Kritik am Bürgertum

Samstag, 14. Mai 2011

Bürgerkirche und messianische Kirche

1.


Am Anfang dieser Untersuchung soll ein Gleichnis stehen, das Jesus erzählt:

Dann richtete er dieses Gleichnis an gewisse Leute, die von sich selber überzeugt waren, gerecht zu sein, und die anderen verachteten: Zwei Menschen stiegen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war Pharisäer, der andere Zöllner. Aufrecht stehend, betete der Pharisäer bei sich selbst so: O Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie der Rest der Menschen bin, wie die Räuber, Rechtsbrecher, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche; ich gebe den Zehnten von allem, was ich erwirtschafte. Der Zöllner hielt sich auf Distanz und wollte nicht einmal die Augen zum Himmel richten, sondern er schlug sich an die Brust, indem er sagte: O Gott, sei mit mir Sünder wieder versöhnt.
Ich sage euch, dieser stieg als der, der Recht bekommen hat, wieder hinunter nach Hause, eher als jener. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, aber derjenige, der sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.

(Lk 18, 9-14, übers. Francois Bovon, 2001)

a.
Weder Jesus wird genannt, noch die Adressaten seiner Erzählung. Diese „gewissen Leute“, die als selbstgerecht und verachtend beschrieben werden, sollen als Thema nicht nur des Gleichnisses, sondern auch meiner anschließenden Erörterung schon am Beginn in den Blick kommen. Gerade ihre ausdrückliche Nichtnennung macht den Hörer/Leser erst recht aufmerksam auf sie. Es ist eine Geste, welche anwesende Personen auf eine Weise adressiert, dass sie es erst bemerken können,
wenn sie dem Lauf der Geschichte folgen und die Pointe verstehen. Der Erzähler rechnet also damit, dass Anwesende die Geschichte hören könnten, ohne sie zu verstehen und sich selbst als Gemeinte zu erkennen. Somit hätte diese ungewöhnliche Einleitung eine markierende Funktion, etwa wie: Wer Ohren hat, der höre. Aber es ist mehr als das: Es wird vom Hörer eine Positionierung verlangt, er soll Stellung beziehen, ob er sich deklariert oder nicht. Denn er muss Kritik einstecken.

b.
Was hat es nun mit dem Gebet des Pharisäers auf sich, dass damit diese Person so umständlich und aufwändig in den Mittelpunkt gestellt wird? Es ist keine Bitte darunter – stattdessen eine Art Dank an Gott. Aber das, wofür gedankt wird, ist nicht ein glückliches Leben oder eine glückliche Geburt, sondern der Pharisäer dankt eigentlich für seine eigenen Leistungen – sich selbst. Denn kein Gesetzesbrecher zu sein führt er ja auf sein Pharisäersein zurück, das sich auf Gesetzestreue stützt. Fasten und der Zehnte entsprechen ebenfalls der pharisäischen Praxis zur Zeit Jesu. Somit bezieht sich sein vorgebliches Gespräch mit Gott gar nicht auf diesen, sondern ist ein Reflex auf sich selbst, eine Selbstvergewisserung im Tempel – aber nicht vor Gott, sondern vor der Tempelöffentlichkeit, als die hier bloß der Zöllner genannt ist.
Mit Ironie zeichnet der Text einerseits die aufrechte Haltung des Pharisäers, andererseits (siehe F. Bovon, S.209) sein Selbstgespräch, das womöglich laut – und dennoch zu sich selbst vorgetragen wird. Entscheidend ist hier, dass der vorgebliche Gottesbezug des Pharisäers, der in besonderer Gesetzestreue bestünde, als bloßes Selbstgespräch demaskiert wurde.

c.
In dieser Demaskierung scheint mir die besondere Dynamik des knappen Textes zu liegen. Die kleine Begebenheit im Tempel wird durch die Gegenüberstellung zweier Figuren zum Lehrgedicht, was am Schluss durch die doppelte Lehraussage angezeigt wird. Aber die Dynamik liegt nicht in diesem Ergebnis, das auswendig zu lernen und formelhaft nachzusagen wäre, sondern in der Anstrengung des Hörers, sich selbst als Angesprochenen zu erkennen und sich sodann auf den Weg der Umkehr zu machen. Dieser Erkenntnis dient dieses Gleichnis; sein Appell geht vom Zuhörer aus, der verstanden hat. Andererseits darf derjenige, der nicht dazu bereit ist, sich mit Unverständnis umhüllen und weiterhin andere Adressatengruppen benennen. Somit erlaubt das Gleichnis eine Navigation zwischen Glauben und Unglauben, und der Eingeweihte erkennt die Aufforderung zur Umkehr.

d.
Die Spannung, in die der Hörer versetzt wird, kann eigentlich nicht mehr zur Ruhe kommen. Denn sobald er aufhört, sich in seiner kirchlichen und sozialen Position von Gott legitimiert zu wähnen, wird er keine andere Ausflucht mehr finden. Er wird keine Umkehr mehr sehen, die in ein bestimmtes Verhalten mündet, in Frömmigkeitsformen oder eine bestimmte religiöse oder ethische Praxis, ohne wieder in die Ausgangssituation der Selbstgenügsamkeit zurückzukehren. In diese scheinbare Aporie einzutreten – vielmehr hineingestoßen zu werden, ist die eigentliche Absicht des Gleichnisses.
Doch diese unabschließbare Such- und Fragebewegung ist gerade die im Text gezeichnete Position des Zöllners, der sich auf Gottes Gnade angewiesen weiß. Seine Bitte um Versöhnung mit Gott ist das eigentliche Gebet. Die Distanz, die er hält, markiert seine religiöse und soziale Position, sein Beiseitestehen ist der Verzicht auf religiöse und soziale Anerkennung, auf die ein Zöllner offenbar von Standes wegen nicht hoffen darf. Was ihm nach menschlichem Ermessen verwehrt bleibt, richtet er als Bitte an Gott.

e.
Es bleibt also nur, entweder im Pseudogebet zu verharren und sich zu immunisieren durch Umadressierung religiöser Forderungen an die anderen, oder sich als von Gott getrennt zu bekennen und um Versöhnung zu bitten. Der solcherart anvisierte spannungsvolle Schwebezustand ist die eigentliche religiöse Haltung, die genau genommen in einem Offenhalten besteht. Im Gleichnis mag das in der Distanz des Zöllners sichtbar werden. Wie aber soll sich eine solche Spannung in einer geschichtlichen Religion manifestieren, ohne sofort wieder ins Pharisäische umzuschlagen? Diese Frage ist die Leitfrage des vorliegenden Essays.

f.
Die historische Gestalt der Pharisäer scheint im zweiten vorchristlichen Jahrhundert gegenüber den Makkabäern aufzutauchen, von denen sie sich abwenden. Die Peruschim (die Abgesonderten) wurden wohl zunächst abfällig so genannt (Gnilka 1994, S.107), fallen aber schon da durch ihre eigenwillige gesellschaftliche Positionierung auf. Trotz zeitweiliger Zerwürfnisse mit den Hasmonäerkönigen erlangen sie zunehmend gesellschaftlichen Einfluss, v.a. durch ihre besondere Art der Gesetzesauslegung. Josephus beschreibt als Zeitzeuge die pharisäische Halacha als eine außerbiblische Tradition, mit der die Tora zeitgemäß interpretiert werden konnte. Der „Zaun um die Tora“ ermöglichte eine Laienfrömmigkeit, die sozusagen demokratisch an die Seite des Tempelpriestertums trat und sich in den Synagogen entfaltete. Sadduzäer und Essener warfen ihnen Lässigkeit, Verführung und Irrtum vor und kritisierten ihren Standesdünkel und ihre strenge Vergeltungslehre, nach der die Heiligen und Frevler jeweils belohnt oder bestraft würden. Anhänger und Gegner berichten gleichermaßen von ihrem großen Interesse an der sozialen Stellung, die religiös sanktioniert wird. Ihre Führer stammen aus dem städtischen Bürgertum und tws. aus der Priesterschaft, ihre Anhänger aus allen gesellschaftlichen Schichten (Roland Deines). Nach dem jüdischen Krieg gehen die Pharisäer in der Rabbinischen Bewegung auf und bestimmen deren Gestalt maßgeblich.

g.
Ganz anders sieht es Jacob Neusner (Ein Rabbi spricht mit Jesus, 2007), der dem Jesus des „jüdischen“ Matthäusevangeliums wie ein Zeitzeuge bei der Bergpredigt begegnet und als amerikanischer Rabbiner des 21. Jahrhunderts in ein fiktives Gespräch mit ihm eintritt. Neusner kann viele Forderungen der Bergpredigt nachvollziehen. Aber woran er sich immer wieder stößt, ist Jesu Adressatenkreis. „Jesus spricht nicht zum ewigen Israel, sondern zu einer Gruppe von Jüngern.“ (45) Neusner wirft Jesus vor, sich mit einer Jüngerschar zu begnügen, anstatt seine Botschaft an das ganze Volk zu richten und ihm eine praktizierbare Form zu geben. Diese Radikalisierung der Tora, die Neusner durchaus anerkennt, fordert persönliche Entscheidung und führt tendenziell aus der sozialen Ordnung heraus, während Neusner die Tora an das Volk in seiner Gesamtheit adressiert sieht. Im Blick Neusners sucht Jesus ein abgeschiedenes Leben mit Anhängern, die ihre soziale Einbettung verlassen und sich allein seiner über der Tora stehenden Autorität unterwerfen müssen. Er verteidigt das Ansinnen der Pharisäer, durch Studium und Aneignung der Tora zu persönlicher Reinheit und Heiligung gelangen zu wollen, und zitiert zustimmend Rabbi Pinchas (Mischna, Sota 9,14), der eine Stufenleiter bis zur Auferstehung von den Toten anführt. Neusner zieht dieses allgemeine Gebot der Heiligung der Forderung Jesu vor, denn sie sei an das ganze Volk gerichtet und könne auch im gewöhnlichen alltäglichen Leben befolgt werden, etwa wie das Sabbatgebot. „Verkaufe alles, was du hast, gib das Geld den Armen und folge mir nach“ ist jedoch immer an einzelne gerichtet und würde als allgemeines Gebot jede Gesellschaft unterminieren.
Rabbi Neusner demonstriert, wie die Pharisäer das alltägliche Leben im Blick haben und dieses durch vernünftige, fromme Reglementierung an den in der Tora bezeugten Gott heranführen. Aber prophetisch argumentiert er nicht.

h.
In der Tat stehen die meisten alttestamentlichen Propheten gerade in einem Gegensatz zu dem bürgerlich-selbstzufriedenen Leben der Israelitenmehrheit. Die Beschimpfungen des Amos entzünden sich an leeren religiösen Ritualen, während die Armen – ebenfalls ein Anliegen der Tora! – geflissentlich übersehen und weiterhin übervorteilt werden. Seit den Tagen des Elija suchen die Propheten die Entscheidung, wollen prüfen, wollen Zuspitzung, verlangen den Wahrheitsbeweis. Das prophetische Drängen nach der göttlichen zurechtrichtenden Offenbarung mündet in die Apokalyptik, in die Erkenntnis von der eigentlichen, sonst verborgenen wirklichen Zugehörigkeit des Gläubigen wie des Gottlosen. Und während prophetische Kritik meist den Einzelnen vom ganzen, irrenden Volk abhebt, steht in der Apokalyptik doch Rettung oder Verderben aller auf dem Spiel. Gerade diese Zuspitzung aber führt zum Messianischen.



2.


Michel Foucault hat wie nebenher den Begriff des Dispositivs eingeführt und ihn kaum irgendwo definiert, außer durch den jeweiligen Gebrauch. Neuerdings hat Giorgio Agamben wieder darauf hingewiesen (2008) und ist dem Begriff durch die ganze Denkgeschichte gefolgt.

a.
Foucault verwendet den Begriff für eine „heterogene Gesamtheit von Willensäußerungen“, etwa durch Diskurse, Institutionen, Gesetze, Polizeimaßnahmen oder philosophische Haltungen. Es geht um Macht, und zwar weniger um Aneignung oder tätige Ausübung, sondern um das, was man will, und wie es dazu kommt, dass dieses oder jenes gewollt wird. Foucault gewinnt den Begriff durch sein Hegel-Studium und dessen Auseinandersetzung mit der Differenz zwischen „natürlicher“ und „positiver“ Religion. Ihn interessiert nämlich, wie es dazu kommt, dass einer historischen Religion mit ihren Vorschriften, Regeln und Institutionen ein bestimmter, persönlicher Glaube entspricht. Es geht um den Zusammenhang zwischen der inneren Einstellung und den realen, beobachtbaren gesellschaftlichen Vorgängen. Für das Verständnis von realer Macht leistet der Begriff Dispositiv vielleicht soviel, dass er die Gefühle und Einstellungen, die Haltungen und Normen, Gesetze, Ängste, Sorgen, Wünsche usw. ins Interesse rückt, ohne bei Beschreibungen von Machttechniken, Machtzentren oder Herrschaften stehen zu bleiben. Ihm geht es mehr um die subjektiven Vorgänge, als um die gesellschaftspolitische Umsetzung. Foucault hat mit diesem Begriff dem Machtverständnis eine entscheidende Wende gegeben, um von technischen Fragen, wer wozu welche Macht besitzt, zu den Fragen vorzudringen, was Menschen eigentlich suchen und erstreben, oder wovon sie sich abwenden, womit sie im Diskurs sind und in welche Richtung der Diskurs geht.

b.
Agamben zeigt den Begriff Dispositiv mit der theologischen Rede der göttlichen Ökonomia verwandt, die Gottes Schöpfungshandeln in der Welt, sein Inkarnationshandeln im Menschen, oder auch Gnadenhandeln in der Seele beschreibbar und unterscheidbar macht – während zugleich von Gottes Einheit gesprochen wird. Er nennt verschiedene Impulse oder verschiedene „Subjektivitäten“ in Gott (die drei Hypostasen Vater – Sohn – heiliger Geist), der dennoch als einer denkbar bleiben soll. Agamben stellt nun die Dispositive neben die Lebewesen, und sieht zwischen ihnen sich Subjekte bilden. So formt z.B. ein Mobiltelefon (gegenständliches Dispositiv) den Menschen zu einem Mobilfunknutzer (Subjekt), eine Domkirche (Architekturdispositiv) den Besucher zu einem Touristen, Kunsthistoriker oder Betenden (Subjekt), oder eine Kindermissbrauchsdiskussion (diskursives Dispositiv) den Diskursteilnehmer zu einem Richter über Institutionen (Subjekt) – und blockiert zugleich dessen Gläubigersein (Subjekt), denn für den Gläubigen ist Kirche Glaubensgemeinschaft, also ein Subjekt höherer Ordnung, und keine Institution. Man mag an diesen wenigen Beispielen ermessen, welch große Bedeutung Dispositive für subjektive Vorgänge haben. Agamben spricht von einem maßlosen Anwachsen der Dispositive und der daraus folgenden maßlosen Vermehrung der Subjektivierungsprozesse. (Was ist ein Dispositiv?, S.27)

c.
Das Dispositiv stellt sich zwischen des Menschen Sein und Handeln. War der Mensch früher einmal ein Waldbewohner, der auf Wetter, Tiere und Pflanzen achtete und mit ihnen kommunizierte, so hat sich durch das Dispositiv der Axt und der Säge sein Handeln völlig verändert, noch mehr durch das Dispositiv der Rechenoperationen und des Handels mit Gütern und Geld, und schließlich noch einmal durch das technische Dispositiv des iPods mit den Kopfhörern. Man sieht, dass jedes dieser Mittel ein anderes Subjekt erzeugt, das gilt für technische Geräte ebenso wie für Diskurse wie Tauschwirtschaft oder Export, für Jagd oder für Verkehrsverbindungen. Foucault spricht von Dispositiven als Maschinen, die Subjektivierungen produzieren. Die heutige Disziplinargesellschaft produziert mit Moden, Idolen und Feindbildern Massensubjekte wie eine Maschine – eine „Regierungsmaschine“. Interessant anzumerken, wie das Verständnis für Dispositive sogleich verstehbar macht, dass Subjekte etwas Abgeleitetes sind, und nicht diejenigen, die, wie die Aufklärungsphilosophie optimistisch dachte, durch freien Plan und Entschluss Wissenschaft betreiben oder technische Geräte zu bestimmten Zwecken herstellen. Foucault zeigt, dass umgekehrt die Existenz der Klinik erst die pathologische Wissenschaft hervorbringt, die Existenz des Gefängnisses durch Kontrolle und Steuerung die moderne Disziplin, ebenso wie Schulen und Fabriken.

d.
Agamben nennt das Opfer ein religiöses Dispositiv. Ihn interessiert nun weniger die transmissive Bedeutung des Opfers als Bedeutungsträger zwischen Mensch und Göttern, sondern die Absonderung des Gegenstandes vom weltlichen Bereich durch bestimmte Praktiken und Rituale. In diesem Sinne kann auch der Sabbat ein religiöses Dispositiv genannt werden, denn er ist der Tag der Gottesruhe und sondert auch seinen „Benutzer“ vom weltlichen Bereich ab und gliedert ihn in die göttliche Sphäre ein, im Medium der Ruhe. Das gleiche kann auch vom Dekalog gesagt werden, der den „Benutzer“ zu einem Empfänger göttlicher Weisungen macht (Subjekt). Das Dispositiv des Tempels macht den „Benutzer“ zum Volk Gottes und bringt ihn in Verbindung zum Göttlichen. Das Dispositiv der Beichte – dieses ist ausführlich untersucht und kommentiert worden (z.B. Roeder, Die Rolle des Geständnisses im Sexualitätsdiskurs, 2007) – produziert Sündersubjekte, d.h. Subjekte mit einer Spaltung, sodass sie sich von sich selbst distanzieren und auf die eigenen Wünsche und Verhaltensweisen kontrollierenden und korrigierenden Einfluss nehmen.
Solchen Dispositiven der Sakralisierung, die etwas von der Welt absondern und heiligen, stehen Gegendispositive der Profanisierung gegenüber, die etwas Heiliges in den alltäglichen Gebrauch zurückführen (Agamben, 2005). Agamben hat aber auch auf beeindruckende Weise vorgeführt, wie Dispositive nicht nur Subjektivierung erzeugen, sondern auch Desubjektivierung. In „Homo sacer“ (2002) entwickelt er das Bild vom abgesonderten Heiligen, der für das Opfer vorbereitet wurde, um daran etwa den heutigen Rechtlosen in seinen Konturen hervortreten zu lassen, der auf seine nackte Existenz reduziert wird. Hier verläuft eine Linie von den Konzentrationslagern bis zu den Migranten, die keine Rechtssubjekte mehr sind. Aber auch die Desubjektivierung des modernen Menschen zum „Bloom“, zum „folgsamsten und feigsten Gesellschaftskörper ..., den es in der Menschheitsgeschichte je gab“, durch das Dispositiv des potentiellen Terroristen soll hier mit Blick auf eine spätere Mediendiskussion angeführt werden, welche durch elektronische Überwachung des ganzen öffentlichen Raums die Stadt zu einem riesigen Gefängnis macht. (ebda 2008, S. 39f)

e.
Von Agamben gehen wir wieder zu Foucault zurück und betrachten das, was er die „strategische Funktion“ des Dispositivs nennt. Nehmen wir nochmals das einfache Beispiel des Mobiltelefons. Seine bloße Existenz „verführt“ den Besitzer dazu, es zu benutzen und z.B. einen Anruf entgegenzunehmen – gleich, in welcher Situation. Sobald es aber auch Internet-Funktionen aufweist, werden auch diese genutzt, ebenso wie die angebotene Möglichkeit der Musikwiedergabe oder der Fotographie oder Filmaufnahme. Und so hat die bloße Passivität gegenüber diesem Gegenstand bereits die Subjekte des Sprechers, Surfers und Musikhörers erzeugt, ohne dass solches beabsichtigt oder angestrebt werden musste. So ist die strategische Funktion zu verstehen. Ohne den Dispositivbegriff hätte man die durch den Gegenstand durchreichenden Absichten des Erfinders und Erzeugers verantwortlich gemacht für seinen Einfluss auf den Benutzer, wie bei einem trojanischen Pferd. Aber man wird sehen, dass das bei den meisten Dispositiven nicht möglich ist. Foucault nennt das Dispositiv Geschlecht. Es erzeugt Subjekte, durch die und über die Macht ausgeübt wird. Aber die Subjekte sind nicht die Verursacher, auch nicht die Träger von Macht, sondern sie nehmen an ihrer Manifestation teil.

f.
Ich möchte nun versuchen, das Pharisäertum als Dispositiv zu beschreiben. Dabei spielt es keine Rolle, wieviel oder wie wenig über diese historische und erst recht soziologische Formation bekannt ist. Es geht eher um die bestimmte Haltung, die von den Subjekten eingenommen wird. Auch die politischen Absichten und Strategien der religiösen Partei, über die nur wenig bekannt ist, sind nicht entscheidend für das Dispositiv, sondern hier ist eher interessant, wie sich die Teilnahme an dieser Gruppierung auf die Subjekte bzw. auf ihre Gegner auswirkt.
Grundlegend für das Selbstverständnis der Pharisäer ist das jüdische Auserwähltheitsbewusstsein. Der Sinai-Bund zwischen Jahwe und Israel (Ex 34) ist
symmetrisch, d.h. er fordert auch von der Familie Jahwes ein bestimmtes Verhalten, obwohl Israels Treue in der Einhaltung der Zehn Gebote nicht als Bedingung für Gottes Erwählung Israels angesehen wird. Während zur Zeit des ersten Tempels der Kult konstitutiv für Gottes Volk war, das darin seine Identität hatte, so wanderte nach dem Exil die Treue zur Tora in das Zentrum der Identität, die somit geistiger wurde. „Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“ (Ex 19,6), wurde zum pharisäischen Leitgedanken, der nunmehr Heiligkeit nicht mehr vornehmlich im Kult zu gewinnen suchte, sondern im Verhalten der Gläubigen. Dabei kann der Sabbat als neues Dispositiv durchaus als „demokratische Neuerung“ verstanden werden, da Heiligkeit nicht mehr der priesterlichen Abstammung vorbehalten wurde, sondern allen, auch einfachen Gläubigen niederschwellig zugänglich war. Damit wird die Möglichkeit der Heiligung zwar breit gestreut, aber sie hat sich nun von der Gnade der Gottesnähe gewandelt in ein aktives Hintreten des reinheitsbedachten Pharisäers vor das erwartete Kommen Gottes. Man erinnere sich an Rabbi Pinchas´ Rede vom Stufenaufstieg des Gläubigen, der sich heiligt, bis vor Gottes Angesicht (Sota 9,14). Um die Tora für die Zeitgenossen unter hellenistischen Bedingungen anwendbar zu machen, entwickeln die Pharisäer neben der schriftlichen Tora eine mündliche Tora - gewissermaßen aktualisierbare Anwenderregeln.

g.
Das Dispositiv des Pharisäers ist somit eine Nachahmung des Priesters – und deshalb eigentlich eine Weiterführung oder Substitution des Tempels. Die Sakralisierung des Tempeldieners für den Kult übersetzt sich hier in die Sakralisierung des vom Profanen Abgeschiedenen (Φαρισαῖος/ pharisaios vom hebräischen Verb פרשׂ (prš). Somit ist das Verhalten des Pharisäers im Gleichnis alles andere als überraschend, vielmehr ist seine Differenz zu den anderen konstitutiv für seine Gruppe, und stellvertretend für ganz Israel. Wenn sein angebliches Gebet gerade diese Differenz ausspricht, dann ist das weniger Arroganz als religiöser Auftrag. Dass die Abgeschiedenheit keine persönlichen Vorlieben widerspiegelt, sondern vom Pharisäerdispositiv erzeugtes Subjekt ist, entspricht der Strategie des Dispositivs. Es macht aus Kaufleuten und Händlern, Handwerkern und Stadtbürgern Heilige und Auserwählte, die naturgemäß sofort zu den aristokratischen Sadduzäern wie zu den radikalen Essenern in Differenz geraten. Dabei übersetzt das Dispositiv den Widerspruch zwischen dem geschäftigen, banalen Alltagsleben und der Sakralisierung in einen Standesdünkel, mit dem sie sich am Markt der Tora-Interpretationen behaupten und bewähren müssen.
Das Pharisäer-Dispositiv generiert Subjekte, die sich von der Autorität der Tora ableiten, und nicht von einer bestimmten Abstammung innerhalb des jüdischen Volkes. Für die Art der Herleitung besitzen sie einen bestimmten Schlüssel, den „Zaun der Tora“. Das Dispositiv ist dieser Schlüssel. Es erzeugt eine bestimmte Kasuistik, ein Regelwerk. Das Dispositiv ist der Diskurs der Anbindung der Alltagsereignisse an die Sinai-Offenbarung (Tora), also eine aktive Einbindung des Subjektes in dem Raum des Vorbeigangs Gottes (Ex 19), gewissermaßen eine Institutionalisierung der Offenheit und Zugänglichkeit dieses Raumes. Nochmals soll das Demokratische dieser Gestalt des Sakralen hervorgehoben werden, denn das Pharisäertum ist frei zugänglich und wählbar und bietet im wesentlichen keine sozialen Vorteile; ein eigener sozialer Stand ist in der Antike nicht nachweisbar. Was aber repräsentiert nun demgegenüber der Zöllner?

h.
Ein Zöllner ist ein freier Unternehmer, der im Dienst der römischen Besatzungsmacht Zoll auf den Warenverkehr einhebt und von der von eingehobenen Gewinnspanne lebt. Die Zusammenarbeit mit den heidnischen Römern macht ihn kultisch unrein. Der toratreue Jude muss sich also von ihm fernhalten. Wenn also der Zöllner ein Repräsentant von etwas ist, dann von Geschäftstüchtigkeit und Pragmatismus gegenüber der Besatzungsmacht. Und was ist er außerdem?
Auf dieser Ebene wäre das Gleichnis eine Art Sozialkritik, wozu es in heutigen Predigten gern benützt wird. Augustinus sieht darin eine Lehre des Betens, er unterscheidet Stolz und Demut (Sermo 115,1). Luther gibt zu, dass in der Reue des Zöllners auch eine Rechtfertigung gesehen werden könnte. Er unterscheidet jedoch im Gleichnis die wahre Frömmigkeit von der heuchlerischen – ohne die soziale Stellung des Pharisäers anzugreifen. Rudolf Bultmann sieht wie Luther den Fehler des Pharisäers nicht in seiner sozialen Situation oder seiner Überheblichkeit, sondern darin, sich für gerechtfertigt zu halten. Was seine Stellung jedoch verunsichert, ist die Anwesenheit des Ausgegrenzten. Während sein Geltungsbedürfnis legitim sei, vermindere sich angesichts des Fremden seine Ernsthaftigkeit vor Gott – und vor dem Nächsten. Die Weise, sich Geltung zu verschaffen vor Gott und den Menschen, würde hier insgesamt scheitern. (Bultmann, Marburger Predigten 107-117)

i.
Ein viel emphatischerer Kritiker des Pharisäertums ist jedoch der ebenfalls protestantische Sören Kierkegaard – der bezeichnenderweise viel weniger zitiert wird als der psychologische Bultmann oder der Moralist Albert Schweitzer.



....




3.


Als oben das Pharisäertum im Blick war, da galt das Interesse weniger der historisch-soziologischen Erscheinung, sondern der bestimmten Beziehung der Vertreter gegenüber der Religion und gegenüber Gott – wobei ja der Pharisäer als Text erschienen ist in einem Gleichnis. Auf die gleiche Weise soll jetzt die Formation des Bürgertums untersucht werden.

a.
Panajotis Kondylis hat 1991 einen wichtigen Essay geschrieben, den kennen sollte, wer über die Stellung der Kirche in der heutigen Gesellschaft nachdenkt. „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“ ist im wesentlichen eine Analyse der bürgerlichen Weltanschauung und dessen, was sie abgelöst hat. Als deren Leitmotiv stellt Kondylis das Harmoniebedürfnis heraus. Sie entsteht durch genaue Berechenbarkeit der Teile, die zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Dieses Motiv wirkt als Motor sowohl der Naturerforschung, der Analyse des Verstandes, der Vernunft und der Gesellschaft. Die bürgerliche Aufklärung arbeitet dabei mit Gegensatzbegriffen wie Natur und Vernunft, Geist und Materie, Norm und Trieb oder Orient und Okzident. Dabei versucht das Harmoniestreben, weder in einen Dualismus noch in einen Monismus zu verfallen. Der Mensch soll nicht als rein materielles Ding gelten, noch als himmlisches Geistwesen, der Naturalismus wird ebenso bekämpft wie die asketische Moral. Der Mittelweg der bürgerlichen Weltanschauung sieht den Menschen mit Vernunft über die Natur herrschen, indem er sich selbst beherrscht und das vernünftig geordnete Gesellschaftswesen. Die Natur versteht er gesetzmäßig geordnet und solcherart erkennbar und beherrschbar. Darum hat das Bürgertum höchstes Interesse, Mensch, Gesellschaft und Welt zu verstehen, um über das Verstandene verfügen zu können (ebda 30).

b.
Dem bürgerlichen Herrschaftsbedürfnis entsprach der Aufstieg der historischen Wissenschaften, mit deren Hilfe auf lange Sicht das dogmatische und hierarchische Denken des Mittelalters beseitigt und der moderne Fortschrittsglaube vorbereitet werden konnte. Kondylis stellt ausdrücklich den Zeitfaktor als Signum des bürgerlichen Zeitalters heraus (34), das er von der Aufklärung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sich erstrecken sieht. Die Ausweitung der bürgerlichen Selbstbehauptung gegenüber dem Feudaladel und der Kirche sieht er sich ökonomisch, dann wissenschaftlich und technisch sich vollziehen. Sein Evolutionismus kommt bereits in der Phasenteilung der Geschichte zum Ausdruck, wo primitive Völker von den hochentwickelten und zivilisierten zu beherrschen sind, ebenso wie das aufgeklärte Bürgertum die mittelalterliche Religion sich zu beherrschen anschickt.
Den großen Schachzug gegen das Christentum sehe ich in der Erfindung der deistischen Gottesfigur. Ein Gott, der sich in die erste der bürgerlichen Geschichtsphasen einreiht, wenn er die Welt erschafft, und sie daraufhin ihren eigenen Gesetzen überlässt, welche nun von den Menschen entdeckt und manipuliert werden können, ohne dabei auf diesen Gott zu stoßen, ist ein abwesender Gott und eher ein Künstler, der sein Kunstwerk vergisst. Die vollgültige Vollendung dieses Denkansatzes ist in den Vätern zu erblicken, die Kinder zeugen, um danach eigene Wege zu gehen und sich mehr um die eigene Entwicklung zu sorgen als um die der Kinder. Vaterlos aufwachsende Kinder, alleinerziehende Mütter und der christliche Gottesglaube sind gleichermaßen Leidtragende dieser bürgerlichen deistischen Denkfigur, die von Descartes bis zum heutigen Radikalindividualisten ihren emanzipativen Siegeszug durchführt.

c.
Warum war das Bürgertum nicht gleich atheistisch? Nun, Kondylis zeigt, wie die Religion in den bürgerlichen Dienst genommen wurde. Zwar war die bürgerliche Weltanschauung rein diesseitig, ihr Herrschaftsanspruch verbot aber, sich dem Nihilismusverdacht aussetzen. Religion wurde auf Ethik reduziert, Gott als Garant einer moralischen Ordnung vorläufig weiter benötigt. Dem Jenseitsglauben wurde eine symbolische Bedeutung zugestanden, biblische Aussagen als historisch bedingt interpretiert. Die geschichtliche Religion wurde nicht nach ihrem Selbstverständnis, sondern nach ihrem gesellschaftlichen Nutzen bewertet, etwa nach ihren karitativen, kunstschaffenden oder friedensstiftenden Leistungen. Alles darüber Hinausgehende wurde als irrational klassifiziert bzw. als interne Wahrheit in einem abgezirkelten Gültigkeitsbereich in der segmentierten bürgerlichen Welt.
Es ist deutlich zu sehen, dass diese Weltanschauung eines ontologischen Fundaments bedarf, das die Vernunft sich geben muss. Trotz größter Anstrengungen der neuzeitlichen Philosophie bis ins 19. Jahrhundert und bis zu Heidegger ist wohl weniger in diesem Bereich der Siegeszug gelungen als in der pragmatischen Selbstbehauptung des Bürgertums durch ökonomischen und gesellschaftlichen – und zuletzt auch durch politischen Einfluss.

d.
Die Bastionen des bürgerlichen Christentums sind Tugenden wie Ordnung, Pünktlichkeit, Fleiß und Sparsamkeit (40), der Beruf selbst, der gesellschaftliche Bedeutung und materiellen Nutzen vereint, Kalkül, Zucht und Leistung. Dem bürgerlichen Bedürfnis nach Sicherheit und Berechenbarkeit entspricht die Anständigkeit und Zuverlässigkeit des Bürgers. Seine Gewohnheiten und Regelmäßigkeit schlagen sich allesamt in seiner Kreditwürdigkeit nieder – einer ursprünglich religiösen Kategorie. Meistgenanntes Beispiel ist die Ehe, die idealerweise Geschlechtstrieb und Befriedigung, Gefühl und Rationalität, Liebe und Institution vereint und harmonisiert und die goldene Mitte zwischen Kalkül und Herz darstellt. Die Familie stellt den Schnittpunkt zwischen privat und öffentlich dar, zwischen Selbstentfaltung und Fremdkontrolle. Ich stelle diese Lebensformen deshalb so zusammen, um das Konstruierte an ihnen hervortreten zu lassen. Spricht nicht sämtliche Liebeslyrik von unbändigen Bedürfnissen und Hoffnungen? Erzählt nicht jeder Liebesroman vom unsäglichen Widerspruch zwischen unbedingter Liebe und gesellschaftlicher Konventionen? Und weiter von der bürgerlichen Doppelmoral, die Öffentliches von Privatem trennt und anders bewertet? Vielleicht liegt hier die Spitze bürgerlicher Anmaßung, und ist deshalb die Klage über das Scheitern gerade hier so laut.

e.
Das Lamento über den Verlust bürgerlicher Tugenden und christlicher Werte setzt beide in eins. Und sicherlich haben sich kirchliche Einrichtungen gerade wegen der hohen Kompatibilität mit dem bürgerlichen Selbstverständnis so gut behaupten können. Als Beispiel möge das Weihnachtslied Stille Nacht dienen, das sowohl die Familienidylle beschwört, wie sie auch die Schutzbedürftigkeit des Menschen in der unwirtlichen winterlichen Natur darstellt. Der knisternde Holzofen illustriert das Bild vollendeter Harmonie, die so schlicht Menschliches wie ein Kind, und so Unfassbares wie göttliche Anwesenheit vereint. Damit übersetzt sich das christologische Dogma der Inkarnation in ein beschauliches Gefühl, welches sogleich den Siegeszug in die Welt antritt, nicht ohne sich seiner Aussage sorgsam zu entkleiden. Und dieser inzwischen interreligiös dargestellten Seligkeit ist bis heute das gesamte Weihnachtsfest gefolgt, das sich in eine familiäre Beschwörung verwandelt hat, die dennoch die ersehnte Harmonie selten wiedergeben kann. Wahrscheinlich ist die Inkarnation der am wenigsten geglaubte christliche Glaubensinhalt – gefolgt von der Auferstehung.

f.
All diese Beispiele weisen auf einen Wandel hin, den Kondylis als Entfaltung der hedonistischen Massendemokratie beschreibt. Ein Motor dafür ist der Funktionalismus, der aufkommt, sobald soziale und logische Hierarchien beseitigt und substanzielle Unterschiede überwunden sind. Das wirkt sich bei den Geschlechterrollen aus, sowie insgesamt bei der Befreiung des Individuums. Schule und Berufswelt wirken darauf hin, das Individuum von sozialen Voraussetzungen und substanziellen Bindungen zu trennen, denn das Dogma der Massendemokratie ist die freie Entfaltung des eigenen Persönlichkeitskerns. Da Bindungen keine substanzielle, sondern nur mehr funktionale Bedeutung haben, sind sie alle gleichwertig und frei wählbar, im Bereich der Geschlechter ebenso wie im Bereich der Abstammung. Die freie Selbstverwirklichung wird nicht mehr in familiärer Harmonie, sondern in Absolutsetzung des Ich und seines Genusses gesehen.
Die am Ende des 19. Jahrhunderts erreichte industrielle Massenproduktion von Gütern ermöglicht zunehmend einen Massenwohlstand und entdeckt auch in den unteren Schichten Konsumenten. Arbeiter werden auch politische Konsumenten, Massenorganisationen entstehen. Das Überangebot von Gütern bildet den autonomen Bürger in einen Massenkonsumenten um. Kondylis betont an dieser Stelle die Unausweichlichkeit der Entstehung von Massendemokratie – was ja gegenwärtig in den Umwälzungen in den arabischen Ländern beobachtet werden kann, und sich in den Wandlungen der osteuropäischen, ehemals kommunistischen Länder wohl bestätigt hat.

g.
Kondylis spricht vom analytischen Denkmodell, welches ein Ganzes in seine Bestandteile zersetzt und daraus wieder ein neues Ganzes aufbaut. Auf diese Weise werden Arbeitsprozesse zweckrational optimiert, Bevölkerungsgruppen sozial neu geordnet oder ethnisch umgestaltet. Damit ist sowohl der Gedanke der sozialen Umverteilung gemeint, wie auch ethnische Umsiedlungen und ethnische Vereinheitlichung durch Auslöschung, wie sie nicht nur im letzten Jugoslawienkrieg und im Holocaust, sondern auch im türkischen Genozid an den Armeniern während des ganzen 20. Jahrhunderts planmäßig stattfand. An dieser Stelle muss über Kondylis hinausgegangen werden, der die beiden Weltkriege nicht in seine Analysen einbezieht. Dabei stellt bereits der erste große Krieg einen massendemokratischen Vorgang par excellence dar, weil er eine Massenproduktion von Kriegsgütern voraussetzt und zugleich die Vermassung und Entwurzelung der Individuen auf die Spitze treibt. Darüber hinaus vermag das faschistische Regime, nicht nur den Wert des Menschen rein materialistisch zu beschreiben, sondern auch endgültig den Hedonismus in den Massen zu verankern. Die Analysen dieser Zeit konzentrieren sich nur auf das Maß der Gewalt, die dabei eingesetzt wurde, und erblicken Grenzen der Gewalt in Formen von heldenhaftem menschlichen Großmut oder von gemeinschaftlichem Zusammenhalt, die Widerstand leisteten oder sich dem Anpassungsdruck verweigerten. Dennoch hat sich die Anpassung an das Massenförmige weiter durchgesetzt, während der singuläre Widerstand antiquiert wirkt. Um die Möglichkeit des modernen Faschismus zu verstehen und die hohe Kongruenz zu heutigen ethischen Standards bei der Tötung unerwünschten ungeborenen Lebens, der Euthanasie oder der Ausbeutung menschlicher und natürlicher Ressourcen sogenannter Entwicklungsländer, ist wohl das Merkmal sichtbarer Gewalt nicht ausreichend. Stattdessen ergeben sich von Kandylis´ Analyse der Massendemokratie neue Ansatzpunkte, die auch auf moderne Formen der Meinungsbildung ein neues Licht werfen.

h.
Den Übergang vom Bürgertum zur Massendemokratie sieht Kondylis in der Massenproduktion von Konsumgütern, die nunmehr über den Bedarf hinausgeht und Bedürfnisse schaffen muss, sowie neue Konsumenten – zuerst aus den Unterschichten, dann aus den Entwicklungsländern, und schließlich aus Senioren, Jugendlichen und Kindern. Die Massenproduktion schafft Massenkonsum.
Weiters spricht er von einer Mechanisierung des Alltags durch Maschinen, einerseits im Bereich der Produktion in Industrie und Landwirtschaft, andererseits im Haushalt und schließlich sogar in der Freizeit. Ich sehe diesen Vorgang in der Synthetisierung aller Lebensbereiche fortgesetzt, die von elektronischen Medien bis zur Nahrungsergänzung reicht. Der Mensch wird selbst, in allen Lebensbereichen, vom Konsumenten zu einem Produkt der Maschine.
Die Auflösung der substanziellen Bindungen hat zunächst dem sozialen Aufstieg des Bürgertums gedient, sie hat aber schließlich diesen Stand selbst aufgelöst, sobald das Emanzipationsbedürfnis auch die unteren Schichten erreicht hat. Das Ende der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand mit bestimmter Existenzform und bestimmtem Weltbild durch Geburt bedeutet den Beginn der freien Wählbarkeit von Lebensform und Meinung – die Soziologie nennt es Freisetzung und beschreibt zugleich auch den Vorgang der Entwurzelung. Das bedeutet geforderte geographische und soziale Mobilität, das bedeutet auch, dass nunmehr Leistung und Bildung, Anpassungsfähigkeit und Dominanz zu Kriterien des gesellschaftlichen Aufstiegs werden. Die demokratische Gleichstellung der Individuen wurde um den Preis der geforderten permanenten Selbstbestätigung erkauft. Fortbildung, Leistung im Beruf, Erweiterung der Konsummöglichkeiten, Produktionssteigerung, Beschleunigung, Effektivitätssteigerung, permanente Innovation – das ist das (späte) Echo des bürgerlichen Fortschrittsdenkens.

i.
Wir halten fest, wie im Prozess der Demokratisierung der Druck auf den einzelnen ständig zunimmt, ohne diesen Vorgang schon erklären zu können. Ein weiteres Produkt der massendemokratischen Entwicklung ist ein neues Subjekt, der „kleine Mann“. Weil das Prinzip der Zugehörigkeit ersetzt wurde durch das Prinzip der Leistung, müssen nunmehr Eliten die Führung übernehmen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, welche sich permanent rechtfertigen müssen und ansonsten ausgetauscht werden. Politische Eliten werben um die Wählergunst, die nicht mehr auf Standeszugehörigkeit zurückgreifen kann, und setzen Methoden der Bedürfniserzeugung ein, z.B. durch Erzeugung von Feindbildern. Nach dem Ende der Monarchie waren das in Mitteleuropa in erster Linie der Bolschewismus bzw. das Kapital, sodann bestimmte Bevölkerungsgruppen, die ökonomisch interpretiert wurden als Ausbeuter oder Schmarotzer, Unproduktive oder Leistungsunwillige. Diesen Negativbildern entsprachen positiv der unbescholtene Bürger und beflissene Konsument, der verlässliche Angestellte sowie der Teilnehmer an verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen – was in den letzten Jahren durch ein entsprechend angesehenes Hobby abgelöst wird.

j.
Dieses so konstituierte Subjekt der massendemokratischen Gesellschaft tritt nunmehr anspruchsvoll und selbstbewusst auf und unterscheidet sich darin vom Kleinbürger des bürgerlichen Zeitalters (200). Er weiß sich als Zielpunkt des industriellen Werbens um Konsumenten, des populistischen Werbens um Wähler sowie des massenmedialen Werbens um Meinungen. Durch Leistung verschafft er sich Einkommen und Konsumkraft, und kommt so in den Genuss von Konsumgütern, gesellschaftlicher Anerkennung und sogar zu Wissen und Meinung – allesamt Konsumartikel. Die Forderung der Geschlechtergleichstellung ist ein hervorragendes Beispiel für dieses Subjekt, das sich durch Leistung und Konsum definiert, und zugleich ist zu sehen, wie dieses Subjekt sogleich universal eingefordert wird auch für ganz anders strukturierte Gesellschaften.
Das Konsumdispositiv – ich möchte es an dieser Stelle erstmals so nennen – erzeugt ein Subjekt, das Kondylis als hedonistisch beschreibt. Nicht nur Gebrauchsgegenstände werden nämlich konsumiert, sondern auch Bildung, Freizeit, Werte und Ideale (203), und es entsteht ein Relativismus, der für eine Massendemokratie notwendig erscheint. Die individuelle Erfüllung wird im Konsum von Massenprodukten gesehen, die Entstehung von Konformismus und Individualismus erscheint wie dessen notwendige Resultante (204). Die Auffassung vom Selbst hat sich völlig gewandelt: Selbstverwirklichung wird nicht von der Umsetzung großer Aufgaben erwartet, sondern vom Genuss, statt Selbstkontrolle und Triebverzicht steht Ausleben der Bedürfnisse, statt Aufrichtigkeit steht Authentizität (212). Kondylis spricht vom „Selbstkonsum des Selbst“ (215), das sich in keine Rollenbilder mehr fügen will, sondern sich selbst produziert und dabei erst recht ein Massensubjekt bildet. Ablesbar ist diese egalitäre Grundeinstellung wiederum in der Geschlechterbeziehung. „Mann“ und „Frau“ fungieren als soziale Chiffren ohne Substanz, ihre Beziehungen müssen verhandelt werden und sollen dem Genuss und der Selbstverwirklichung dienen. Sex ist ein Konsumartikel geworden, der nicht mehr an Beziehung gekoppelt ist. In der Bevorzugung von Minderheitenphänomenen wie der Homosexualität sieht Kondylis einen Nivellierungsvorgang, der auch im Jugendkult durchschlägt (220).

k.
Was die christliche Positionierung in der Massendemokratie so erschwert, ist die grundlegende Änderung des Wahrheitsbegriffs. Bereits der Verfall von Verbindlichkeit erschwert jede Argumentation, und die Pluralisierung hat auch vor der Wahrheit nicht haltgemacht. De facto wird Wahrheit als punktueller Konsens betrachtet, und nicht von Axiomen abgeleitet oder auf metaphysischen Boden gestellt. Funktionale Argumente sind deshalb substanziellen prinzipiell gleichgestellt, was z.B. bei Diskussionen um kirchliche Fragen schnell für Verwirrung sorgt.

Mittwoch, 26. Januar 2011

Robert Musils Apokalypse

a.

Gewöhnlich stellt man sich unter einer Apokalypse einen Katastrophenreigen vor, eine Untergangsstimmung in warnendem Tonfall. Wir denken an die Klimaerwärmung und die damit verbundenen Szenarien von Überflutungen, Hitzeperioden oder Artensterben. Wir denken an Erdbeben oder an Kometen. Oder wir sehen Bilder des Wütens von Menschen an anderen Menschen, die sie abschlachten. Einmal ist die Natur der Dämon, der die Welt bedroht, das andere Mal der Mensch. Jedes Mal ist es aber der Mensch, der leidet. Diese Apokalypsen beschreiben, wie etwas zu Ende geht. Der Friede, ein ökologisches Gleichgewicht, die Unbekümmertheit einer dominanten Zivilisation. Die apokalyptische Tendenz der Weltnachrichten kommt in warnendem Tonfall und gibt den Wink, es könne eine Rettung geben. Dieser apokalyptische Genus ist aber keine Literaturgattung, denn ihr ist keine Autorschaft zuzuordnen. Denn dieselben Schreiber der Klimakatastrophen preisen interkontinentale Gasleitungen oder Absatzrekorde von Autoherstellern, wie sie Bahntunnel verlachen oder Tierschützer bemitleiden. Derselbe warnende Ton gilt sowohl der Massenzuwanderung wie auch der Massenabschiebung; es handelt sich um einen leeren Gestus, der von der Erwartung der Informationskonsumenten bestimmt ist, nicht von der Sorge Wissender.
Um eine literarische Gattung handelt es sich erst dann, wenn ein Wissender schreibt. Sein Wissen stammt daher, dass er das Zuendegehen bereits im Blick hat – gewöhnlich so, dass er es beim Schreiben bereits hinter sich hat. Während die Apokalyptiker der Weltnachrichten (oder regionaler Machtinteressen) strategische Interessen bedienen, sucht der Zurückblickende nach Erklärung und Erkenntnis. So sind vom Großteil des Alten Testaments, der im babylonischen Exil verfasst wurde, apokalyptische Tendenzen zu erwarten, die den Verlust des Landes und des Tempels erklären und rechtfertigen wollen, sowie auf ganz ähnliche Weise auch vom Neuen Testament bis auf Paulus, denn es wurde nach der römischen Tempelzerstörung und der Verbannung der Juden geschrieben. Dennoch wird im folgenden gerade Paulus den Leitfaden geben zur Erschließung der Musiltexte, die ich für die Analyse ausgewählt habe.

b.

Manche Analytiker suchen Autorentexte aus den Autorenbiographien zu erschließen. So versucht man, literarische Bilder auf bestimmte Erlebnisse des Autors zurückzubeziehen. Karl Corino hat das beispielsweise für die musilschen Romanfiguren gemacht, für die er reale Vorbilder im Leben des Autors aufgespürt und prominent mit Bildern und Postkarten unterlegt hat. Wer auf solche Weise unbeschwert an die vorliegenden Textbeispiele herangeht, wird unschwer den ersten Weltkrieg im Hintergrund erblicken, wenn von der Lethargie Kakaniens schwadroniert wird, sich aber im nächsten Augenblick über den ironischen Tonfall wundern müssen, denn der im Krieg dienende Offizier hat keine Spur von Kriegsereignissen hinterlassen, keine Klagen über Niederlage und Kriegsnot, und schon gar keine pazifistischen Ratschläge.
Es wird bei den ausgewählten Textbeispielen aus dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ tatsächlich der Kriegsausbruch als die Zensur der Zeitenwende erscheinen, aber nicht aus biographischen Gründen, sondern als Markierung bestimmter Auffassungen von Zeit. Gerade im Kakanienkapitel springt das ins Auge. Aber bevor wir uns diesem Abschnitt nähern, soll zunächst der ganze Roman in den Blick genommen werden. Es wird darin ein Geschehen entfaltet, das im Sommer 1913 beginnt, und ein Jahr dauern soll, nämlich eine Entscheidungssituation einer Romanperson, die als Selbstfindung oder Selbstbestimmung bezeichnet werden könnte, und im Buch „ein Jahr Urlaub vom Leben“ genannt wird. Für den Leser erkennbar, läuft das Geschehen also auf den Kriegsausbruch zu, von dem die Romanfiguren natürlich nichts wissen. Das ist eine besondere Zeitstruktur, nämlich eine Spannung zwischen einer innertextlichen Unbestimmtheit, an der sich das Textgeschehen abarbeitet, um eine Entscheidung zu vollbringen, und einer außertextlichen Bestimmtheit und geschichtlichen Entschiedenheit, die sich doch letztlich im Text selbst wieder finden sollte, wäre er nur zu Ende geschrieben. Autor und Leser sind in dieser Textanlage zu geheimen Vorauswissern geworden, die den ahnungslosen Romanfiguren dadurch überlegen sind. Diese eigentümliche Zeitbestimmung des Romans soll in Erinnerung behalten werden, wenn nun das Kakanienkapitel untersucht wird und dessen besondere Zeitbegriffe zur Sprache kommen.

ERSTES FRAGMENT:
DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN
8. KAPITEL: KAKANIEN
S. 31-35
c.

Der Abschnitt beginnt mit einer kritischen Passage. Kurz gesteckte Ziele sind Ausdruck eines Effizienzdenkens, welches der Text ironisch ausführt. Es läuft auf die Aussage hinaus, die Tat sei wichtiger als ihr Sinn – heute würde man sagen, die Performance geht vor den Inhalten. Diese Polemik wird in eine Darstellung von Beschleunigung weitergeführt: kurze Ziele, schnelle Rhythmen, wenig Denken. Diese Entwicklung gibt sich wie jede Modernisierung als demokratisch gewählt – und damit auch abwählbar: aber das entlarvt sich als Irrtum. Die erste apokalyptische Wende erblickt in dem, worin der moderne Mensch zufrieden und vertraut zu leben scheint, ein Verhängnis. Die Sache hat uns in der Hand, die Schienen werfen sich selbst voraus, niemand ist dafür verantwortlich, kein Subjekt, keine Entscheidung, kein Widerruf.
Nur ein Gegenbild: Kakanien, das Reich des Guten, das österreichische Gegenmodell, das Aufatmen angesichts des Verhängnisses.
Es sind zwei Existenzweisen, die hier einander gegenübergestellt werden, es ließe sich auch sagen, zwei Epochen. Die gemütlichere ist bestimmt von Dörfern, Landstraßen durch schöne Landschaften und ein wenig Hochseeschiffahrt, durch eine klar strukturierte Gesellschaft, wo jedes Individuum seine festgelegte Zugehörigkeit hat, und eine klerikal – liberale Regierung. Ich würde sie als die bürgerliche bezeichnen, die deutlich zwischen Adel und Unterschicht positioniert ist, und in der kirchlich bestimmte sowie liberale Lebensformen gegenüberliegende Pole sind. Das Auffällige an dieser Formation ist das Maß. Großstädte statt Megastädten, moderne Technik statt hypermoderner, bewaffnete Großmacht statt Supermacht, Koexistenz statt totaler Konkurrenz bei Vernichtung der Unterlegenen. Und die Sprache, die das wiedergibt, ist eine nostalgische. Es ist ja bereits verloren, und wahrscheinlich erweist sich erst im Rückblick aus einer unmäßigen Zeit die maßvolle Haltung der untergegangenen Kultur.
Dagegen ist die Lebenshaltung, die sich durchgesetzt hat, die des Tempos und der Maßlosigkeit. Ihr Fortschrittsgeist beruht auf der Rücksichtslosigkeit gegenüber Andersdenkenden, und deren Vernichtung, wenn sie überwunden sind. Die angesprochenen Nationalitäten im Vielvölkerstaat emanzipieren sich vom Kaiser und seiner klerikal-bürgerlichen Gesellschaftsform. Die meisten Interpreten sehen in dieser Existenz schon die faschistische Biopolitik, welche Leben nach eigenen Vorstellungen produzierte, die der Autor vor Augen hatte, der vor der Diktatur fliehen musste und die gewalttätige Verfügung über den Menschen mitansehen musste. Ist schon genügend beachtet worden, dass der 2. Weltkrieg von Anfang an als Blitzkrieg konzipiert war, als ein Überrennen Europas und des Mittelmeerraums? Hastig greift der Besitzanspruch in den Raum, inzwischen eher mit ökonomischen Mitteln. Zuweilen ist in dieser beschleunigten Zeit, auch gestützt auf andere Textstellen des Romans, das Bild einer amerikanischen Großstadt gesehen worden, die für den Autor das äußerste Sinnbild der Moderne darstellte, sozusagen den Punkt, auf den die Entwicklung zulaufe. Aber es handelt sich um nichts weniger als die sich durchsetzende demokratische Massengesellschaft, die weniger durch Entscheidung und Wahl, sondern eher durch Massenproduktion und Massenkonsum gekennzeichnet ist. Diese sind es, die die Menschen gleich machen, wodurch Abstammung und hierarchische Ordnung, auch die Verbindung mit Grund und Boden, obsolet werden.

d.

Die neun Charaktere, die den modernen Menschen ausmachen, zeichnen zunächst einen alles relativierenden Pluralismus nach, der die Person in Rollenbilder auflöst. Und vollends der zehnte Charakter, die leere Sickergrube, die nichts festhalten kann, führt überdeutlich die Substanzlosigkeit des modernen Menschenbildes vor Augen, nichts Eindeutiges, nichts Festes, alles ein Fließen, ein Jenachdem. Ohne zureichenden Grund ist etwas, das nicht es selbst ist und keine Identität hat.
Die Lethargie Kakaniens ist eine Als-Ob-Existenz: viel, aber nicht zuviel, modern, aber nicht zu modern, Ordnung, aber nicht totalitär. Statt faktischer Ereignisse passiert dort etwas, mit eingeschränkter Wirklichkeit und ohne Konsequenzen. Ich möchte diese Verfassung Kakaniens als ontologischen Vorbehalt bezeichnen. Sie lässt sich mit dem vergleichen, was der Apostel Paulus als messianische Existenz beschreibt: Die Gestalt dieser Welt vergeht! Daher soll, wer eine Frau hat, sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als würde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht (1 Kor 7, 29f). Der fortgeschrittenste Staat, der sich selber nur noch irgendwie mitmachte, war auf eine geheimnisvolle Weise seiner Vollendung nahe, bevor er durch eine Katastrophe an der Erfüllung seiner Mission gehindert wurde. Was bei Kakanien eine verhinderte Epiphanie sein mag, ist bei Paulus umgekehrt die Parusie, die Erwartung der Erscheinung des Messias. Das beiderseitige Nichterscheinen des Messianischen wird jeweils apokalyptisch markiert: Das katastrophische Ende Kakaniens verhindert seine Vollendung, während die Apolkalypse bei Paulus die Erscheinung des Messianischen in den vorläufigen Formen der Welt bedeutet. Beide Apokalypsen sind also spiegelverkehrt.
Aber beide eint der Gegensatz zum tatsächlich inzwischen erfolgten Fortschritt der Zeit, welcher jeden Vorbehalt weggeräumt hat zugunsten einer fraglosen und reflexionslosen Unmittelbarkeit, im Sinne der faschistischen Totalität der Menschenverfügung wie auch im Sinne der konsumorientierten Totalität der Menschenverfügung.

ZWEITES FRAGMENT:
KAPITEL 109: BONADEA, KAKANIEN; SYSTEME DES GLÜCKS UND GLEICHGEWICHTS
S. 527-530
e.

Der zweite Text beginnt mit einem Zitat. Credo ut intelligam, sagt Anselm von Canterbury, - „Ich versuche, nicht zu verstehen, dass ich glaube, sondern ich glaube, damit ich verstehe.“.
Der Kredit ist das gnadenhaft Gewährte, das von der Zukunft Vorweggenommene. Anselm zitiert hier seinerseits Augustinus, der Glauben ganz in Verbindung zum Denken sieht. Der Glaubensakt setzt bei Augustinus ein Gedachtes voraus: Nicht jeder, der denkt, glaubt, aber jeder, der glaubt, denkt, und glaubend denkt er und denkend glaubt er. (Sermo XL III 6,7 und 7,9) Das Gedachte ist das Gegebene – aus Gnade. Das Denken Gottes, das Denken seiner selbst, das Denken des Kommenden – Anselm geht von der antiken Identität von Denken und Sein aus und führt sie weiter bis zum Gottesbeweis mithilfe des „ontologischen Arguments“: Wenn die Idee Gottes, des höchsten und wirklichsten Wesens, im Verstand sei, dann nur deswegen, weil er wirklich sei. Wie sonst könne der unfassliche Gott ins Denken kommen als durch seine freie Offenbarung. Dass Gott sich dem Menschen zu denken gibt, dass Gott dem Menschen die Welt zu denken gibt, sich selbst, seine Zukunft – all das ist Gnade, freies Geschenk Gottes. Des Menschen Denken nimmt teil an dieser gnadenhaften Gegebenheit. Und wenn er antwortend diesem ihm im Denken Gegebenen zustimmt und es bejaht, so ist es Glaube. Glauben können ist ein zweiter Gnadenakt, so sehen es Augustinus und Anselm. Der Mensch bekommt Kredit, indem ihm Welt, Wirklichkeit und Leben geschenkt sind, und einen zweiten Kredit, um das Geschenkte bejahen und lieben zu können. Der doppelte Kredit bezeugt und schafft eine doppelte Freiheit: Gott könnte die Welt auch nicht sein lassen, und er könnte sich dem Menschen nicht zu erkennen geben, und auch diesen sich selbst nicht. Und auf der anderen Seite könnte auch der Mensch seine Zustimmung verweigern, könnte Gott, Welt und Mensch negieren und die Gnade zurückweisen. – Könnte er das wirklich? Kann der Mensch überhaupt existieren, wenn er seine eigene Existenz nicht bejaht, und zugleich die der Welt und alles Gegebenen? Man sieht ein großes Feld sich hier auftun, wie der Mensch sich nun bewegen kann in dieser ihm geöffneten Welt, und welche Bejahung und Liebe er vollbringt, und mit welchen Konsequenzen.

f.

Den Kredit entziehen heißt aber dann, die Gabe der Zustimmung verweigern. Die Welt bleibt, aber der Mensch kann sich nicht mehr an ihr freuen. Die Menschen bleiben, aber sie werden nicht mehr geliebt. Gott bleibt, aber er wird nicht mehr geglaubt. Credo ut intelligam: Mir ist kein Glaube gegeben, um zu verstehen. Die Gabe des Überschusses, der hoffnungsvollen Erwartung des Kommenden, der zuversichtlichen Anwendung und Verwirklichung des Gegebenen, wird entzogen. Der Mensch hat alles, aber er wird nicht froh damit. Und wenn mangels Kredit der Zustrom von Sein und Leben, von Zukunft und Hoffnung aufhört, dann kann der Mensch nur mehr das Vorhandene aufbrauchen und abnützen bis zur Nichtigkeit, und zuletzt sich selbst. Das ist der Horizont des entzogenen Kredits, es ist die schlimmere Apokalypse, das Heraufdämmern nicht einer neuen Zukunft, sondern des Endes von allem. Es lässt sich ganz leicht darin die Lebenshaltung der Maßlosigkeit wieder erkennen, die Tempo hat, aber keine Substanz, rücksichtslosen Fortschritt, aber keinen Sinn. Nun ist aber ein Licht darauf gefallen, warum der Mensch die Sache nicht in der Hand hat, warum er den Gang der Zeit nicht ändern, vom Zug nicht abspringen und nicht ins alte Kakanien zurückkehren kann: Er hat keinen Kredit mehr, hat über seine Verhältnisse gelebt, hat mehr verbraucht als bejaht. Das Geschick, in das er hineingelaufen ist, ist sein Glaubensschicksal. Und nun erscheinen wie von Geisterhand der massenhafte Rohstoffverbrauch, der die Erdoberfläche verwüstet und die Atmosphäre erhitzt, die rücksichtslose Ausbreitung und Selbstbehauptung der Völker und ihrer Ansprüche, und ganz besonders die wahnwitzigen Spekulationen auf ganze Währungen und Volkswirtschaften, bis zum Zusammenbruch von Staaten und der Weltwirtschaft, als ein einziger Vorgang des unrechtmäßigen Verbrauchs ohne Kredit, also gnadenlos.
Und dagegen stand Kakanien.
Als utopisches Gegenbild zum rücksichtslosen hedonistischen Massenkonsum. Die Gestalt der Welt vergeht, aber Kakanien? Nun, dieses Biotop wird erst nach seinem Untergang zum Gegenbild und Ankerplatz der Hoffnungen. Ist nicht die Europäische Union eine Wiedererfindung des Vielvölkerstaates? Nur der kakanische Geist und Atem lässt sich in diesem Europa nicht finden, den atmen höchstens noch die Reste der Beamtenschaft oder der Verwaltung. Stattdessen sind Politik und Wirtschaft nur Prozedere, nur wiederholbare leere Abläufe ohne Inhalt und Substanz. Bildungsreform? Wer fragt danach, was Bildung ist, wie Menschen sich bilden wollen, mit welchem Ziel, wie sie dann sein wollen. Keine Vorstellung, die über einen gut bezahlten Job hinausginge.

g.

Bevor nun die messianische Zeit genauer untersucht wird, einerseits vom biblisch-paulinischen Gesichtspunkt, andererseits von Musil aus, soll unterdessen den beiden Lebenshaltungen nachgegangen werden, die sich bisher angedeutet haben in den verschiedenen Geschwindigkeiten. Ich greife dabei auf die Analyse von Panajotis Kondylis, „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“ zurück, die 1991 erschienen ist.
Kondylis beschreibt eine typisch bürgerliche Lebenshaltung, die sich als soziale Größe seit dem Mittelalter etabliert und die ehedem hierarchischen Denk- und Lebensformen des Mittelalters nach und nach umformt. Auf diesen Faden können die aufkommende Naturwissenschaft, die geistige Aufklärung, die absolutistische Staatsform ebenso gereiht werden wie die Entwicklungen der Künste und der Literatur. Kondylis setzt Höhepunkt und beginnenden Niedergang des Bürgertums in der Mitte des 19. Jahrhunderts an, also etwa in der Mitte zwischen Klassik und Klassizismus, zwischen absolutistischem Staat und Parlament, zwischen Hegemonialkämpfen und den totalen Kriegen ganzer Bevölkerungen im 20. Jahrhundert.
Hohen Symbolwert hat Kondylis´ Beschreibung des Klassischen, wie es in Architektur und Musik, Malerei und Literatur bis heute maßstäblich ist. Dessen innere Ordnung sucht Harmonie, die dem Menschen und der Natur innewohnenden Gesetzen folgt. Es geht um Zusammenklänge und Werkstrukturen in der Musik, Größenverhältnisse von Gebäuden, um ästhetische Proportionen, für die auf die griechische Klassik zurückgegriffen wird. Dadurch wird eine Zeitlosigkeit ausgedrückt, eine zeitlose Gültigkeit bestimmter Normen, anthropologischer Konstanten sozusagen, nach denen sich Kultur und Kunst zu richten haben, und an denen sich das Bildungsideal orientiert. Der bürgerliche Roman dieser Epoche folgt dem autonomen Zusichkommen des Menschen, der in sich die großen Zusammenhänge erkennt und sich in Gefühl und Liebe, Denken und autonomer Lebensführung über die engen Grenzen der feudalen Gesellschaft hinwegsetzt. Wenn Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ als Schlüsselroman betrachtet werden kann, dann lassen die Briefform, die Kämpfe um die gesellschaftliche Position und Anerkennung, und besonders das Ringen um Lebensorientierung in der Liebe den sehr klaren Vorrang des Persönlichen und Authentischen erkennen, der für den bürgerlichen Stand so typisch war. Man sieht aber auch die Gegner, das feudale System mit seiner unumstößlichen Ordnung, die von der Herkunft abgeleitet war, also von etwas Gottgegebenem. Epochemachender Ausdruck des Kampfes gegen diese höhere Ordnung ist wohl der Faust, der mit Hilfe von Denken und Wissenschaft, von pragmatischer Bündnispolitik und metaphysischer Kaltschnäuzigkeit eine Selbständigkeit und Unabhängigkeit erreicht, die ihn zugleich aber völlig isoliert.
Ohne dass Kondylis auf solche konkreten Beispiele einginge, zeigt er dennoch klar die Zusammenhänge auf, die zwischen solchen persönlichen Bestimmungen bestehen wie dem Streben nach wirtschaftlicher und geistiger Autonomie, der neuen Dominanz des Persönlichen, Privaten, des Gefühls und der Liebe, sowie den öffentlichen und gesellschaftlichen Vorgängen der Selbstbehauptung von bürgerlichen Formationen durch Wissenschaft und Bildung, Markt und Handel, demokratischer Mitbestimmung und künstlerischer Autonomie.
Es ist auffällig, wie bürgerliches Denken zwar weiterhin an Gott und Religion festhält, aber ohne Metaphysik, sondern bloß als Garantie einer Ethik. Der bürgerliche Agnostizismus akzeptiert Gott als Stütze der Moral, der wissenschaftliche Deismus erkämpft völlige Freiheit der Forschung, die gesellschaftliche Entwicklung wendet sich zum Diesseits und zur Praxis. Und als treibende Kraft dieser Entwicklung, und das betrachte ich als das Verdienst Kondylis´, kann das Bürgertum festgemacht werden, das auf diese Weise seine eigene gesellschaftliche Stellung und seinen Einfluss erkämpft und durchsetzt.

h.

Was bedeutet das für Kakanien? Nun, Figuren wie Tuzzi und Fischel, Walter und der General, Diotima und Bonadea sind eindeutig Vertreter dieser Ordnung, Arnheim und Leinsdorf sozusagen deren bleibende aristokratische Antipoden. Die Parallelaktion bildet ein repräsentatives Forum dieses kakanischen Kosmos´. Sie sorgt sich an der Schwelle des Übergangs zur neuen Epoche, die sie eigentlich vorbereiten soll, um die bürgerlichen Tugenden wie Ordnung und Pünktlichkeit, Fleiß und Weitblick, Berechenbarkeit und Anständigkeit. Sie sucht nach Idealen und nach der goldenen Mitte, und nach der richtigen Trennung oder Verbindung zwischen dem Privaten und Öffentlichen, zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Es geht um das rechte Maß, und die entsprechende Geschichtsauffassung ist die evolutionäre, nach der stetiger Fortschritt eine immer weiter zunehmende Weltbeherrschung bringen soll.

Es ist diese Geisteshaltung, der der Kredit entzogen wird. Das lethargische Kakanien hat den Glauben an sich und seine Zukunft verloren, es macht sich selbst nur mehr irgendwie mit. Darum tritt es aus der Geschichte aus, und darum kann die Parallelaktion den Sinn nicht finden, die leitende Idee. Kakanien glaubt nicht mehr und hat keinen höheren Sinn mehr. Die neue Zeit bringt Unglauben, Hedonismus und Maßlosigkeit. Der Kaiser hatte die Schutzmacht verkörpert, der die Untertanen sich mit Treue überantwortet haben, die berit – der Bund: das war einmal der Glaube Kakaniens gewesen.

i.

Als Vertreter dieser neuen Zeit muss Ulrich angesehen werden, der Mann ohne Eigenschaften. Als Ingenieur ist er Repräsentant der technischen Weltbeherrschung, die Kondylis in der Massenproduktion der Güter weit über die unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen hinaus die neue Geisteshaltung des schrankenlosen Konsumismus bestimmen sieht. Als Militär mag er Vertreter des neuen Sicherheitsdenkens sein, das in Kriegen und Unruhen lediglich eine Störung der Wohlfahrt entwickelter Staaten betrachtet – oder, näher am Autor, Teilnehmer am Untergang des alten Systems, sowie des darauffolgenden militaristischen Staates. Und als Mathematiker vertritt er eine neue Art von Philosophie, die nicht metaphysisch spekuliert, sondern an der Berechenbarkeit und Entzauberung der Welt arbeitet. All diese Berufe und Tätigkeiten gab es natürlich auch davor. Aber ihre Zusammenfassung in einer Person drückt doch einen viel größeren Herrschaftsanspruch aus, noch dazu, wenn es dezidiert um Fragen vom Sinn von Welt und Leben, um die angebrochene neue Zeit und um die radikale Selbstbestimmung ohne Kompromisse mit althergebrachten Normen geht. Im Leben Ulrichs zeigt sich von Anfang an ungenierter Hedonismus und extremer Individualismus, erst vor diesem Hintergrund wird die Leidenschaft seines Kampfes um Wahrheit – besser: um das richtige Leben verständlich. Sein Einzelkämpfertum steht der großen, mehr oder weniger harmonischen Einheit Kakaniens diametral entgegen. Wie ein Dandy oder ein Bohemien missachtet er Norm und Ordnung, sein Weltbild ist angriffig und vom Kalkül bestimmt. Wie im Bild der neun Charaktere ausgeführt, haben die Vorstellung von Form und Substanz sowie von der Einheit der Person ausgedient, und an ihre Stelle sind stets wechselnde Funktionsbestimmungen getreten. Wie die Figuren auf den Buchseiten zu leben und einander zu lieben, geniert sich Ulrich, zu Diotima gesagt zu haben.
Der extremen Fragmentierung der Welt entspricht ihre beliebige Konstruierbarkeit, wofür die letzten Bestandteile zu finden sind, aus denen jedes beliebige neue Funktionsganze synthetisch aufgebaut werden kann. Solche Elemente hat man einst in Atomen und Zellen zu besitzen gemeint, in Arten und Gattungen, in Ich, Es und Über-Ich, in Organen und Organfunktionen, in Genen, und schließlich überhaupt nur mehr in Funktionen, aus denen irgendwann jedes beliebige Material aufgebaut werden kann, synthetische Materialien, Tiere, Menschenkörper, Wohlbefinden, ein Gesellschaftskörper, Bildung, Politik, Geist oder Kirche. Sobald man weiß, wie es funktionieren soll und die Materialgrundlagen erforscht hat, kann es hergestellt werden. Kondylis nennt es das massendemokratische synthetische Zeitalter, ermöglicht durch industrielle Massenproduktion von weit mehr als nötigen Gebrauchsgütern, verbunden mit einem Menschenbild des Produzenten und Konsumenten, mit frei wählbaren Werthaltungen ohne Verpflichtung, da Normen nicht abgeleitet oder hierarchisch geordnet, sondern jeweils individuell verfügt und eingesetzt werden – was gerade der Sinn des demokratischen Leitbegriffs wäre. Diesem Synkretismus der Werte und Religionen entspricht auch ein Synkretismus des Wissens und Denkens – alles ist mit allem kombinierbar und bedeutet nichts, jedenfalls nichts außer seiner eigenen unmittelbaren Verwertbarkeit.

j.

Kondylis nennt die bürgerliche Denk- und Lebensform zeitbestimmt, nämlich evolutionistisch und fortschrittsoptimistisch. Es ist diese Haltung, die andere Völker und Kulturen als primitive Entwicklungsstufe bezeichnet, von Pizarro bis zur Sklavenpolitik der Südstaaten noch vor einigen Jahrzehnten. Der massendemokratische Hedonismus sei dagegen raumorientiert. Statt einem kalkulierten Fortschritt käme es nunmehr zur permanenten Wachstumsforderung unter Ignoranz und Missachtung sowohl der Vergangenheit wie der Zukunft. Es ist nun diese Haltung, die Raubbau und Verwüstung unseres Planeten rechtfertigt mit der Erwartung, künftige Generationen würden die jetzt erzeugten Probleme lösen. Gleiches lässt sich von der Nukleartechnik sagen, gleich ob für zivile oder militärische Zwecke, gleiches von synthetischen Nahrungsmitteln, gleiches von der beschleunigten Lebensweise unter immer synthetischeren Umständen. Nachbürgerliche Lebensweise ist per se ein Leben auf Kredit, ohne Maß für das Leistbare, gleichgültig, ob gedeckt oder nicht.

An Romanen zeigt Kondylis das Schwinden der Handlung, denn eine Geschichte zu erzählen wird allmählich unmöglich. Es gibt einerseits eine weitschweifende Subjektivität, die sich in lauter Reflexionen ergeht, und andererseits Taten, die wie Ereignisse plötzlich dastehen. Man sieht leicht, dass Musil selbst ein gutes Beispiel für diesen Wandel in der Literatur abgibt. In der Frage des Zeitablaufs erscheint er zunächst klassisch, in der Handlungsarmut und dem Reflexionsreichtum dagegen sehr modern, besonders in dem beinahe lyrischen Sprachausdruck und den vielen Experimenten und Wortschöpfungen. Aber selbst die epische Zeitform steht vor der Auflösung, da es so gut wie keine (geplante und entwickelte) Handlung gibt, dafür aber die Parole zur Tat.

Die massendemokratische Lebensform sei nach Kondylis nunmehr am Raum orientiert. Wir denken an Weltkriege und Globalisierung, die moderne Form des Kolonialismus. Kondylis spricht von der Verräumlichung der menschlichen Psyche oder der neuen Musikschöpfungen, die sich nicht mehr vorwiegend an linearen Abfolgen orientieren. Die völlige Auflösung des Substanzdenkens zeigt sich in der Rückführung von Werten und Normen auf Herrschaftsinteressen. Statt einer Wahrheit existieren nur Konventionen, die sich fortlaufend ändern. An die Stelle der bürgerlichen Vorstellung eines harmonischen Ganzen aus Teilen und Proportionen ist nun die Struktur getreten, die Materie selbst wird aufgelöst in Funktionsfelder, die alltäglichen Erfahrungen von Raum, Zeit und Kausalität werden abstrahiert, aber auch das physikalische Weltbild selbst wird als Fiktion betrachtet mit einem gewissen, vorübergehenden Erklärungswert.

DRITTES FRAGMENT:
KAPITEL 116: DIE BEIDEN BÄUME DES LEBENS UND DIE
FORDERUNG EINES GENERALSEKRETARIATS DER GENAUIGKEIT UND SEELE
S. 589-600
k.

Um nun endlich zum Roman zurückzukehren, nämlich zum dritten Textfragment, so ist nun wohl bereits einiges Licht auf die Parole der Tat gefallen. Eine Tat wird gefordert, etwas soll geschehen, ohne dass ein bestimmtes Ziel, Sinn oder Absicht auszumachen sind. Also eine Tat, keine Handlung. Um diese fiktive Tat kreist die ganze Parallelaktion. Es ist wie ein Forschungslabor zur Herstellung eines neuen Stoffes, nämlich der Selbsterschaffung Kakaniens, der multiethnischen Nation, der geistigen Substanz. Pate des Experiments ist Graf Leinsdorf, der Druck auf die Bürgerlichen in seiner Runde macht. Zwischen ihm und Ulrich, dem Bürgerschreck, kommt es zu unerwartetem Einverständnis. Die Erzeugung der Seele in der Fabrik, das kommt dem Landadeligen verständlich vor, wenn schon alles von Grund und Boden gelöst ist. Und gerade in diese Richtung ist auch Ulrich geführt worden in seiner geheimen und geheimnisvollen Vision von den beiden Bäumen inmitten des Gesprächskreises im Salon.

Wenn unter Gewalt, nach den tastenden Umschreibungen und Erklärungen, soviel wie die rücksichtslose Existenzform des Lebens auf ungedeckten Kredit hin verstanden werden darf, und wenn dafür der weniger lyrische Ersatzbegriff Zynismus erlaubt ist, und der Erzähler führt selbst die Grausamkeit des Mathematikers an, so lässt das Bild der Liebe eher an eine unbekannte Weise innerer Zusammengehörigkeit denken, eine dem Synthetischen nicht zugängliche Form von Identität, die nicht herstellbar ist, sondern sich nur von selbst ereignen kann.
Auffällig ist an dem Bild sogleich, dass eine Vision ja ein Widerfahrnis ist, etwas Ungeplantes und Unverfügbares, und damit sofort im Gegensatz zu Ulrichs angriffiger Haltung, die ja im Baum des Tages dargestellt wird. Und auch der Inhalt des Bildes zeigt ein passives Geschehen: Ulrichs Leben wächst in zwei Bäumen, die einander gegenüber stehen und sehr unterschiedlich sind, aber polar zusammengehören. Es gibt nichts zu entscheiden und nichts zu tun. Alles Kämpfen und Forschen erscheint umgekehrt wie ein ruhiger, unbeirrbarer Vorgang des Wachsens. Und was kann dieses etwas bizarre Bild bedeuten? Nun, im Paradies stehen zwei Bäume, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis. Da die Geschichte sich um den Baum der Erkenntnis und seine Früchte dreht, ist der andere Baum viel weniger prominent. Der Baum des harten, genauen und berechnenden Umgangs mit der Welt, dieser Baum des Kalküls, wird dem Baum der Erkenntnis entsprechen, dessen Früchte ja zum Verlust von Heimat und Einheit geführt haben. Der andere, schattenhafte Baum steht für die gleitende Logik der Seele, also für ein anderes Denken und Leben, und für Leben überhaupt. Ulrich sieht hier etwas gegenüberstehen, was zusammengehört. Damit ist seine Geschichtsdeutung, anders als bei Kondylis, nicht das zweier Epochen, die aufeinander folgen. Sondern das Existieren ereignet sich in zwei verschiedenen Weisen, die aufeinander bezogen sind: Glaube und Erkenntnis.

l.

Die gleitende Logik der Seele ist eine im Menschen verborgene Lebensweise, die der kalkulierenden und planenden Verwirklichung widersteht. Ulrich sieht sie verbunden mit seinen großen Ahnungen von Liebe und Heimat, Ursprünglichkeit und Ganzheit, Vertrauen und Hingabe. Als vom ontologischen Vorbehalt Kakaniens weiter oben die Rede war, ist bereits Paulus zu Wort gekommen. Ich möchte nun nochmals auf seinen ersten Korintherbrief zurückkommen, und auf seine Besprechung der Geistesgaben, ab dem 12. Kapitel. Es geht zunächst um eine Aufzählung und vorläufige Bewertung, indem die einzelnen Gaben als aufeinander verwiesen gezeigt werden. Von den aufgezählten neun Geistesgaben sind die ersten beiden, Weisheit und Erkenntnis zu vermitteln, in der Nähe des Baumes der Erkenntnis, die anderen könnten eher dem Baum des Lebens zugeordnet werden. Bei der Aufzählung des Mannigfaltigen geht es aber darum, alles aus dem einen Geist stammend zu sehen. Darauf folgt das Gleichnis der Gemeindegaben als Glieder eines Leibes, die aufeinander verwiesen sind. Damit kommt der Argumentationsgang scheinbar zum Ziel: verschiedene Begabungen dienen dazu, eine Gemeinde in Eintracht aufzubauen – das Gegenüberliegende soll der Einheit und dem Wachstum dienen.
Es mündet aber diese Argumentation in das Hohelied der Liebe: prophetische Rede, Erkenntnis, Glaubenskraft oder Wohltätigkeit sind für sich gesehen noch gar nichts. Erst die Liebe gibt ihnen ihre Bedeutung. Alle diese Tätigkeiten sind begrenzt und laufen auf ein Ende zu. Was sie schließlich zum Verschwinden bringen wird, ist die Erscheinung des teleion, des Vollendeten – damit ist die Ankunft des Messianischen gemeint. Bis dahin ist Erkenntnis nur Stückwerk – ex merous – wie durch einen Spiegel gesehen, dann aber, in der Erscheinung, oder im Zuge der Erscheinung des Messianischen, ist es ein Schauen von Angesicht zu Angesicht – ein Geschautsein und Erkanntsein ebenso wie ein Erkennen. Dieses Ereignis des Messianischen, von dem Paulus spricht, hat seine Eigenart im Personal-Dialogischen: Nicht nur Erkennen, um das Erkannte vor sich zu haben und über es verfügen zu können – das drückt der Baum der Erkenntnis aus, oder bei Ulrich der erste, stärkere Baum der Gewalt. Sondern zumal Erkennen und Erkanntsein, also selbst mit der eigenen Person betroffen sein, nicht nur für die Folgen des Erkennens, sondern vom Erkenntnisgeschehen selbst betroffen, also miterkannt. Das erkennende Gegenüber wird nicht genannt. Prosopon pros prosopon, von Angesicht zu Angesicht. Das Erblicken im messianischen Ereignis ist ein Erblicktwerden. das Reden ein Angesprochensein, das Schenken ein Beschenktsein usw. Dieses Prosopon pros prosopon ist kein Gegenüber zweier Subjekte, die ihre Zuwendungen kalkulieren würden. Prosopon ist Angesicht – also die Weise der Zuwendung. Dieser Begriff wird im 4. Jahrhundert verwendet, um das Zueinander zwischen Jahwe und dem Messias-Menschensohn auszudrücken: Vater-Sohn, 1. Person – 2. Person. Dasselbe Zueinander, dasselbe Anschauen/Angeschautwerden nimmt Paulus als Ereignis des Messianischen.

Dieses messianische Ereignis sieht Paulus in drei menschlichen Vollzügen stattfinden: in Glaube, Hoffnung und Liebe. Es sind also nicht besondere Tätigkeiten, und es hat keinen Sinn, sie einzumahnen oder zu fordern. Denn Glauben ist ja ein Selbst-Geglaubtwerden, Hoffen ein Selbst-Erhofftwerden, und Lieben ein Selbst-Geliebtwerden, nicht hintereinander, nicht zuerst du, dann ich, nicht zuerst Glaubwürdigsein, dann Geglaubtwerden usw. sondern beides als ein umgreifendes Ereignis. Dieses Ereignis ist das Messianische. Es ist nicht herstellbar, kein Ergebnis irgendeines Planes oder Bemühens, es existiert nur als Geschenk, es wird gegeben. Es gibt Liebe. Weiter nichts.

m.

Paulus sieht im Von-Angesicht-zu-Angesicht die Gemeinde wachsen. Im liebenden, vertrauenden und hoffenden Zueinander der Gläubigen, in dem sich zugleich das messianische Ereignis realisiert. Die Liebe der Menschen, die gläubige Gemeinde ist selbst der Ort des Messianischen. Nicht ihr Ergebnis, diese oder jene Liebestat oder Glaubenshandlung, sondern sie selbst. – Außerhalb des Messianischen aber sind diese Ereignisse rätselhaft – ainigma: undeutlich, weil indirekt. Durch einen Spiegel gesehen nämlich. Außerhalb des Messianischen sieht der Mensch nur sich selbst. Im andern, im Glaubensbruder, im Vorgang sieht er jeweils das, was er selbst hineingelegt hat. Als Bestätigung, als Kritik oder als Aufgabe.

Und nun zurück zu Ulrichs Vorstellung von den beiden Bäumen seines Lebens. Es geht nicht darum, dass es zwei sind statt einem. Es geht nicht darum, diese Spannung zwischen ihnen aufzulösen, indem sie zusammengebracht werden oder einer der beiden eliminiert. Gerade in der Spannung liegt ja das Entscheidende, sie ist ja das, was sein Leben wachsen lässt, als innere Gewissheit des Gegenüber, das ein Zueinander ist, ein Füreinander, ein einander Beantworten. Wüsste Ulrich nicht im Grunde von seinem eigenen Auf-etwas-aus-Sein, das nicht und nicht zur Ruhe kommen will, er hätte sich schon längst abgekoppelt und wäre zur Ruhe gekommen, in irgendeinem Brotberuf und einem Familienidyll. So aber gehört sein Aus-Sein zu seinem Wesen.

n.

Bevor wir uns nun dem Ende des dritten Fragments zuwenden können, nocheinmal zurück zum Korintherbrief, zu einer Stelle, die bereits genannt wurde. Die Zeit ist zusammengedrängt, hat Paulus erklärt, und damit ein Leben im Messianischen begründet, das ein Als-Ob ist. Kairos synestalmenos, die Zeit des Zwischen, nämlich zwischen der gewöhnlichen, chronologischen Zeit, und dem Ende der Zeit, also der Ewigkeit. Es geht hier nicht um das Ende selbst, das Eschaton. Das Messianische ist nicht das Ende, sondern das zusammengedrängte Zwischen. Dieses Zwischen ist das Geliebtsein/Lieben bzw. Lieben/Geliebtsein, also das Zumal des Liebens, des Hoffens und des Glaubens. In diesem Zwischen findet das Messianische statt.

Die Zeit, die uns bleibt, sagt in seinem großartigen Paulus-Kommentar Giorgio Agamben (2000), ist die Zeit, die wir haben. Daraus folgt das Frauen Haben als ob nicht Haben, Weinen als ob Nichtweinen usw. – Agamben identifiziert dieses hos me als einen Vorgang wie das Segeleinziehen oder die Kontraktion eines Tieres vor dem Sprung. (81) Die Parusie, die häufig als Naherwartung der Wiederkunft Christi übersetzt wird, bedeutet nach Agamben einfach Anwesenheit – wörtlich para ousia: Neben-Sein. „Die messianische Anwesenheit ist neben sich selbst, weil sie, ohne je mit einem chronologischen Zeitpunkt zusammenzufallen oder ihm hinzugefügt zu werden, ihn gleichwohl ergreift und ihn im Innern zur Vollendung bringt.“ (84) Es ist dasselbe Zeitverständnis, das mit dem Sabbat gemeint ist, dem Tag der Ruhe, der heiligen Zeit, der Zeit der Vollendung und der Unterbrechung. Die Ereignisse um Mose führt Paulus figürlich (typologisch) als messianisches Ereignis an, für uns, „in denen sich die Enden der Zeiten gegenüberstehen – ta tele ton aionon katenteken“ (87) – antao heißt entgegenkommen, begegnen, teilhaftig werden. (EH: uns, die das Ende der Zeiten erreicht hat) Von Angesicht zu Angesicht, betont Agamben. Dieses Gegenüberstehen der Enden der Zeiten, „dieses Angesicht zu Angesicht, diese Kontraktion ist die messianische Zeit.“ (88) In ihr gewinnt die Vergangenheit (das Abgeschlossene) wieder Aktualität, während die Gegenwart auf andere Weise abgeschlossen wird. (89)

o.

Wie aus der Zeitlosigkeit tritt Ulrich in die Zeit zurück und macht in der verdutzten Runde der Parallelaktion den Vorschlag vom Erdensekretariat für Genauigkeit und Seele. Es geht um eine Abschließung der Zeiten. Sie soll für das Jahr 1918 angesetzt werden, in welchem ja die Parallelaktion das österreichische Jahr vorbereiten soll, da Kaiser Franz-Josef das siebzigste Thronjubiläum begehen soll. Bis dahin – 1913 bis 1918 – also verdichtete Zeit, Zeit der Abrechnung. Die geistige Generalinventur soll den Geist Kakaniens zur Vollendung bringen und zum Messianischen hinwenden, bzw. sein Abgewendetsein beenden und sein Hingewendetsein bestätigen. Jüngster Tag wird dieser Chronos genannt, er soll die Spannung auflösen und das Gegenüber der gegenläufigen Zeiten beenden. Die messianische Anwesenheit, die Parusia, das Neben-sich-Stehen, das Als-ob-nicht, soll aufgelöst werden und mit dem Chronos zusammenfallen.
Im Roman werden die darauffolgenden Ereignisse tatsächlich als verdichtete Zeit erzählt. Dramatische Entwicklungen bei zwei Paaren, mehrere Annäherungen an Ulrich, eine Erhebung Kakaniens gegen die vermuteten Pläne der Parallelaktion, ein nächtlicher Heimweg und eine alles in neues Licht setzende Veränderung kommen in den folgenden hundert Seiten auf Ulrich zu, ohne dass er irgendetwas davon ahnt.
Aber auch die geschichtliche Entwicklung, die Autor und Leser kennen, zeigt eine verdichtete Zeit, zeigt Aufbäumen und Untergang Kakaniens, dem endgültig der Kredit entzogen wurde und das 1918 zu existieren aufhört.

Wenn man Ulrichs Vorschlag ernst nehmen will, dann läuft er auf ein neuerliches In-Kraft-Setzen des credo ut intelligam hinaus. Das Glauben wäre eine Übereignung an das Messianische, ein neuer Bund also, ein Glauben, Hoffen und Lieben, als ob man selbst geglaubt, erhofft und geliebt wäre, also nicht mehr ein Leben-als-ob-nicht, wie Paulus sagte, sondern ein Glauben – Hoffen – Lieben als ob. Geht das?

p.

Vielleicht hat das 20. Jahrhundert tatsächlich einen solchen Versuch gemacht. Ich wäre geneigt, mit Kondylis das Bürgertum, welches sich das Christentum angeeignet hatte, erneut einen verspäteten Herrschaftsversuch unternehmen zu sehen, nunmehr bereits kein Stand mehr, sondern Mittelklasse, und mittels der sozialen Formation der Volkskirche nochmals anschließen wollend an der klaren Eindeutigkeit der bürgerlichen Ordnung der Familie, der Gemeinde, der Bildung, des Wohlstands und Fortschritts, und im Schutz dieses Nestes zugleich seine völlige Abschaffung vorbereiten zu sehen, während in relativ kurzer Zeit die hedonistische Konsumgesellschaft hervorbricht und im selben Aufbäumen zugleich Bürgertum und seine Werte, wie auch das bürgerlich gewordene Christentum an die Wand drückt. Bezeichnenderweise gibt es nun zwischen den drei entstandenen Positionen, den Bürgerlich-Liberalen, den Messianisch-Christlichen und den unbeirrbar Konsumorientierten, Flügelkämpfe und Konversionen, besonders zwischen den ersten beiden. Dabei wird das Christliche konsequent auf das Institutionelle reduziert, und die bürgerlich verkrusteten Christen versuchen, sich ins Juristische zu retten. Konsumorientierte interpretieren das Christliche als eine bestimmte Erlebnisqualität, die dann und wann in Anspruch genommen wird. Die konsumorientierten Christen antworten mit Events und Populismus. Und das Messianisch-Christliche? Gibt es das schon?

Die Parusie würde sich in besonderer Präsenz ankündigen: in menschlicher Aufmerksamkeit, im Interesse am Menschen um seiner selbst willen, im Großdenken vom Menschen. Aber auch in der Herausarbeitung der Präsenz der Dinge, der Artefakte, der Natur. Deren eigener Anwesenheit. Eine messianische Kirche würde sich wie jede ernsthafte Kirche um die Armen und Bedürftigen kümmern – aber sie hätte viel weniger Sorgen um die Rechtmäßigkeit und institutionelle Verankerung als bürgerliche Kirchen. Sie würde sich sehr leicht mit anderen Dienern der Präsenz verbünden, mit Künstlern etwa, mit Philosophen, mit Kämpfern für die Menschenwürde. Und eine messianische Kirche würde die Entscheidung suchen – nun, sie würde überhaupt von der Entscheidung leben. Von der Entscheidung Gottes, welche wir Gnade nennen, Kredit geben. Und der des Menschen, der den Kredit annimmt und seine Talente vermehrt.

Mittwoch, 22. Dezember 2010

Weitere Texte zur Rolle des Bürgertums

Ein literarisches Finale Tremendum gibt Michael Scharang, der verlässliche Linke, welcher das Zeug zum Apokalyptiker hätte, fehlte ihm nicht a priori jegliche Metaphysik. Gerade darin erweist er sich aber als typischer Vertreter des Bürgertums des 19. Jahrhunderts, so wie Karl Marx und die Industriekapitalisten. Eine Kapitalismuskritik aus bürgerlicher Sicht ist soetwas wie eine Kritik am Antisemismus aus faschistischer Sicht oder eine Kritik am Wettbewerb aus der Sicht des Leistungssports.

Aber seine Benennung des Finanzkrieges als zeitgemäße Gesellschaftsform, mitsamt seinen Protagonisten und Ritualen, ist zutreffend. Das Duckmäusertum, der Meinungsterror, und besonders die Abscheulichkeit des Kapitalismus, konsequent das Gemeinschaftswesen auszuhöhlen, um sodann seine Karambolagen von ebendiesem sanieren zu lassen. Pikant vielleicht sein Angriff auf Ö1, dessen Attitüde des letzten Mohikaners der Kultur und Intellektualität immerhin aufreizend ist. Aber mindestens so zutreffend müssten seine Angriffe auf Geschwätzigkeit und Kuschen vor der Macht im Gewand der Weltoffenheit den Printmedien gelten, besonders jenem, dessen mit staatlicher Medienförderung protegierter Autor Scharang eben selber ist.

Hier sein Artikel:
http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/617515/Finale-Raserei?_vl_backlink=/home/spectrum/zeichenderzeit/index.do


Der Gastkommentar von Marcus Franz ist ein wehmütiger Abgesang. So stellt man sich den Herrn Primarius im Lodenmantel vor, wie er seiner Limousine entsteigt und am Gehsteig von iPod-verkabelten Teenagern angerempelt wird - die ihn womöglich an die eigenen Kinder erinnern. Sonderbarer Weise klammert er sich nicht an die Kirche - die fällt ihm gar nicht ein, obwohl er doch in einem kirchlichen Institut arbeitet und sogar Vorstand des Franziskanerinnenspitals ist - sondern nur an die Küche.

http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/619554/Buergerlich-ist-nur-noch-die-Kueche?from=suche.intern.portal (Übrigens hat Franz eine beruhigende Replik von Sibylle Hamann bekommen, die versichert, die bürgerlichen Werte seien nicht ausgestorben. Na denn!)

Vielleicht ist das aber gar kein Unglück, wenn zur Rettung des Bürgerlichen heutzutage nicht mehr die Kirche bemüht wird, wozu sie nämlich jahrhundertelang missbraucht wurde. Da bin ich ganz mit Paul Schulmeister, dem wahrscheinlich letzten kirchlich denkenden (oder Kirche verstehenden) Bürgerlichen dieses Blatts, wenn er die Verschwisterung der Kirche mit der ungerechten Gesellschaft geißelt, und dabei Max Weber, Michel Foucault und Gerhard Lohfink zitiert.

http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/617902/Vom-Kind-in-der-Krippe-dem-Ende-am-Kreuz-und-der-Macht?from=suche.intern.portal

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