Subjekte bilden. So formt z.B. ein Mobiltelefon (gegenständliches Dispositiv) den Menschen zu einem Mobilfunknutzer (Subjekt), eine Domkirche (Architekturdispositiv) den Besucher zu einem Touristen, Kunsthistoriker oder Betenden (Subjekt), oder eine Kindermissbrauchsdiskussion (diskursives Dispositiv) den Diskursteilnehmer zu einem Richter über Institutionen (Subjekt) – und blockiert zugleich dessen Gläubigersein (Subjekt), denn für den Gläubigen ist Kirche Glaubensgemeinschaft, also ein Subjekt höherer Ordnung, und keine Institution. Man mag an diesen wenigen Beispielen ermessen, welch große Bedeutung Dispositive für subjektive Vorgänge haben. Agamben spricht von einem maßlosen Anwachsen der Dispositive und der daraus folgenden maßlosen Vermehrung der Subjektivierungsprozesse. (Was ist ein Dispositiv?, S.27)

c.
Das Dispositiv stellt sich zwischen des Menschen Sein und Handeln. War der Mensch früher einmal ein Waldbewohner, der auf Wetter, Tiere und Pflanzen achtete und mit ihnen kommunizierte, so hat sich durch das Dispositiv der Axt und der Säge sein Handeln völlig verändert, noch mehr durch das Dispositiv der Rechenoperationen und des Handels mit Gütern und Geld, und schließlich noch einmal durch das technische Dispositiv des iPods mit den Kopfhörern. Man sieht, dass jedes dieser Mittel ein anderes Subjekt erzeugt, das gilt für technische Geräte ebenso wie für Diskurse wie Tauschwirtschaft oder Export, für Jagd oder für Verkehrsverbindungen. Foucault spricht von Dispositiven als Maschinen, die Subjektivierungen produzieren. Die heutige Disziplinargesellschaft produziert mit Moden, Idolen und Feindbildern Massensubjekte wie eine Maschine – eine „Regierungsmaschine“. Interessant anzumerken, wie das Verständnis für Dispositive sogleich verstehbar macht, dass Subjekte etwas Abgeleitetes sind, und nicht diejenigen, die, wie die Aufklärungsphilosophie optimistisch dachte, durch freien Plan und Entschluss Wissenschaft betreiben oder technische Geräte zu bestimmten Zwecken herstellen. Foucault zeigt, dass umgekehrt die Existenz der Klinik erst die pathologische Wissenschaft hervorbringt, die Existenz des Gefängnisses durch Kontrolle und Steuerung die moderne Disziplin, ebenso wie Schulen und Fabriken.

d.
Agamben nennt das Opfer ein religiöses Dispositiv. Ihn interessiert nun weniger die transmissive Bedeutung des Opfers als Bedeutungsträger zwischen Mensch und Göttern, sondern die Absonderung des Gegenstandes vom weltlichen Bereich durch bestimmte Praktiken und Rituale. In diesem Sinne kann auch der Sabbat ein religiöses Dispositiv genannt werden, denn er ist der Tag der Gottesruhe und sondert auch seinen „Benutzer“ vom weltlichen Bereich ab und gliedert ihn in die göttliche Sphäre ein, im Medium der Ruhe. Das gleiche kann auch vom Dekalog gesagt werden, der den „Benutzer“ zu einem Empfänger göttlicher Weisungen macht (Subjekt). Das Dispositiv des Tempels macht den „Benutzer“ zum Volk Gottes und bringt ihn in Verbindung zum Göttlichen. Das Dispositiv der Beichte – dieses ist ausführlich untersucht und kommentiert worden (z.B. Roeder, Die Rolle des Geständnisses im Sexualitätsdiskurs, 2007) – produziert Sündersubjekte, d.h. Subjekte mit einer Spaltung, sodass sie sich von sich selbst distanzieren und auf die eigenen Wünsche und Verhaltensweisen kontrollierenden und korrigierenden Einfluss nehmen.
Solchen Dispositiven der Sakralisierung, die etwas von der Welt absondern und heiligen, stehen Gegendispositive der Profanisierung gegenüber, die etwas Heiliges in den alltäglichen Gebrauch zurückführen (Agamben, 2005). Agamben hat aber auch auf beeindruckende Weise vorgeführt, wie Dispositive nicht nur Subjektivierung erzeugen, sondern auch Desubjektivierung. In „Homo sacer“ (2002) entwickelt er das Bild vom abgesonderten Heiligen, der für das Opfer vorbereitet wurde, um daran etwa den heutigen Rechtlosen in seinen Konturen hervortreten zu lassen, der auf seine nackte Existenz reduziert wird. Hier verläuft eine Linie von den Konzentrationslagern bis zu den Migranten, die keine Rechtssubjekte mehr sind. Aber auch die Desubjektivierung des modernen Menschen zum „Bloom“, zum „folgsamsten und feigsten Gesellschaftskörper ..., den es in der Menschheitsgeschichte je gab“, durch das Dispositiv des potentiellen Terroristen soll hier mit Blick auf eine spätere Mediendiskussion angeführt werden, welche durch elektronische Überwachung des ganzen öffentlichen Raums die Stadt zu einem riesigen Gefängnis macht. (ebda 2008, S. 39f)

e.
Von Agamben gehen wir wieder zu Foucault zurück und betrachten das, was er die „strategische Funktion“ des Dispositivs nennt. Nehmen wir nochmals das einfache Beispiel des Mobiltelefons. Seine bloße Existenz „verführt“ den Besitzer dazu, es zu benutzen und z.B. einen Anruf entgegenzunehmen – gleich, in welcher Situation. Sobald es aber auch Internet-Funktionen aufweist, werden auch diese genutzt, ebenso wie die angebotene Möglichkeit der Musikwiedergabe oder der Fotographie oder Filmaufnahme. Und so hat die bloße Passivität gegenüber diesem Gegenstand bereits die Subjekte des Sprechers, Surfers und Musikhörers erzeugt, ohne dass solches beabsichtigt oder angestrebt werden musste. So ist die strategische Funktion zu verstehen. Ohne den Dispositivbegriff hätte man die durch den Gegenstand durchreichenden Absichten des Erfinders und Erzeugers verantwortlich gemacht für seinen Einfluss auf den Benutzer, wie bei einem trojanischen Pferd. Aber man wird sehen, dass das bei den meisten Dispositiven nicht möglich ist. Foucault nennt das Dispositiv Geschlecht. Es erzeugt Subjekte, durch die und über die Macht ausgeübt wird. Aber die Subjekte sind nicht die Verursacher, auch nicht die Träger von Macht, sondern sie nehmen an ihrer Manifestation teil.

f.
Ich möchte nun versuchen, das Pharisäertum als Dispositiv zu beschreiben. Dabei spielt es keine Rolle, wieviel oder wie wenig über diese historische und erst recht soziologische Formation bekannt ist. Es geht eher um die bestimmte Haltung, die von den Subjekten eingenommen wird. Auch die politischen Absichten und Strategien der religiösen Partei, über die nur wenig bekannt ist, sind nicht entscheidend für das Dispositiv, sondern hier ist eher interessant, wie sich die Teilnahme an dieser Gruppierung auf die Subjekte bzw. auf ihre Gegner auswirkt.
Grundlegend für das Selbstverständnis der Pharisäer ist das jüdische Auserwähltheitsbewusstsein. Der Sinai-Bund zwischen Jahwe und Israel (Ex 34) ist
symmetrisch, d.h. er fordert auch von der Familie Jahwes ein bestimmtes Verhalten, obwohl Israels Treue in der Einhaltung der Zehn Gebote nicht als Bedingung für Gottes Erwählung Israels angesehen wird. Während zur Zeit des ersten Tempels der Kult konstitutiv für Gottes Volk war, das darin seine Identität hatte, so wanderte nach dem Exil die Treue zur Tora in das Zentrum der Identität, die somit geistiger wurde. „Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“ (Ex 19,6), wurde zum pharisäischen Leitgedanken, der nunmehr Heiligkeit nicht mehr vornehmlich im Kult zu gewinnen suchte, sondern im Verhalten der Gläubigen. Dabei kann der Sabbat als neues Dispositiv durchaus als „demokratische Neuerung“ verstanden werden, da Heiligkeit nicht mehr der priesterlichen Abstammung vorbehalten wurde, sondern allen, auch einfachen Gläubigen niederschwellig zugänglich war. Damit wird die Möglichkeit der Heiligung zwar breit gestreut, aber sie hat sich nun von der Gnade der Gottesnähe gewandelt in ein aktives Hintreten des reinheitsbedachten Pharisäers vor das erwartete Kommen Gottes. Man erinnere sich an Rabbi Pinchas´ Rede vom Stufenaufstieg des Gläubigen, der sich heiligt, bis vor Gottes Angesicht (Sota 9,14). Um die Tora für die Zeitgenossen unter hellenistischen Bedingungen anwendbar zu machen, entwickeln die Pharisäer neben der schriftlichen Tora eine mündliche Tora - gewissermaßen aktualisierbare Anwenderregeln.

g.
Das Dispositiv des Pharisäers ist somit eine Nachahmung des Priesters – und deshalb eigentlich eine Weiterführung oder Substitution des Tempels. Die Sakralisierung des Tempeldieners für den Kult übersetzt sich hier in die Sakralisierung des vom Profanen Abgeschiedenen (Φαρισαῖος/ pharisaios vom hebräischen Verb פרשׂ (prš). Somit ist das Verhalten des Pharisäers im Gleichnis alles andere als überraschend, vielmehr ist seine Differenz zu den anderen konstitutiv für seine Gruppe, und stellvertretend für ganz Israel. Wenn sein angebliches Gebet gerade diese Differenz ausspricht, dann ist das weniger Arroganz als religiöser Auftrag. Dass die Abgeschiedenheit keine persönlichen Vorlieben widerspiegelt, sondern vom Pharisäerdispositiv erzeugtes Subjekt ist, entspricht der Strategie des Dispositivs. Es macht aus Kaufleuten und Händlern, Handwerkern und Stadtbürgern Heilige und Auserwählte, die naturgemäß sofort zu den aristokratischen Sadduzäern wie zu den radikalen Essenern in Differenz geraten. Dabei übersetzt das Dispositiv den Widerspruch zwischen dem geschäftigen, banalen Alltagsleben und der Sakralisierung in einen Standesdünkel, mit dem sie sich am Markt der Tora-Interpretationen behaupten und bewähren müssen.
Das Pharisäer-Dispositiv generiert Subjekte, die sich von der Autorität der Tora ableiten, und nicht von einer bestimmten Abstammung innerhalb des jüdischen Volkes. Für die Art der Herleitung besitzen sie einen bestimmten Schlüssel, den „Zaun der Tora“. Das Dispositiv ist dieser Schlüssel. Es erzeugt eine bestimmte Kasuistik, ein Regelwerk. Das Dispositiv ist der Diskurs der Anbindung der Alltagsereignisse an die Sinai-Offenbarung (Tora), also eine aktive Einbindung des Subjektes in dem Raum des Vorbeigangs Gottes (Ex 19), gewissermaßen eine Institutionalisierung der Offenheit und Zugänglichkeit dieses Raumes. Nochmals soll das Demokratische dieser Gestalt des Sakralen hervorgehoben werden, denn das Pharisäertum ist frei zugänglich und wählbar und bietet im wesentlichen keine sozialen Vorteile; ein eigener sozialer Stand ist in der Antike nicht nachweisbar. Was aber repräsentiert nun demgegenüber der Zöllner?

h.
Ein Zöllner ist ein freier Unternehmer, der im Dienst der römischen Besatzungsmacht Zoll auf den Warenverkehr einhebt und von der von eingehobenen Gewinnspanne lebt. Die Zusammenarbeit mit den heidnischen Römern macht ihn kultisch unrein. Der toratreue Jude muss sich also von ihm fernhalten. Wenn also der Zöllner ein Repräsentant von etwas ist, dann von Geschäftstüchtigkeit und Pragmatismus gegenüber der Besatzungsmacht. Und was ist er außerdem?
Auf dieser Ebene wäre das Gleichnis eine Art Sozialkritik, wozu es in heutigen Predigten gern benützt wird. Augustinus sieht darin eine Lehre des Betens, er unterscheidet Stolz und Demut (Sermo 115,1). Luther gibt zu, dass in der Reue des Zöllners auch eine Rechtfertigung gesehen werden könnte. Er unterscheidet jedoch im Gleichnis die wahre Frömmigkeit von der heuchlerischen – ohne die soziale Stellung des Pharisäers anzugreifen. Rudolf Bultmann sieht wie Luther den Fehler des Pharisäers nicht in seiner sozialen Situation oder seiner Überheblichkeit, sondern darin, sich für gerechtfertigt zu halten. Was seine Stellung jedoch verunsichert, ist die Anwesenheit des Ausgegrenzten. Während sein Geltungsbedürfnis legitim sei, vermindere sich angesichts des Fremden seine Ernsthaftigkeit vor Gott – und vor dem Nächsten. Die Weise, sich Geltung zu verschaffen vor Gott und den Menschen, würde hier insgesamt scheitern. (Bultmann, Marburger Predigten 107-117)

i.
Ein viel emphatischerer Kritiker des Pharisäertums ist jedoch der ebenfalls protestantische Sören Kierkegaard – der bezeichnenderweise viel weniger zitiert wird als der psychologische Bultmann oder der Moralist Albert Schweitzer.



....




3.


Als oben das Pharisäertum im Blick war, da galt das Interesse weniger der historisch-soziologischen Erscheinung, sondern der bestimmten Beziehung der Vertreter gegenüber der Religion und gegenüber Gott – wobei ja der Pharisäer als Text erschienen ist in einem Gleichnis. Auf die gleiche Weise soll jetzt die Formation des Bürgertums untersucht werden.

a.
Panajotis Kondylis hat 1991 einen wichtigen Essay geschrieben, den kennen sollte, wer über die Stellung der Kirche in der heutigen Gesellschaft nachdenkt. „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“ ist im wesentlichen eine Analyse der bürgerlichen Weltanschauung und dessen, was sie abgelöst hat. Als deren Leitmotiv stellt Kondylis das Harmoniebedürfnis heraus. Sie entsteht durch genaue Berechenbarkeit der Teile, die zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Dieses Motiv wirkt als Motor sowohl der Naturerforschung, der Analyse des Verstandes, der Vernunft und der Gesellschaft. Die bürgerliche Aufklärung arbeitet dabei mit Gegensatzbegriffen wie Natur und Vernunft, Geist und Materie, Norm und Trieb oder Orient und Okzident. Dabei versucht das Harmoniestreben, weder in einen Dualismus noch in einen Monismus zu verfallen. Der Mensch soll nicht als rein materielles Ding gelten, noch als himmlisches Geistwesen, der Naturalismus wird ebenso bekämpft wie die asketische Moral. Der Mittelweg der bürgerlichen Weltanschauung sieht den Menschen mit Vernunft über die Natur herrschen, indem er sich selbst beherrscht und das vernünftig geordnete Gesellschaftswesen. Die Natur versteht er gesetzmäßig geordnet und solcherart erkennbar und beherrschbar. Darum hat das Bürgertum höchstes Interesse, Mensch, Gesellschaft und Welt zu verstehen, um über das Verstandene verfügen zu können (ebda 30).

b.
Dem bürgerlichen Herrschaftsbedürfnis entsprach der Aufstieg der historischen Wissenschaften, mit deren Hilfe auf lange Sicht das dogmatische und hierarchische Denken des Mittelalters beseitigt und der moderne Fortschrittsglaube vorbereitet werden konnte. Kondylis stellt ausdrücklich den Zeitfaktor als Signum des bürgerlichen Zeitalters heraus (34), das er von der Aufklärung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sich erstrecken sieht. Die Ausweitung der bürgerlichen Selbstbehauptung gegenüber dem Feudaladel und der Kirche sieht er sich ökonomisch, dann wissenschaftlich und technisch sich vollziehen. Sein Evolutionismus kommt bereits in der Phasenteilung der Geschichte zum Ausdruck, wo primitive Völker von den hochentwickelten und zivilisierten zu beherrschen sind, ebenso wie das aufgeklärte Bürgertum die mittelalterliche Religion sich zu beherrschen anschickt.
Den großen Schachzug gegen das Christentum sehe ich in der Erfindung der deistischen Gottesfigur. Ein Gott, der sich in die erste der bürgerlichen Geschichtsphasen einreiht, wenn er die Welt erschafft, und sie daraufhin ihren eigenen Gesetzen überlässt, welche nun von den Menschen entdeckt und manipuliert werden können, ohne dabei auf diesen Gott zu stoßen, ist ein abwesender Gott und eher ein Künstler, der sein Kunstwerk vergisst. Die vollgültige Vollendung dieses Denkansatzes ist in den Vätern zu erblicken, die Kinder zeugen, um danach eigene Wege zu gehen und sich mehr um die eigene Entwicklung zu sorgen als um die der Kinder. Vaterlos aufwachsende Kinder, alleinerziehende Mütter und der christliche Gottesglaube sind gleichermaßen Leidtragende dieser bürgerlichen deistischen Denkfigur, die von Descartes bis zum heutigen Radikalindividualisten ihren emanzipativen Siegeszug durchführt.

c.
Warum war das Bürgertum nicht gleich atheistisch? Nun, Kondylis zeigt, wie die Religion in den bürgerlichen Dienst genommen wurde. Zwar war die bürgerliche Weltanschauung rein diesseitig, ihr Herrschaftsanspruch verbot aber, sich dem Nihilismusverdacht aussetzen. Religion wurde auf Ethik reduziert, Gott als Garant einer moralischen Ordnung vorläufig weiter benötigt. Dem Jenseitsglauben wurde eine symbolische Bedeutung zugestanden, biblische Aussagen als historisch bedingt interpretiert. Die geschichtliche Religion wurde nicht nach ihrem Selbstverständnis, sondern nach ihrem gesellschaftlichen Nutzen bewertet, etwa nach ihren karitativen, kunstschaffenden oder friedensstiftenden Leistungen. Alles darüber Hinausgehende wurde als irrational klassifiziert bzw. als interne Wahrheit in einem abgezirkelten Gültigkeitsbereich in der segmentierten bürgerlichen Welt.
Es ist deutlich zu sehen, dass diese Weltanschauung eines ontologischen Fundaments bedarf, das die Vernunft sich geben muss. Trotz größter Anstrengungen der neuzeitlichen Philosophie bis ins 19. Jahrhundert und bis zu Heidegger ist wohl weniger in diesem Bereich der Siegeszug gelungen als in der pragmatischen Selbstbehauptung des Bürgertums durch ökonomischen und gesellschaftlichen – und zuletzt auch durch politischen Einfluss.

d.
Die Bastionen des bürgerlichen Christentums sind Tugenden wie Ordnung, Pünktlichkeit, Fleiß und Sparsamkeit (40), der Beruf selbst, der gesellschaftliche Bedeutung und materiellen Nutzen vereint, Kalkül, Zucht und Leistung. Dem bürgerlichen Bedürfnis nach Sicherheit und Berechenbarkeit entspricht die Anständigkeit und Zuverlässigkeit des Bürgers. Seine Gewohnheiten und Regelmäßigkeit schlagen sich allesamt in seiner Kreditwürdigkeit nieder – einer ursprünglich religiösen Kategorie. Meistgenanntes Beispiel ist die Ehe, die idealerweise Geschlechtstrieb und Befriedigung, Gefühl und Rationalität, Liebe und Institution vereint und harmonisiert und die goldene Mitte zwischen Kalkül und Herz darstellt. Die Familie stellt den Schnittpunkt zwischen privat und öffentlich dar, zwischen Selbstentfaltung und Fremdkontrolle. Ich stelle diese Lebensformen deshalb so zusammen, um das Konstruierte an ihnen hervortreten zu lassen. Spricht nicht sämtliche Liebeslyrik von unbändigen Bedürfnissen und Hoffnungen? Erzählt nicht jeder Liebesroman vom unsäglichen Widerspruch zwischen unbedingter Liebe und gesellschaftlicher Konventionen? Und weiter von der bürgerlichen Doppelmoral, die Öffentliches von Privatem trennt und anders bewertet? Vielleicht liegt hier die Spitze bürgerlicher Anmaßung, und ist deshalb die Klage über das Scheitern gerade hier so laut.

e.
Das Lamento über den Verlust bürgerlicher Tugenden und christlicher Werte setzt beide in eins. Und sicherlich haben sich kirchliche Einrichtungen gerade wegen der hohen Kompatibilität mit dem bürgerlichen Selbstverständnis so gut behaupten können. Als Beispiel möge das Weihnachtslied Stille Nacht dienen, das sowohl die Familienidylle beschwört, wie sie auch die Schutzbedürftigkeit des Menschen in der unwirtlichen winterlichen Natur darstellt. Der knisternde Holzofen illustriert das Bild vollendeter Harmonie, die so schlicht Menschliches wie ein Kind, und so Unfassbares wie göttliche Anwesenheit vereint. Damit übersetzt sich das christologische Dogma der Inkarnation in ein beschauliches Gefühl, welches sogleich den Siegeszug in die Welt antritt, nicht ohne sich seiner Aussage sorgsam zu entkleiden. Und dieser inzwischen interreligiös dargestellten Seligkeit ist bis heute das gesamte Weihnachtsfest gefolgt, das sich in eine familiäre Beschwörung verwandelt hat, die dennoch die ersehnte Harmonie selten wiedergeben kann. Wahrscheinlich ist die Inkarnation der am wenigsten geglaubte christliche Glaubensinhalt – gefolgt von der Auferstehung.

f.
All diese Beispiele weisen auf einen Wandel hin, den Kondylis als Entfaltung der hedonistischen Massendemokratie beschreibt. Ein Motor dafür ist der Funktionalismus, der aufkommt, sobald soziale und logische Hierarchien beseitigt und substanzielle Unterschiede überwunden sind. Das wirkt sich bei den Geschlechterrollen aus, sowie insgesamt bei der Befreiung des Individuums. Schule und Berufswelt wirken darauf hin, das Individuum von sozialen Voraussetzungen und substanziellen Bindungen zu trennen, denn das Dogma der Massendemokratie ist die freie Entfaltung des eigenen Persönlichkeitskerns. Da Bindungen keine substanzielle, sondern nur mehr funktionale Bedeutung haben, sind sie alle gleichwertig und frei wählbar, im Bereich der Geschlechter ebenso wie im Bereich der Abstammung. Die freie Selbstverwirklichung wird nicht mehr in familiärer Harmonie, sondern in Absolutsetzung des Ich und seines Genusses gesehen.
Die am Ende des 19. Jahrhunderts erreichte industrielle Massenproduktion von Gütern ermöglicht zunehmend einen Massenwohlstand und entdeckt auch in den unteren Schichten Konsumenten. Arbeiter werden auch politische Konsumenten, Massenorganisationen entstehen. Das Überangebot von Gütern bildet den autonomen Bürger in einen Massenkonsumenten um. Kondylis betont an dieser Stelle die Unausweichlichkeit der Entstehung von Massendemokratie – was ja gegenwärtig in den Umwälzungen in den arabischen Ländern beobachtet werden kann, und sich in den Wandlungen der osteuropäischen, ehemals kommunistischen Länder wohl bestätigt hat.

g.
Kondylis spricht vom analytischen Denkmodell, welches ein Ganzes in seine Bestandteile zersetzt und daraus wieder ein neues Ganzes aufbaut. Auf diese Weise werden Arbeitsprozesse zweckrational optimiert, Bevölkerungsgruppen sozial neu geordnet oder ethnisch umgestaltet. Damit ist sowohl der Gedanke der sozialen Umverteilung gemeint, wie auch ethnische Umsiedlungen und ethnische Vereinheitlichung durch Auslöschung, wie sie nicht nur im letzten Jugoslawienkrieg und im Holocaust, sondern auch im türkischen Genozid an den Armeniern während des ganzen 20. Jahrhunderts planmäßig stattfand. An dieser Stelle muss über Kondylis hinausgegangen werden, der die beiden Weltkriege nicht in seine Analysen einbezieht. Dabei stellt bereits der erste große Krieg einen massendemokratischen Vorgang par excellence dar, weil er eine Massenproduktion von Kriegsgütern voraussetzt und zugleich die Vermassung und Entwurzelung der Individuen auf die Spitze treibt. Darüber hinaus vermag das faschistische Regime, nicht nur den Wert des Menschen rein materialistisch zu beschreiben, sondern auch endgültig den Hedonismus in den Massen zu verankern. Die Analysen dieser Zeit konzentrieren sich nur auf das Maß der Gewalt, die dabei eingesetzt wurde, und erblicken Grenzen der Gewalt in Formen von heldenhaftem menschlichen Großmut oder von gemeinschaftlichem Zusammenhalt, die Widerstand leisteten oder sich dem Anpassungsdruck verweigerten. Dennoch hat sich die Anpassung an das Massenförmige weiter durchgesetzt, während der singuläre Widerstand antiquiert wirkt. Um die Möglichkeit des modernen Faschismus zu verstehen und die hohe Kongruenz zu heutigen ethischen Standards bei der Tötung unerwünschten ungeborenen Lebens, der Euthanasie oder der Ausbeutung menschlicher und natürlicher Ressourcen sogenannter Entwicklungsländer, ist wohl das Merkmal sichtbarer Gewalt nicht ausreichend. Stattdessen ergeben sich von Kandylis´ Analyse der Massendemokratie neue Ansatzpunkte, die auch auf moderne Formen der Meinungsbildung ein neues Licht werfen.

h.
Den Übergang vom Bürgertum zur Massendemokratie sieht Kondylis in der Massenproduktion von Konsumgütern, die nunmehr über den Bedarf hinausgeht und Bedürfnisse schaffen muss, sowie neue Konsumenten – zuerst aus den Unterschichten, dann aus den Entwicklungsländern, und schließlich aus Senioren, Jugendlichen und Kindern. Die Massenproduktion schafft Massenkonsum.
Weiters spricht er von einer Mechanisierung des Alltags durch Maschinen, einerseits im Bereich der Produktion in Industrie und Landwirtschaft, andererseits im Haushalt und schließlich sogar in der Freizeit. Ich sehe diesen Vorgang in der Synthetisierung aller Lebensbereiche fortgesetzt, die von elektronischen Medien bis zur Nahrungsergänzung reicht. Der Mensch wird selbst, in allen Lebensbereichen, vom Konsumenten zu einem Produkt der Maschine.
Die Auflösung der substanziellen Bindungen hat zunächst dem sozialen Aufstieg des Bürgertums gedient, sie hat aber schließlich diesen Stand selbst aufgelöst, sobald das Emanzipationsbedürfnis auch die unteren Schichten erreicht hat. Das Ende der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand mit bestimmter Existenzform und bestimmtem Weltbild durch Geburt bedeutet den Beginn der freien Wählbarkeit von Lebensform und Meinung – die Soziologie nennt es Freisetzung und beschreibt zugleich auch den Vorgang der Entwurzelung. Das bedeutet geforderte geographische und soziale Mobilität, das bedeutet auch, dass nunmehr Leistung und Bildung, Anpassungsfähigkeit und Dominanz zu Kriterien des gesellschaftlichen Aufstiegs werden. Die demokratische Gleichstellung der Individuen wurde um den Preis der geforderten permanenten Selbstbestätigung erkauft. Fortbildung, Leistung im Beruf, Erweiterung der Konsummöglichkeiten, Produktionssteigerung, Beschleunigung, Effektivitätssteigerung, permanente Innovation – das ist das (späte) Echo des bürgerlichen Fortschrittsdenkens.

i.
Wir halten fest, wie im Prozess der Demokratisierung der Druck auf den einzelnen ständig zunimmt, ohne diesen Vorgang schon erklären zu können. Ein weiteres Produkt der massendemokratischen Entwicklung ist ein neues Subjekt, der „kleine Mann“. Weil das Prinzip der Zugehörigkeit ersetzt wurde durch das Prinzip der Leistung, müssen nunmehr Eliten die Führung übernehmen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, welche sich permanent rechtfertigen müssen und ansonsten ausgetauscht werden. Politische Eliten werben um die Wählergunst, die nicht mehr auf Standeszugehörigkeit zurückgreifen kann, und setzen Methoden der Bedürfniserzeugung ein, z.B. durch Erzeugung von Feindbildern. Nach dem Ende der Monarchie waren das in Mitteleuropa in erster Linie der Bolschewismus bzw. das Kapital, sodann bestimmte Bevölkerungsgruppen, die ökonomisch interpretiert wurden als Ausbeuter oder Schmarotzer, Unproduktive oder Leistungsunwillige. Diesen Negativbildern entsprachen positiv der unbescholtene Bürger und beflissene Konsument, der verlässliche Angestellte sowie der Teilnehmer an verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen – was in den letzten Jahren durch ein entsprechend angesehenes Hobby abgelöst wird.

j.
Dieses so konstituierte Subjekt der massendemokratischen Gesellschaft tritt nunmehr anspruchsvoll und selbstbewusst auf und unterscheidet sich darin vom Kleinbürger des bürgerlichen Zeitalters (200). Er weiß sich als Zielpunkt des industriellen Werbens um Konsumenten, des populistischen Werbens um Wähler sowie des massenmedialen Werbens um Meinungen. Durch Leistung verschafft er sich Einkommen und Konsumkraft, und kommt so in den Genuss von Konsumgütern, gesellschaftlicher Anerkennung und sogar zu Wissen und Meinung – allesamt Konsumartikel. Die Forderung der Geschlechtergleichstellung ist ein hervorragendes Beispiel für dieses Subjekt, das sich durch Leistung und Konsum definiert, und zugleich ist zu sehen, wie dieses Subjekt sogleich universal eingefordert wird auch für ganz anders strukturierte Gesellschaften.
Das Konsumdispositiv – ich möchte es an dieser Stelle erstmals so nennen – erzeugt ein Subjekt, das Kondylis als hedonistisch beschreibt. Nicht nur Gebrauchsgegenstände werden nämlich konsumiert, sondern auch Bildung, Freizeit, Werte und Ideale (203), und es entsteht ein Relativismus, der für eine Massendemokratie notwendig erscheint. Die individuelle Erfüllung wird im Konsum von Massenprodukten gesehen, die Entstehung von Konformismus und Individualismus erscheint wie dessen notwendige Resultante (204). Die Auffassung vom Selbst hat sich völlig gewandelt: Selbstverwirklichung wird nicht von der Umsetzung großer Aufgaben erwartet, sondern vom Genuss, statt Selbstkontrolle und Triebverzicht steht Ausleben der Bedürfnisse, statt Aufrichtigkeit steht Authentizität (212). Kondylis spricht vom „Selbstkonsum des Selbst“ (215), das sich in keine Rollenbilder mehr fügen will, sondern sich selbst produziert und dabei erst recht ein Massensubjekt bildet. Ablesbar ist diese egalitäre Grundeinstellung wiederum in der Geschlechterbeziehung. „Mann“ und „Frau“ fungieren als soziale Chiffren ohne Substanz, ihre Beziehungen müssen verhandelt werden und sollen dem Genuss und der Selbstverwirklichung dienen. Sex ist ein Konsumartikel geworden, der nicht mehr an Beziehung gekoppelt ist. In der Bevorzugung von Minderheitenphänomenen wie der Homosexualität sieht Kondylis einen Nivellierungsvorgang, der auch im Jugendkult durchschlägt (220).

k.
Was die christliche Positionierung in der Massendemokratie so erschwert, ist die grundlegende Änderung des Wahrheitsbegriffs. Bereits der Verfall von Verbindlichkeit erschwert jede Argumentation, und die Pluralisierung hat auch vor der Wahrheit nicht haltgemacht. De facto wird Wahrheit als punktueller Konsens betrachtet, und nicht von Axiomen abgeleitet oder auf metaphysischen Boden gestellt. Funktionale Argumente sind deshalb substanziellen prinzipiell gleichgestellt, was z.B. bei Diskussionen um kirchliche Fragen schnell für Verwirrung sorgt.

Mittwoch, 6. April 2011

Ikonenverehrung

a.
Eigentlich könnte ja der Aufbau von Leitbildern als ein konstruktiver Vorgang beschrieben werden. Gesellschaftliche Anerkennung zu verdienen setzt doch voraus, durch besondere Leistungen aufgefallen zu sein und sich Vertrauen erworben zu haben. Andererseits verrät natürlich die Ikone auch sehr viel über diejenigen, die sie verehren. Wenn in der christlichen Antike Märtyrer hochgehalten wurden anstelle von Helden oder Führerpersönlichkeiten, so dokumentiert dies nicht nur ein verfolgtes Christentum, sondern auch eine Schubumkehr der Werte von einer leistungsorientierten römischen Siegermoral hin zu einer existenziellen Bekennermoral, die weniger an vorzeigbaren Ergebnissen, sondern an der Authentizität und Kongruenz der Werthaltungen orientiert ist. Dabei tritt die Eindeutigkeit der Position oft gerade erst nach einem tiefgehenden Wandel hervor, nämlich nach einer Bekehrung oder existenziellen Neuorientierung – wir denken an Paulus, Martin von Tours oder Augustinus. Auch hinter den Namen der heutigen Ikonen steht jeweils eine Anhängerschaft, die sich durch ihr Leitbild erst richtig konstituiert. Auch heute sind es nicht immer Leistungen, sondern oft eine bestimmte Haltung, die den Marktwert ausmacht.

b.

Was steht etwa hinter dem kometenhaften Aufstieg des aus prekären Verhältnissen stammenden Australiers Julian Assange? Weltweit bekannt wurde er, als er illegal gehackte Geheimdienstprotokolle aus aller Welt zuerst namhaften Zeitungen zum Verkauf anbot und, nachdem er damit scheiterte, sie im Internet veröffentlichte. Man könnte erwarten, dass ihm dies die Feindschaft aller Länder, oder zumindest der Regierungen einbringen würde, die durch die Veröffentlichungen mit einem Schlag bloßgestellt und betrogen wurden. Die Offenlegung aller Vorgänge internationaler Diplomatie trägt eigentlich das Ende von Diplomatie überhaupt in sich, also den Vorgang von interner Meinungsbildung, Kommunikationsanbahnung, von Allianzbildung, aber auch von Druckausübung auf Regierungen und Staaten. Die Enthüllungen sind so etwas wie die Übertragung von Telefongesprächen im Radio, und es müsste mit einer Entrüstung aller freiheitsliebender Menschen zu rechnen sein, an vorderster Front der Datenschützer und Warner vor zuviel Kontrolle und des Zugriffs auf private und interne Vorgänge.
Der zweite erstaunliche Punkt ist, dass diesem zweifelhaften Helden der Bloßstellung am Höhepunkt seiner Enthüllungen nun selbst Vorwürfe gemacht werden wegen sexueller Übergriffe, sodass nunmehr seine eigene Blöße in allen Medien präsent ist, und gerade in einem Bereich, der stets die allerhöchste Empörung garantiert. „Der Spiegel“ schwärmt vom Cyber-Krieg zwischen dem Internet-Profi und seinen Unterstützer-Truppen, und dem amerikanischen Geheimdienst, die Vergewaltigungsvorwürfe interessieren ihn aber nicht. „Die Welt“ berichtet von Assanges angeblichen peinlichen Bemühungen um Partnerinnen in einer Internet-Partnervermittlung, und von kompromittierenden Aussagen seiner ehemaligen Mitstreiter. Die Bild-Zeitung berichtet, dass Assange mit zwei Schwedinnen sexuell verkehrt habe, dabei auch gegen ihren Willen ohne Kondom. Die Süddeutsche Zeitung ebenso, und erwähnt dabei die strengen schwedischen Gesetze, die Frauen schützen sollten, und die nachfolgenden Diffamierungsversuche gegen die beiden Frauen von Assanges Anhängern.
Hierzulande klassifiziert News die Vorwürfe gegen Assange jedoch als Schmutzkübelkampagne, ebenso der Standard. Profil nimmt die Vorwürfe zum Anlass einer Aufklärung über Vergewaltigungsklagen und Unrechtsbewußtsein. Angelika Hager (13.1.2011) stellt Assange an die Seite des ebenfalls promiskuitiven Jörg Kachelmann, dessen Anklage auf persönliche Kränkung einer sich zuwenig beachtet fühlenden ehemaligen Partnerin zurückgeführt wird. Die Krone zitiert ihn als „schlechtesten Australier 2011“. Die Presse berichtet am 8.2. von Assanges Befürchtung, von Schweden an die USA ausgeliefert zu werden, wo Guantanamo und die Todesstrafe drohen könnten. Ebendort empfiehlt Christian Ortner einige Wochen vorher, beim Sex immer eine Notarin anwesend sein zu lassen, um späteren Rechtsstreitigkeiten vorzubeugen. Die neuesten Entwicklungen der Kontrolle über das Privatleben einzelner in der westlichen Welt nennt er Scharia. Peter Pilz von den Grünen fordert politisches Asyl für Julian Assange und bietet Wikileaks den Server der Grünen an für weitere Veröffentlichungen kompromittierender Geheimdokumente.

c.,

Man kann an der Ikonisierung Assanges´ sehen, wie behende und großzügig Vorwürfe wegen sexueller Vergehen bagatellisiert und gesetzliche Regelungen einer westlichen Demokratie verhöhnt werden, wenn eigene Interessen bedient werden sollen. An der Ikone prallen die Vorwürfe ab. Die liberale Öffentlichkeit hat sich dafür entschieden, Assange zum Bannerträger der Bloßstellung der institutionalisierten Macht zu machen. Das Prinzip Bloßstellung, ein Urmotiv von Massenmedien, steht über dem sexuellen Selbstbestimmungsrecht der Frau und den wirtschaftlichen und politischen Interessen von Staaten wie Österreich, Schweden und USA. Peter Pilz oder Christian Ortner wettern gegen die repressive Kontrolle des Staates über die freien Bürger, und unterstützen den Kampf dagegen mithilfe der subversiven und illegalen Kontrollmöglichkeiten von Internet und medialer Öffentlichkeit. Sehen Sie einen Unterschied? – Ja, er liegt darin, wer kontrolliert. Der Ikonenmacher ist hier die liberale Linke, und ohne Rückhalt oder Duldung in der Öffentlichkeit könnte sie eine so brisante Positionierung nicht wagen. Das besagt aber keineswegs, dass es Mehrheiten von politisch Liberalen oder Linken gäbe. Aber die Vorstellung, der Einzelne stünde im Zentrum von Recht und Macht – oder er solle im Zentrum stehen!, diese Vorstellung, die sich zugleich gegen Institutionen und Solidaritäten richtet: eben diese Vorstellung ist mehrheitsfähig.

d.

Im Standart-Interview sagt am 7.4.2011 der Wiener Anwalt und Publizist Alfred Noll: „Der Aufdeckungsjournalismus ist ein elementarer Kern dessen, was ernstzunehmender Journalismus überhaupt ist. Es gibt keinen Grund, davon abzusehen. Aufdeckungsjournalismus gibt es in Österreich nicht zu viel, sondern es gibt zu wenig.“ Er bemängelt, dass in Österreich weder Politik noch Zivilgesellschaft ausreichend eine „Balance zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie“ herstellen, und sieht darin eine Aufgabe der Medien. Was er unter Demokratie versteht, zeigt sich in seiner Entgegnung auf die Frage nach dem Einfluss medialer Vorverurteilung auf die Rechtssprechung. Richter, die sich von Medien beeinflussen lassen, seien eben „schwache Persönlichkeiten“. Und die übrigen Medienkonsumenten?

Demokratie wird hier offensichtlich mit Individualismus gleichgesetzt und hat jedenfalls den Obrigkeitsstaat zum Feind, wahrscheinlich jegliche Obrigkeit. Die massendemokratische Konsumgesellschaft – so an dieser Stelle nun die These im Vorblick - benötigt die Medien, um die Brücke zwischen dem radikalen Individualismus und einem gesellschaftsbildenden Konformismus zu schlagen, nämlich in Form der „medialen Öffentlichkeit“. Hat die Entwicklung zum Individualismus bereits die meisten Orte von diskursiver Öffentlichkeit erodiert, also Orte leibhafter Begegnung zum Gespräch und Austausch (Schule, öffentliche Versammlungen, Diskussionsveranstaltungen, Bürgerinitiativen), und stattdessen privaten Konsum via Fernsehen und Internet aufgebaut, wodurch natürlich bisherige Formen von Gespräch und Meinungsbildung verschwanden, so besetzen Medien diese Leerräume und bauen eine Quasi-Öffentlichkeit auf via Hörer/Seherbeteiligung, Talk- und Quizshows mit Publikum, Soap-Operas oder Big Brother – Spektakeln. Diese synthetische Öffentlichkeit lässt sich mühelos in Weblogs fortführen, die den Kitzel von „echter, unberechenbarer Menschenbeteiligung“ liefern, und dennoch so überraschend stereotyp und vorhersehbar verlaufen wie eine Diskussionssendung mit Anrufern oder eine Leserbriefseite.

e.

Ein lebenspraktisches Fundament scheint diese synthetische Öffentlichkeit in den Hausfrauen gehabt zu haben, die vormittags unterhalten und von Werbung infiltriert werden sollten, und nach deren Übertritt ins Berufsleben nun die sich ständig vergrößernde Masse der Pensionisten, sowie der Kinder und Jugendlichen. Und die Twitter- und Facebook-Generation stellt bereits Partys und Diskotheken hinter die Chats zurück und bevorzugt Begegnungen der virtuellen Art. Dazu kommt, dass Musikberieselung durch Kopfhörer und Scheinkommunikation am Mobiltelefon auch bei Bewegungen im offenen Raum den Charakter des Synthetischen aufrechterhalten und vor unverhofften Begegnungen weitgehend schützen.

Und diese umfassende mediale Umschließung des „von der Obrigkeit befreiten“ Individuums benötigt und ermöglicht die medial gesteuerte Meinungsbildung. Somit gehen die Prozesse der Verdünnung sozialer Kommunikationsformen Hand in Hand mit der Ausweitung massenmedialer Meinungsbildung. Beide zusammen produzieren den leicht zu steuernden Konsumenten der Massendemokratie, wie ihn Panajotis Kondylis stringent beschrieben hat. Und nun kann die These gewagt werden, dass diese Weise von Geistigkeit prinzipiell obrigkeitsfeindlich ist, nämlich nicht so sehr, weil sie deren Kontrolle zu befürchten hätte – außerhalb des ORF behaupten eher Kolumnisten die Meinungsführerschaft als Politiker -, sondern weil die Steuerung des Konsums der Steuerung politischer Ordnung in der Massendemokratie vorgeordnet ist.

f.

Es bedarf nicht mehr vieler Worte, zu zeigen, dass diese Obrigkeits-Demontage auch vor der Kirche nicht Halt macht, nicht so sehr vor Papst und Bischöfen mit Schauwert, sondern der Kirche insgesamt als Hüterin von Glaube und Wahrheit. Wie willkommen sind da Missbrauchsfälle und Fälle von falschen und inkompetenten Entscheidungen! Wie bereitwillig entsprechen gewisse Entscheidungen den Stereotypen und Vorurteilen! Es stellt sich also heraus, dass die Ikonisierung bestimmter Leitbilder derselbe Vorgang ist, der Obrigkeiten abbaut, also handelt es sich um einen Herrschaftswechsel. Der Aufstieg in den Himmel medialer Aufmerksamkeit entspricht dem Fall anderer Gestirne. Ordnung und Chaos dürften sich dabei etwa die Waage halten – aber an die Stelle demokratisch legitimierter Ordnung tritt nach und nach konsumistisch legitimierte Ordnung. Der Aufstieg Karl-Heinz Gassers, der bereits durch sein Erscheinungsbild die Parteienlandschaft zu kompromittieren vermochte, scheint weniger der fachlichen Kompetenz verdankt als der telegenen Wirkung – und sein Fall erst recht. Und der posthume Aufstieg Papst Johannes Pauls in den Medienhimmel gilt weniger seiner Leitungsqualität als seiner Medienwirkung, und er findet auf dem Rücken des amtierenden Papstes Benedikt statt. An den medial präsentierten zwei, drei Einheitsthemen hat dieser sich so wenig orientiert wie jener. Das kann keine dauerhafte Medienfreundschaft einbringen.

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