a.
DIE ERREGUNGSPARABEL besteht aus zwei Kurven, die spiegelbildlich gegeneinander verlaufen, sich jedoch nicht treffen, sondern in ihrem Scheitelbereich einen bestimmten Raum beschreiben, den zu inszenieren nämlich ihr Zweck ist. Die untere Kurve ist diejenige der Entrüstung. Sie baut sich aus Ereignissen auf, die als Skandale erlebt werden. Dabei entsteht das Ärgernis durch den Übergang von etwas Geheimen im Privatbereich in die Öffentlichkeit. Je aprupter und unvermittelter der Übergang, desto größer die Freude über die Enthüllung. Man sieht deutlich, dass die Art des Übergangs der Gestaltung des Mediums seiner Erscheinung obliegt.
Über die Art der enthüllten Objekte gibt die zweite Kurve Auskunft. Denn die Erregung ist proportional mit der Höhe der gesellschaftlichen Anerkennung des bloßgestellten Subjekts – dessen Erniedrigung die zweite Kurve beschreibt. Der Absturz in der gesellschaftlichen Anerkennung entspricht also dem Steigen der öffentlichen Erregung. So eignet sich für eine breitenwirksame Skandalisierung schwerlich ein biederer Kleinbürger, der Steuer hinterzogen hat – da würde man sich eher noch solidarisieren – sehr wohl aber ein ehemaliger Finanzminister. Der emotionale Wert der Berichterstattung ist natürlich außerordentlich hoch, wenn es gelingt, O-Ton-Bänder zu präsentieren, sodass die Ungeniertheit und Selbstgefälligkeit den Sprecher sprichwörtlich nackt überführt. Die Nacktheit sowie die Fallhöhe waren auch beim Missbrauchsskandal die emotionale Rendite der Nachrichtenkonsumenten.
Neben der vertikalen Zuordnung der Kurvenelemente ist auch der schrittweise Aufbau der Erregung zu beachten. Niemals wird das gesamte Ereignis mit einem Schlag präsentiert, sondern immer wird zuerst ein nebensächliches, fern liegendes Faktum gezeigt, das erst aufmerksam machen soll. Dann werden, zuerst in längeren Abständen, in enger werdenden Kreisen schließlich die Ereignisse immer bedeutsamer platziert, mit immer höherem Risiko des Vorgeführten, bis zum Höhepunkt der Aufmerksamkeit, die dem Tiefpunkt seiner gesellschaftlichen Achtung entspricht.
Das Ziel der doppelten Erregungsparabel ist die Vorführung des Delinquenten in der zentralen Arena des Kolloseums. Bei den BAWAG-Bankern ist das die Gerichtsverhandlung, bei Waldheim der Bundespräsidentschaftswahlkampf, bei Bush war es der Irakkrieg, bei der Kirche die Klosterschulen. An den Vorgäöngen in der Arena kann das Publikum gewöhnlich nicht selbst teilnehmen, nur von den Rängen her beobachten und Zensuren geben. Umso wichtiger sind eindeutige Zuordnungen der Kampfparteien in Freund/Feind, sympathisch/unsympathisch oder Opfer/Täter.
b.
Weil das Tribunal im Wesen eine Vorführung ist, bemisst sich seine Bedeutung am Schauwert. Ganz oben auf der Wirkungsskala stehen Sexualität, Angst und Tod, gefolgt von Katastrophen, Terror und Krieg. Hunger, soziale Benachteiligung oder gesellschaftliches Engagement haben wenig Chance auf Schlagzeilen, da in der gesellschaftlichen Achtung niedrig Stehende nicht gestürzt werden können. Dasselbe gilt für Länder und Kontinente, die erst als Urlaubsdestinationen oder Firmenniederlassungen interessant werden. Eine Ausnahme wäre ein vermeintlicher Durchschnittsbürger, der seine oder fremde Kinder jahrelang in Kellerverliese sperrt und missbraucht, wegen der ans Licht gezerrten absonderlichen Intimität, oder ein Neurotiker, der durch Briefbombenterror die Nation in Atem halten kann und mit der Bayuwarischen Befreiungsarmee für Dramatik und Erlebnisdichte sorgt.
Die Vorführung besteht darin, das jeweilige Ereignis der Sexualität, der Lüge, des Terrors hinter einer steigenden Erwartung aufzubauen. Neben der wachsenden Empörung und dem abnehmenden Ansehen ist nämlich die Zeit der dritte Faktor des Tribunals. Ein Flugzeugabsturz in zugänglichem Gebiet löst wenig Erregung aus, sofern nicht Bekannte unter den Verunglückten sind. Ganz anders dagegen eine Flugzeugentführung, die tagelang Spannung erregt, indem nach und nach die Identität der Entführer bekannt wird, ihre Forderungen, die Lage der Geiseln, die näheren Umstände – aber dennoch immer genug Ungewissheit bleibt über die weiteren Pläne der Entführer und die Reaktionen von Regierung und Polizei. Eine Flut- oder Erdbebenkatastrophe erzeugt dann Erregung beim Betrachter, wenn sich ihre Darstellung über Tage oder Wochen hinziehen lässt, und dabei immer neue, verborgene Tatsachen ans Licht kommen, durch die sich eine Verschuldensfrage aufbauen lässt: die Regierung, die Baubehörden, der Staudamm, der Tourismus. Der emotionale Schauwert kann nicht allein in den Bildern von Leichen und Verletzten, Trümmern und Schlamm liegen, sondern es muss eine Variante der Betroffenheit des Betrachters gefunden werden, sei es durch den Urlaubsort, durch heimische Helferteams oder durch die auchb hierzulande tätige Ölfirma.
c.
Aber um es genauer einzugrenzen: Von Tribunal kann erst dann gesprochen werden, wenn eine bewusste Bildgestaltung vorliegt, eine Inszenierung öffentlicher Erregung. Und deshalb laufen die Kurven der Erregungsparabel auf eine Bühne zu. Dort wird der Endkampf stattfinden. Im besten Fall ist die Bühne eine Gerichtsverhandlung mit benannten und bebilderten Angeklagten und einem Richter, sowie einem finalen Schuldspruch. Die Bedeutung des Zeitfaktors ist dabei übrigens auch im jahrelangen Nachspiel zu beachten, wenn noch die Haftbedingungen oder spätere Einsprüche bereitwillig in der Aufmerksamkeit platziert werden. Der Vorrang der Emotion zeigt sich hier auch darin, dass sehr leicht das Feindbild kippen und plötzlich der Richter am Pranger stehen kann. Der Schauwert einer brennenden Ölbohrinsel ist nur einige Tage groß. Später muss mit Graphiken und Rettungsversuchen nachgebessert werden, und schließlich mit der Fokussierung auf den Manager des Ölkonzerns, der auf die Wucht des Blicks mit willkommenen Ungeschicklichkeiten reagiert, in denen er sich verheddert. Die abklingende Kurve wird von Gewinneinbrüchen des Konzerns gebildet, sowie allfälligen vorbeugenden Gesetzesmaßnahmen und Umfragewerten der beteiligten Politiker.
Ganz ähnlich verlief die Erregungsparabel bei der Afrikareise des Papstes. Die kolportierten Aussagen über die Verwendung von Kondomen waren kaum als Fakten zu begreifen, fielen sie doch im Flugzeug bei der Anreise und bestanden in der Abwehr der fragwürdigen Journalistenbehauptung, mit Verhütungsmitteln könne eine Epidemie geheilt werden. Eigentlich durchkreuzte diese Aussage die Inszenierung öffentlicher Erregung, weil sie bereits am Anfang fiel und sich kaum mehr steigern ließ, außer durch unablässige Wiederholung und Befragung Empörter. Mein Verdacht geht eher in die Richtung, diese Berichterstattung sollte von der mangelnden Präsenz und Kompetenz der Berichterstatter in den bereisten afrikanischen Ländern ablenken. Jedenfalls fand die Parabel weltweit Resonanz und überdeckte weitgehend die Anliegen dieser Pastoralreise, und zwar offensichtlich am meisten in Mitteleuropa, wo das Meinungsbild bereits das Faktum der Reise in den Schatten stellte.
d.
Es kann darin bereits eine kämpferische Abwehr der Kolonialismuskritik des Papstes gesehen werden, die ja gerade am Kondom festzumachen ist, diesem gerade in Europa so wenig geliebten Lusttöter, und wenn die sozialistische spanische Regierung sogleich ein paar Tonnen dieser Gummiwaren nach Afrika zu senden sich bemüßigte, so bestätigte sie gerade die mit feiner Klinge vorgetragene Kritik an der westlichen Herablassung. Die Erregungsparabel war also diesmal eine gesuchte Aktion, um dem Kirchenoberhaupt in die Parade zu fahren und seine sorgfältig aufgebaute Kritik des kapitalistischen Menschenbildes nachhaltig zum Verstummen zu bringen. Und so hat man stattdessen Afrika gänzlich ungestört ins Bild setzen können bei der Fußballweltmeisterschaft, als Geographie und Natur, Despoten und Kriminalität vorgeführt wurden und zuletzt in herablassende Belehrungen umgemünzt wurden. So ließ sich einmal mehr die westliche Projektion des Exotischen in Szene setzen, wie das auch gerade bei der Berichterstattung der politischen Umbrüche in Nordafrika versucht wird, ohne dass es so recht zu gelingen scheint.
Allerdings folgen auch die Geschehnisse in Tunis und Kairo genau der Erregungsparabel, indem die Raumvektoren sehr bald den Schuldigen sowie den Schauplatz definieren, auf dem er vorgeführt wird. Im Hintergrund werden weitere Tribunale in Damaskus, Amman und Sana vorbereitet, sowie zaghaft auch in Jerusalem. Wiederum hat sich der Westen die Position des Zuschauers auf der Bühne reserviert, während in der Arena die arabischen Despoten erscheinen. Nebenbei bemerkt, machen jene genau dasselbe mit der westlichen Politik, vielleicht etwas ungeschönter, wenn Gaddafi die Lockerbie-Attentäter mit einem Staatsempfang ehrt und die Schmiergeldzahlungen von BP auf allen arabischen Sendern zu sehen sind. Schon Khomeini hat die amerikanischen Geiseln benützt, und Carter schenkte ihm noch einen gescheiterten Befreiungsversuch. Wir erinnern uns auch an die gescheiterten Geiselbefreiungen im Libanon und im Gazastreifen, als jeweils die israelische Armee vorgeführt wurde. Man könnte die Eskalationskunst in der arabischen Mentalität viel mehr beheimatet sehen als in der westlichen.
Man sollte vorsichtig sein, die wie immer medial dargestellte Sachlage als allein von den Fakten geschaffen anzusehen. Was sind die Fakten bei einem Volksaufstand in Kairo? Die Sprüche auf den Transparenten? Das, was eine handvoll Befragter ins Mikrophon sagt?
Die Befindlichkeit der Journalisten oder der Touristen? Oder die Zahl der Toten und Verletzten, die sonderbarer Weise nicht nachgeprüft wird? Oder der Sachschaden durch Plünderungen. Eine Revolution ist ein selten deutliches Beispiel für den Überhang von Meinung über das Faktische, weil es ja um Meinungsbildung der Masse geht, sowie dann um deren Durchsetzung. Lesen Sie nur, wie Karim El Gawhary seine Position in der ägyptischen Revolution deklariert, die alles andere als eine neutrale und sachliche Beobachteraufgabe ist:
http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/politik/aegypten/2667518/furcht-aber-sorge.story. Inzwischen werden bereits die möglichen Szenarien des Machtwechsels medial durchgespielt, obwohl das noch immer Wunschdenken ist, das eben, häufig genug verbreitet, irgendwann tatsächlich Wirklichkeit schafft.
Auffällig dabei, wie sehr unsere Medien die Rolle von Internet und Mobiltelefon hochloben, während doch beide gesperrt sind. Anscheinend ist Mundpropaganda für die Massenmedien ein so subversives Mittel, dass sie es am liebsten zensurieren wollen.
e.
Das sicherste Mittel, ein mediales Ereignis größerer Tragweite als Erregungsparabel zu identifizieren, also als inszenierten Vorgang zur Demontage einer hierarchisch gestützten Institution, ist die bestimmte Erwartung, die den Vorgang von Anfang an begleitet. Die Bloßstellung des Verteidigungsministers ist von Anfang an beabsichtigt, mit seiner Präpotenz gibt der ehemalige Zivildiener ein gutes Opfer, und seit er in die Arena gestoßen ist, macht er einen Fehler nach dem andern. Eigentlich müsste die Abschaffung der Wehrpflicht ein massentauglichers Ziel sein in der massendemokratischen Konsumgesellschaft, aber die Medien verweigern, sich von der Politik hierfür instrumentalisieren zu lassen, und drehen den Spieß um. Mit der Erregungsparabel haben die Medien die größere Waffe als die Politik sie hat. Die zugrunde liegende Erwartung: Der rote Zivilminister wird am schwarzen Militär scheitern. Sobald sich das Übergewicht abzeichnet, wird der Minister fallen gelassen mitsamt seiner noch so populistischen Forderung. Genau darin liegt die Kunst des Wellenreitens, frühzeitig eine Entwicklung, ein Kräfteverhältnis im Entstehen zu erkennen und auf die Welle hinaufzukommen, um danach möglichst lang oben zu bleiben. Die schwarze Hochschulministerin, obwohl fotogen, wird an den Strukturen scheitern. Die rote Bildungsministerin wird an den Lehrergewerkschaften scheitern. Die schwarze Justizministerin und ihre Gegner, die Stellung beziehen. Die Staatsreform und die Landeshauptleute. Überall werden Kräfte gemessen und Klingen gekreuzt, und die öffentliche Meinung ist stets beim vermeintlich Stärkeren. Dem Schwächeren hält man sein Scheitern vor. Die Schaukämpfe sind ritualisiert. Lohnrunden und Streikbeschlüsse, Rechtssprechungen und Wahrkampfreden wecken bereits die Erwartung weiterer Ereignisse. Die Erwartung ist bereits an der Fragestellung des Interviewers erkennbar: „Was sagen Sie als praktizierender Katholik zum Missbrauchsskandal?“ „Halten Sie den Zölibat noch für zeitgemäß?“ Barbara Karlich lädt einen praktizierenden Priester ein, der den Zölibat lebt und verteidigt, und stellt ihn sechs Gegnern: einem liberalen Priester, der den Zölibat vom Amt trennen und der Entscheidung einzelner überlassen will, einem Priester ohne Amt, einem nicht Priester gewordenen Theologen, einem Pensionisten sowie einem evangelischen Pfarrerehepaar. Dazu einem Publikum, das die von vornherein festgelegte Erwartung verstärkt und durch Applaus oder missbilligende Blicke unterstützt, jeweils in Großaufnahme. Bevor nur ein Wort fällt, steht der Ausgang fest. Die feststehende Erwartung ist wie eine schiefe Ebene, auf der der Vorgeführte von unten nach oben spielen muss und keine Chance hat. Ein Gladiatorenkampf zwischen ungleichen Gegnern. Durch diese Vorsortierung sichert sich der Meinungsführer die Vorherrschaft am Wellenberg.
f.
Zuletzt noch eine Gegenprobe. Das Tribunal wurde als Machtereignis beschrieben, das mittels der Erregungsparabel seine Meinungsherrschaft am Wellenberg behauptet. Weitere Machtereignisse, die noch erläutert werden müssen, sind die Digitalisierung von Ereignissen, das Prozessdenken, das Assoziationsdenken, die Ikonenverehrung, die dem Tribunal gegenläufig ist, und die Emotionalisierung. Die Gegenprobe besteht nun darin, ein Ereignis aufzuspüren, das diesen Kriterien nicht genügt. Ich nehme als Beispiel die dürre Meldung vom 3.1.2011 im Mittagsjournal über die Ergebnisse einer Umfrage der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft über das Vertrauen der Österreicher in Institutionen:
http://oe1.orf.at/artikel/266131
Vermeintlich ist von staatlichen Institutionen die Rede, aber es geht auch um die Kirche. Wenig erstaunlich ist die großteils geringe Bewertung der meisten Institutionen, also Politik, Gewerkschaft, Justiz, Polizei, Medien, Parteien, und eben der Kirche. Der Bericht nennt nur für die Politik (3%) und für den Bundespräsident (24%) Zahlen, für die Kirche wird ein angeblich geringer Wert als „wenig erstaunlich“ bezeichnet, der geringe Wert für Medien aber mit keinem Wort erläutert. Berücksichtigt man nun oben ausgeführte Emotionalisierungsstrategien, so gibt dieser Bericht wenig her. Weder Helden noch Bösewichter, spannungsreiche Entwicklungen noch Empörungen lassen sich daraus gewinnen. Nur eines läge auf der Hand: die Digitalisierung, also die Übersetzung von Tatsachen in Zahlenwerte, am besten in Rankings. Aber warum wurde hier kein Ranking erstellt? Etwa, weil die Medien so weit hinten lägen? Jedenfalls ist augenscheinlich, dass sich ein solcher Bericht wenig zum Surfen auf der Meinungswelle eignet. Dazu muss gesagt werden, dass die genannten Zahlen völlig jenen des Magazins Reader´s Digest widersprechen, die für März 2010 etwa zehnmal so hohe Beliebtheitswerte ausweisen, und dazu noch wesentlich differenzierter. Tatsache: Man hat den Bericht schnell wieder verschwinden lassen.
weichensteller - 5. Feb, 22:45
SICHER, MANCHE BENANNTEN DIE UNGEHEUERLICHKEIT DER VORGÄNGE, ABER AUCH DIE KONNTEN SIE IN IHRER DIMENSION NICHT FASSEN. DIE FINANZKRISE, DIE SPRACHLOSIGKEIT – UND IHRE ÜBERWINDUNG IN DER LITERATUR.
Elfriede Jelinek hat mir Sprechen beigebracht. So viel ist sicher. Sie hat aber auch einer Reihe anderer Personen und Figuren das Sprechen beigebracht, zum Beispiel den Kleinanlegern und den kapitalen Greisen. Sie können sich jetzt ausdrücken. Endlich. Vorher war da ja nichts Deutliches zu hören. Man hat es nicht verstanden, es war mehr ein Geflüster, ein Sich-Zurufen von Fachvokabeln, Formeln, quer über das permanente Börsenparkett, das sich über alle wirtschaftlichen Verhältnisse zu legen schien. Und jetzt: Eindeutig eine klare Artikulation, das heißt, man kann ihnen folgen! Wenn das auch ein wenig kreisförmig verläuft, aber das ist nur im Sinn der Sprecher. Doch immer noch besser als diese Pseudolinearität ihrer früheren Aussagen.
Seltsamerweise sprechen sie immer zusammen, im Chor, vereint, während unsereins einzeln dasteht. Oder soll ich etwa dem Chor der Kleinanleger beitreten? In diesem Punkt bin ich etwas ratlos. Es gibt keinen Identifikationshaushalt für mich in diesem Stück, der kleine Mann in mir ist aufgebraucht, sage ich jetzt auch schon lauthals, aber man muss mir auch nicht trauen, das heißt, ich selbst muss mir ja nicht unbedingt trauen. Das ist auch etwas, was man aus Jelineks Texten lernen kann. Zeigt sie uns nicht unermüdlich seit mehr als 40 Jahren, wie die Verkleinbürgerlichung unserer westlichen Welt voranschreitet? Und wer steckt hinter dem Kleinanleger anderes als der Kleinbürger?
Darüber ließe sich jetzt streiten, was es aber in jedem Fall noch gibt, ist die Wut, seine Wut über die permanente Enteignung, die er erfährt und die sich mit der Gier, dem Wunsch, da oben mitzuspielen, paart. Diese Wut bleibt nur unter dem Schlagwort „Populismus“ in der Öffentlichkeit stehen, sie hat keinen anderen Anker mehr, sie wird sofort erledigt. In Jelineks Texten darf diese Wut über die Obszönität der Vorgänge einen ganzen Moment lang in Bewegung bleiben, nein, sie darf sich nicht setzen, sie wird permanent gejagt über ebenjenes Börsenparkett, durch die Gerichtssäle, die sich mit Wirtschaftskriminalität zu befassen scheinen und die Annual Meetings windiger Offshorebanken. Und es ist die Wut, auf die wir so heiß sind, jene Punk-Atmosphäre ihrer Texte, die Wut, die wir endlich in Reinkultur spüren wollen, und die Enthüllung der Gewaltverhältnisse, die wir erleben wollen, wir, die Ängstlichen, die Undeutlichen, die Uneindeutigen, die nicht wissen, wer wir noch sein sollen und wer eigentlich dauernd gegen uns arbeitet. Wir haben kein Analyseinstrumentarium mehr, gesellschaftliche Widersprüche erscheinen uns als Schnee von gestern, Klassenverhältnisse erscheinen uns zerfahren, uneindeutig. Uns? Ja, selbst in dieser Beschreibung kassiere ich noch die Interessengegensätze ein, suggeriere ein Wir, das es nicht gibt.
Die Obszönität kenntlich machen
Bleibe ich also lieber bei mir – nehmen wir die subjektive Haltung ein, zugegebenermaßen eine armselige Alternative zum schwammigen Wir –, nach dieser Wut grase ich die Texte ab. Nach der Deutlichkeit der auf Widersprüchlichkeit beruhenden Machtstruktur, die natürlich nicht deutlich daherkommen kann, sondern ambivalent, paradox, ja, unsinnig. Ich, die ich der Generation der Ängstlichen angehöre, derer, die nicht mehr wissen, wo links und rechts ist, oben und unten, die keine Koordinaten für eine Wut haben, sondern immer gleich eingeschüchtert sind. Ich freue mich an der Zurschaustellung, der Kenntlichmachung der Obszönität. Durch Kalauer und Unsinnswitz. Denn nur mit Unsinn lässt sich die Rechtfertigungsstruktur der sogenannten Entscheider darstellen, es ist ihr Privileg, nicht wirklich Rede und Antwort stehen zu müssen. Das ist zumindest mein Eindruck, der aus der öffentlichen Nicht-Besprechung dieser gewaltigen Enteignung resultiert. Ja, man muss es als eine öffentliche Nicht-Besprechung bezeichnen, obwohl alle Medien eine Weile lang von nichts anderem zu sprechen schienen. Aber ihr Sprechen blieb stumm und geschwätzig zugleich und erscheint mir im Rückblick äußerst merkwürdig. Sicher, werden Sie sagen, wen muss es wundern, dass sich die bürgerliche Presse gedreht und gewunden hat, dass die Boulevardpresse auf populistische Ressentiments setzte, also auf Ausweichbewegungen, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu einem pervertierten Aufklärungsunterricht aufbrach, passend zu jener „Nachhilfestunde in Sachen Wirtschaft“, als die der Soziologe Dirk Baecker die Finanzkrise bezeichnet hat, nur, dass die Nachhilfestunde sich im Leeren verläuft, in Sackgassen, in unbrauchbarem Wissen über Begriffe wie „Leerverkäufe“. Man braucht sich nur eine Bundestagsdebatte über den Umgang mit der Finanzkrise anzuhören, um den ganzen Widersinn der Diskussion zu erfahren.
Und wenn sich jetzt Politiker die Köpfe über Basel2 plus und Basel3, über stärkere Bankenregulierungen zerbrechen, scheinen sie keinen Schritt weiterzukommen. Sicher, manche Zeitschriften- und Zeitungsbeiträge benannten auch die Ungeheuerlichkeit der Vorgänge, aber sie konnten sie in ihrer Dimension nicht fassen. Das kann nur die Literatur, da ihr immer mehrere Ebenen zur Verfügung stehen, sie immer mehrere Räume gleichzeitig bewohnt. Schließlich stehen ihr auch die geeigneten Mittel zur Verfügung, die Mittel der Groteske, der Inversion, der wörtlichen Übertragung, gute, alte sprachliche Verfahrensweisen, die den Aufklärungsmodus der Medien verspotten, der ja Teil der ganzen Umverteilungsmaschinerie ist. Es sind ästhetische Mittel, die hier dringend gebraucht werden, denn das Verhältnis von Abstraktion und Konkretion, das für die moderne Literatur so bestimmend ist, ist in diesem Themenfeld äußerst gespannt, die Darstellbarkeiten scheinen sich angesichts der Komplexität und Abstraktion der Verhältnisse zu entziehen.
Die Konkretion scheint immer nur aus heruntergebrochenen Beispielen zu bestehen, als könnte man sie auf einzelne Fotos reduzieren, die sofort eine historische Anmutung bekommen: Zeltlager in Nevada, Schlangen vor Banken in Großbritannien, entleerte New Yorker Geschäftsstraßen. Ich weiß nicht, welche Fotos der Öffentlichkeit zum Bawag-Skandal zur Verfügung standen, ich stelle mir nur Gesichter vor beziehungsweise harmlose Filialfotografien – mir ist das deswegen nicht bekannt, weil die Skandale der Alpenrepublik in Deutschland allenfalls unter der Rubrik „Farce“ oder „Seifenoper“ oder „Bananenrepublik“ erscheinen, ob Hypo-Alpe-Adria- oder Bawag-Skandal. Ob Meinl-Story oder Jörgl-TV, bis hin zu Naziaufmärschen, und ich habe den Verdacht, dass diese auch in Österreich nur noch als Farce gesehen werden. Aber wie kann man so eine Farce noch literarisieren? Sicher nicht in Form eines well-made Play. Auch der Multiplot-Wirtschaftskrimi, nach dem das zu Globale, zu groß Gestrickte der Finanzkrise, das sich Konkretion und Situierung erstmal Widersetzende dieser Thematik zunächst zu schreien scheint, geht natürlich sofort in irgendeiner Genremechanik baden, und so muss man schon mit barockeren Mitteln kommen. Jelineks Entscheidung, an den öffentlichen Rhetoriken und juristischen Rechtfertigungsnummern, die wir darin erleben, anzusetzen, ist plausibel. Insofern erhalten wir auch in den „Kontrakten des Kaufmanns“ keinen Überblick über die Geschehnisse, die kausalen Zusammenhänge, wir bekommen keine Vogelperspektive, sondern werden mehr zur Froschperspektive verdammt, auf die die Rechtfertigungsmodi der herrschenden Klasse niederprasseln. Schließlich wird bei all der öffentlichen Volksaufklärung gerne vergessen, dass die Wirren des Finanzkapitalismus konkrete Auswirkungen auf konkrete Menschen haben, dass irgendjemand für das alles zahlt.
Wir geraten in ein weiteres Infantiltheater, denn das Stück verfügt in guter alter jelinekscher Manier über zahlreiche eingebaute Infantilsprengsel bis hin zu den Regieanweisungen, weil Elfriede Jelinek klar ist, dass das Theater nur als Infantilanstalt auf diese Vorgänge reagieren kann, es kann nicht die gute alte seriöse Aufklärungsanstalt mimen, weil sich alle Seriosität in den öffentlichen Rhetoriken verbraucht und desavouiert hat.
Elfriede Jelinek hat mir das Sprechen beigebracht, vielleicht war ich so 19, als ich „Die Liebhaberinnen“ las, in einer Salzburger Vorortstimmung, nahe dem jelinekschen Steirischen, vielleicht zu nahe, in einer Stadt, in der das wüste Landleben jeden Moment in das Weltstädtchenhafte hereinzubrechen vermag – und in der erstaunlich viel Prekariat anzutreffen ist, wenn man nur hinsieht.
Schreiben – ein radikaler Akt
Jedenfalls habe ich ganz genau gewusst, wovon die Rede ist, und verstanden, wie diese Rede sein muss: So und nicht anders. Meine Ausgabe der „Klavierspielerin“, die ich 1990 erstand, ist schon voller Unterstreichungen, Weiterschreibungen, Widersprüchen. Ich hatte den Faden sichtbar aufgenommen, den Jelinek-Faden, der bis heute mitmischt und mitstrickt auf meinem Schreibtisch.
Es ist aber bis heute jene Punk-Energie geblieben, jene sprachliche Kraft, die mich anzieht und daran erinnert, dass Schreiben ein radikaler Akt ist, nach wie vor, nach all den Moderne- und Postmodernetotsagungen, die wir in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich erleben durften. Jelineks Komik, das Groteske, das sich jeder gewaltsamen Glattstreichung Widersetzende rufen die eigenen Widerstandsgespenster auf den Plan. Sicher, diese Form des Sprechens wollte ich, wie alle Autoren, die davon betroffen sind, und das sind viele, eine ganze Autorengeneration, von Zeit zu Zeit loswerden, weil es etwas Gewaltsames hat, es hockt da wie ein Vampir im eigenen Schreiben. Man kann sich von diesem Schreiben nur schwer emanzipieren, es ist eines, das den Vorgang des Plagiierens automatisch hervorzurufen scheint und danach gleich eine Distanznahme, die zu neuen Nachahmungsgesten führt, bis man irgendwo anders landet, im berühmten eigenen Ton, in der berühmten eigenen Stimme, die doch von anderen lebt, sich aus anderen Stimmen zehrt.
Doch diese eigene Stimme wird Frauen, darauf hat Elfriede Jelinek unermüdlich hingewiesen, ohnehin nicht zugeschrieben, und so sprächen sie immer für alle anderen mit, darüber sei sie sich bewusst. Ist es nicht die Ironie ihrer Geschichte, dass mehr als eine Generation von Autorinnen sich in einem Abgrenzungs- und Faszinationstaumel zu ihr befindet und befunden hat? Es ist die paradoxe Figur der Originalität im Zeitalter der ständigen Selbstneuerfindung und Selbstvermarktung, die Elfriede Jelinek an der Nase und uns vorführt. Mit Karacho! ■
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.11.2010)
weichensteller - 17. Nov, 10:14
Es sollen zwei Beispiele vorgestellt werden, die das Aufeinanderprallen des Gottesglaubens mit der modernen Welt wiedergeben, die als liberal und fortschrittlich empfunden wird. Es wird sich zeigen, inwieweit die noch ungeschriebene Theorie der Fraglichkeit dabei von Erkenntniswert ist, und auf welcher Seite sie auftaucht.
1. Dostojewski, Der Großinquisitor
Dimitri, der Soldat, Iwan, der Intellektuelle, und Alexej (Aljoscha), der Novize, der ins Kloster eintritt, sind die Brüder Karamasoff. Der Roman erzählt ihre dramatischen Lebensgeschichten, und v.a. das Aufeinandertreffen ihrer unterschiedlichen Lebenskonzepte. Der Soldat, der älteste von ihnen, im Konflikt mit dem Vater wegen einer Frau. Der zweite, der an der Universität studiert, ist der religiöse Zweifler, infiltriert mit dem westlichen Aufklärungsdenken, aber im inneren Konflikt mit dem Gefühlsüberschuss der russischen Religiosität und Menschlichkeit. Und Aljoscha, der Jüngste, hat seine Seele Gott verschrieben, und er möchte Frieden und Versöhnung stiften.
a.
Iwan erzählt Aljoscha die Geschichte vom Großinquisitor, die er sich ausgedacht, aber nie aufgeschrieben hat (wieder ein ungeschriebener Text!). Im Sevilla des 16. Jahrhunderts wütet die spanische Inquisition. Gerade am Tag nach der öffentlichen Hinrichtung von 100 Häretikern erscheint Christus persönlich in der Stadt – und wird augenblicklich von allen erkannt und verehrt. Er tut Wunder und erweckt ein totes Kind am Tor der Kathedrale. Da quert der greise Großinquisitor den Platz und lässt Jesus ergreifen und einkerkern. In der Nacht tritt er in dessen Zelle und stellt ihn zur Rede. Es ist ein Monolog, Jesus sagt kein Wort. Der Kardinal rechtfertigt sich, und nach und nach stellt sich sein Unglauben heraus. Er wirft Christus vor, die Menschen zu überfordern durch die Zumutung der Freiheit der Nachfolge, und stellt sein und der katholischen Kirche Gegenprogramm des Menschenglücks auf Kosten der Freiheit vor. Der Gegensatz kulminiert in der biblischen Erzählung der Versuchung Jesu in der Wüste. Der Kardinal wirft Jesus vor, falsch entschieden zu haben, und Brot, Wunder und Macht abgelehnt zu haben. Der Großinquisitor und das von ihm repräsentierte Denken geht hier andere Wege und korrigiert Jesu Entscheidungen - zum Wohl der Menschen, wie er beteuert.
b.
Die Selbstrechtfertigung des Großinquisitors ist stets mit der römisch-katholischen Kirche und ihrem Machtstreben in Zusammenhang gebracht worden. Aus der Sicht des Romans, seiner Figuren wie seines Autors, handelt es sich aber um ein europäisches, aufklärerisches Denken, im Gegensatz zum russischen großen Gefühl, und die Jesuiten geben weniger die Kirchenvertreter als die Aufklärer innerhalb der Kirche. Die römische Kirche ist dem Russen also zu aufgeklärt, zu skeptisch und rational. Ähnlich wie Bert Brecht fordert der Kardinal, zuerst die Menschen zu sättigen und dann erst von Freiheit zu reden. Indem er das satanische Angebot, aus Steinen Brot zu machen, annehmen würde, deklariert sich der Kardinal als in Sorge um die Menschen. Seine Position erscheint als die verantwortungsvolle, während die Position Jesu radikal, aber für einfache Leute nicht nachvollziehbar wäre.
Auch in der zweiten Versuchung habe Jesus abgehoben reagiert und das Wunder verworfen, während die Menschen doch der Wunder bedürfen und ihrer Verehrung in der Gemeinschaft der Gläubigen. Wieder steht der Kardinal auf der Seite der einfachen Menschen und des Volkes, und die Geschichte und Massenpsychologie gibt ihm Recht.
Auch als Jesus Macht und Herrschaft ablehnte, habe er nach Ansicht des Kardinals unklug und unbarmherzig gehandelt, denn die Menschen bedürften der Unterordnung; fehlten kirchliche Autoritäten, so suchten sie eben andere Abhängigkeiten, weltliche, politische oder kommerzielle.
Der Kardinal führt vor, wie und warum er und seine Institution Jesus korrigiert habe – während dieser schweigt.
c.
Der Großinquisitor erscheint als abgeklärter Asket, wissend und willensstark, verantwortungsbewusst und dem einfachen Menschen verpflichtet. Er hat sich darum aber von Jesus lossagen müssen, dessen Wahrheits- und Führungsanspruch er einschränkt. Der alte Mann hat die Argumente auf seiner Seite, ebenso die Erfolge und die Erfahrung, während Jesus daneben bloß ein stummer Einzelner ist, in Liebe, aber ahnungslos. Aber zweifellos weiß der Alte um das Prekäre seiner Position, sonst würde er den Heiland nicht einsperren und zu Wort kommen lassen. Immerhin wagt er die Konfrontation und glaubt, sich vernünftig rechtfertigen zu können – was ihn auch aus protestantisch-paulinischer Sicht ins Unrecht setzt. Seine Sorge um die Menschen entpuppt sich somit auf allen Fronten als selbstgerecht und im eigentlichen Sinn als ungläubig, und gerade das ist der Grund, warum er sie überhaupt vorzubringen wagt im Angesicht des Herrn, den er nicht anerkennt.
d.
Die von Großinquisitor vertretene Position soll als Prinzipialisierung bezeichnet werden. Da er auf die Rückführung seiner Motive auf Christus verzichtet, braucht er ein anderes Prinzip seines Handelns, und als solches fungiert die Sorge um die Menschen. Dieses Vernunftsprinzip erscheint zunächst dem bloß existenziellen, aber schwer nachvollziehbaren der Nachfolge Jesu doch klar überlegen zu sein. Jedenfalls repräsentiert es deutlich die tatsächliche Geschichte des Abendlandes und seiner Herrschaft von Vernunft und Effizienz. Der russische Vorbehalt erscheint dagegen eher rückständig.
Natürlich ist nicht von der Hand zu weisen, wie korrupt dieses System ist. Was der Großinquisitor als seine Erfolge ausgibt, lässt sich ganz und gar auch in der Sprache von Leid und Klage vernehmen, seien es die Hingerichteten oder die zwar gesättigten („glücklichen“), aber Machtlosen. Und in diesem Gegensatz zwischen Herrscher (in Sorge) und Beherrschtem (unfrei) tritt nunmehr die ganze Unerbittlichkeit dieser Position hervor, vollkommen verkörpert in der Gestalt dieses asketischen, verbitterten, illusionslosen Alten. Wenn Effizienz das Prinzip ist (Brot, Wunder, Autorität), dann wird unweigerlich bald über Leichen zu schreiten sein. Konzentrationslager und Gulags haben das unmissverständlich vorgeführt, für beide der hier verhandelten Mentalitäten, die westliche wie die östliche, und weltweit scheint keine Mentalität frei von dieser Versuchung.
e.
Gegen solches Handeln aus Prinzip, das zunächst von der größeren Sorge um die Menschen geleitet ist, alsbald sich aber gegen diese wendet, stellt die Geschichte vom Großinquisitor ein anderes Motiv. Das Auftreten Jesu erscheint völlig uneigennützig, planlos und spontan. Ohne didaktisches Prinzip schreitet er durch die Mengen, und wer und was ihm begegnet, wird gewandelt und geheilt. Etwas unbiblisch fällt auf, dass Jesus überall erkannt und anerkannt wird, und von lukanischen Polemiken und johannäischen Zurückweisungen ist keine Rede. Jesu Aura ist reflexionslos und unmittelbar, und deshalb den einfachen Menschen näher als dem gebildeten Kirchenführer.
Weiters fällt Jesu Sprachlosigkeit auf, die gewiss auch nicht biblisch ist. Aber indem der Herr ohne Erklärungen und Anweisungen den Menschen nahe kommt, erweist sich doch eine bestimmte Art von Präsenz, die keiner Erklärung bedarf, wo doch von ihm und über ihn, wie der Kardinal provokant bemerkt, schon alles gesagt ist. Seine Gegenwart wird beantwortet mit Wiedererkennen, und vom gläubigen Volk kommt Zustimmung – vom Kardinal aber, der sich seiner Präsenz ebenfalls nicht verschließen kann, Ablehnung.
Diese Situation einer Präsenz, die sich nicht aus irgendeinem Prinzip ableiten kann, sondern nur aus der Existenz, und die in der Folge auch hinterfragt und abgelehnt wird, soll nun Fraglichkeit heißen. Es wird in der Folge dieser Name in allen Richtungen ausgebreitet werden, und seine Bedeutung mag sich fast ins Gegenteil verkehren, aber dabei kann immer das hier dargestellte Gegenüber im Auge behalten werden, nämlich von derjenigen Präsenz, die in sich selbst unmittelbar ist, aber an Systemen und vernünftigen Beweggründen gemessen durchaus fraglich erscheint.
2. Lenaers, Der Traum des Königs Nepukadnezar
Auch mit großer Geste kommt Lenaers, als Bannerträger der zeitgemäßen Adaptierung des Christentums. Alles bisherige sei mittelalterlich, skandiert der Priester und Jesuit, es müsse alles in eine neue, zeitgemäße Sprache übersetzt werden. Wunderglaube, Marienfrömmigkeit und Papstverehrung seien Show, dogmatische Formulierungen unverständlich oder falsch, der hierarchische Kirchenapparat museal, die kirchliche Morallehre lachhaft und unbeachtet. Lenaers fegt alles vom Tisch, was unseren Glauben und unsere Kirche ausmacht, bestenfalls hegt er gewisse Sympathien für den Protestantismus. Was ist aber das Fundament dieser umfassenden Dekonstruktion? Ist hier ein Ungläubiger am Werk, oder ein Agnostiker, der alles offen lässt, nachdem er es entwertet hat? Oder ist es ein Gläubiger einer neuen Art zu glauben, einer neuen Religion, die sich auf den Trümmern der alten aufrichten will? – Nun, Lenaer ist Priester, noch immer.
f.
Zunächst zieht Lenaers gegen Heteronomie ins Feld. Eine Kirchenführung bevormunde das Kirchenvolk, das sich indessen längst seine eigene Meinung gebildet habe und sich um Anweisungen und Regeln nicht mehr kümmere. Basis der Heteronomie sei aber das Axiom der beiden Welten, sprich, neben der realen erfahrbaren Welt noch eine Oberwelt: die Welt Gottes, der Engel, der Wunder, und die Welt der Toten. Diese Oberwelt reguliert strafend und richtend das Geschick der Menschen, in der Gestalt des Gott-im-Himmel, soweit Lenaers mit bestimmt der Mehrheit der modernen Europäer, gläubig oder nicht.
Diesem mittelalterlichen Denken stellt er einen modernen, autonomen Glauben gegenüber. Und auf diesen darf nun der Leser gespannt sein. Denn nun wird, wie im Traum des babylonischen Königs, der alle Machenschaften seines Volkes zerbrechen sieht, die Trinitätslehre, die Christologie, die heilige Schrift, von der Glaubenstradition und dem Lieblingsfeind, die Marienverehrung mit den Begriffen der Jungfräulichkeit, der Gottesmutter, der Himmelfahrt und der unbefleckten Empfängnis gar nicht zu reden, aber auch die Kirche, die sieben Sakramente und das Leben nach dem Tod Schritt für Schritt zum Mythos erklärt. Und dennoch bleibt ein christlicher Gottesglauben zurück. Er stützt sich auf ein Kernereignis des neuen Testaments, die Botschaft Jesu, gereinigt von den späteren kirchlichen Zusätzen. Lenaers nennt den verkündigten Gott den Gott-in-der-Tiefe. Er sei in der Schöpfung selbst erfahrbar, und ein Gläubiger würde in Gemeinschaft mit ihm leben.
g.
Zentrum des christlichen Glaubens ist Jesus Christus. Sein Lebenszeugnis ist auch für Lenaers unbezweifelbar, beziehen sich doch seine Jünger auf ihn, sowie auch ganz andersgläubige Zeitgenossen. Seine Geburt in Betlehem jedoch sei literarische Fiktion, die der Anbindung an die alttestamentliche Messiaserwartung diene. Ebenso wäre das Bekenntnis seiner Auferstehung eine biblische Zurechtlegung. Lenaers anerkennt die Erfahrung der Jünger, er lebe! – aber er dekonstruiert die Rede von am dritten Tage auferstanden als biblische Metapher, die überdies durch keine alttestamentliche Prophezeiung vorbereitet sei, weder Tod des Messias, noch dessen Auferstehung, und auch nicht die Dreitagesfrist. Lenaers Argument ist die Heteronomie der biblischen Sprache. Die Auferstehung selbst sei gar nicht berichtet, die Erzählungen vom leeren Grab, vom Stein und von den Erscheinungen des Auferstandenen bloße Verbildlichung der tiefen Erfahrung der Seinen, er lebe, auch nach seinem Tode, und er lebe in ihnen fort, und in ihren Taten.
Das Bekenntnis der Gottheit Jesu würde ebenfalls nachträglich die große Wirkung dieses Menschen in bildliche Worte zu fassen versuchen, die aber anderen biblischen Christustiteln gleichzustellen wären.
Was bleibt? Jesus von Nazaret.
h.
Was Lenaers in seinem Buch durchdekliniert, ist die Fraglichkeit des Glaubens. Sie tritt zunächst dadurch in Erscheinung, indem jedes seiner Elemente hinterfragt werden kann. Das ist zwar keine Neuigkeit, und bereits in den biblischen Texten selbst angewendet, die sich ja gegenseitig interpretieren und umdeuten. Es handelt sich aber um eine besondere Fragegestalt, die erst in der heutigen Zeit möglich ist. Lenaers nennt es realistisches (= mythologiefreies) und theonomes (statt heteronomes) Denken. Die Befragung geht von bestimmten Prämissen heutigen Denkens aus und selektiert daraufhin die Glaubensinhalte. Dabei kommen die üblichen historischen Rekonstruktionsmethoden zur Anwendung, indem älteren Zeugen mehr vertraut wird als jüngeren, oder wenn bestimmte Interessen eines Autors berücksichtigt werden. All das ist ja in der Bibelexegese des 20. Jahrhunderts zur Selbstverständlichkeit geworden. Und man kann den Eindruck haben, hätte Lenaers erst in den achziger Jahren (oder später) Theologie studiert, so müsste er über Dogmenhermeneutik kein Buch mehr schreiben, denn jede Dogmatikeinführung handelt von der zeitbedingten Sprache der Glaubensformulierungen.
Aber Lenaers will nicht verständlich machen, was wir glauben, und an wen, sondern er will zeigen, dass der bisherige Glaube unmündig und unfrei macht. Er zeigt von Anfang an seine Karten, er spricht von Autonomie, Heteronomie und Theonomie, und er nennt die Rede vom Himmel eine Parallelwelt. Und so muss gesagt werden: Gewiss ist der Glaube selbst etwas Fragliches, ist er niemals völlig identisch mit seiner jeweiligen Gestalt. Gewiss ist der Ursprung seiner inneren Fraglichkeit in der Beziehung des Menschen zum geheimnisvollen Gott zu sehen, an der jede bestimmte Ausdrucksform sich zu bewähren hat – wie das übrigens ja auch von jeder rein menschlichen Beziehung zu sagen ist. Aber gerade diese innere Unwägbarkeit kommt bei Lenaers mitnichten zum Vorschein, sondern wird geradezu zugehämmert, indem er auf seinen eigenen Positionen beharrt.
i.
Lenaers würde im Sevilla des 16. Jahrhunderts vielleicht wenig Sympathien für den Machtmenschen haben, der Abweichler hinrichten lässt. Aber wenn er von seiner eigenen, unbehelligten Position aus Jesus und seine Zeugnisse hinterfragt, dann gebiert er sich wie der Inquisitor. Ohne von der inneren Bedeutungsgeschichte der Texte gerührt zu sein, vergibt er objektive Zensuren und übergibt dem Feuer, was seinem Urteil nicht standhält. Und wie jener spekuliert er auf Rückhalt in den Massen. Man möchte ihn sich wie Iwans Erzählung bei Jesus in der Zelle vorstellen und ihm andemonstrieren, dass er weder auferstanden noch Gottes Sohn sei, und es ist wie oben leicht einzusehen, dass der Befrager sich keine Pause und keine Gegenrede Jesu leisten kann. Eine solche wäre es nämlich, wenn die besprochenen Glaubenszeugnisse nach ihrem wirklich Gemeinten befragt worden wären, und nicht nur nach der heutigen Messlatte.
Also erweist sich Lenaers Position ebenfalls als Prinzipialisierung: Statt mit den Gläubigen ihre Erfahrungen in all ihren Sprachen durchzubuchstabieren und dabei das zu suchen, was sich darin anfanghaft ausdrückt, ohne schon ganz zur Erscheinung zu kommen (man möge sich die Fraglichkeit der Glaubensformen wie einen dreidimensional geöffneten Raum vorstellen, in dem das geschichtlich Werdende des Ausdrucks, das immer besser Verstandene und das sich niemals zur Gänze selbst Zeigende sich unaufhörlich neu ereignet), wendet er sich seinem Autonomieprinzip zu und verharrt dort.
j.
Was noch zu Lenaers zu sagen wäre: Zwar wehrt er sich gegen den Vorwurf des Pantheismus, den seine Rede von Gott-in-der Welt provoziert. Aber der Transzendenzbegriff, Hauptzeuge des christlich-jüdischen und islamischen monotheistischen Gottesbegriffs, ist nirgendwo gewahrt. Man kann schon verstehen, dass diesem modernen Glaubensverkünder mit seiner modernen Gemeinde die Vorstellung einer mit Engelklassen und Heiligenscharen bevölkerten und von der Gottesmutter dominierten Himmelswelt nicht behagt und er damit auch nicht argumentiert. Aber solche Bilder sind doch nicht identisch mit der Transzendenz, sondern bestenfalls ein Hinweis!

Ein angemessenes Transzendenzverständnis aber hätte Lenaers zu mehr Freiheit gegenüber den Ausdrucksformen des Glaubens führen können, wie es etwa das zweite Laterankonzil gelehrt hat. Es hätte nämlich die Bedeutung der jeweiligen historischen Glaubensgestalt relativiert angesichts des sich offenbarenden Schöpfergottes. Auch die behauptete moderne. Auch die eigene Lenaers.
k.
Man könnte ihm noch ein aufs Juristische reduziertes Sakramentenverständnis vorwerfen, das er folgerichtig bekämpft, ohne die eigentlich personale Dimension in den Blick zu bekommen – Personalität hat er aus seiner Theologie genauso wie Transzendenz ja ausgeschlossen. Und die dritte fehlende theologische Dimension ist die ontologische, die zwar einen Gleichklang mit modernem Liberalismus erleichtert, aber allen besprochenen Phänomenen die sogenannte Tiefendimension beschneidet. So kommt Lenaers zu einem evolutionistischen, nicht aber zu einem theologischen Schöpfungsverständnis.
Dass er solcherart zerzaust wird, muss er sich wohl gefallen lassen, ist er doch selbst in seinen Methoden nicht zimperlich. Wer auf 150 Seiten die gesamte Theologie- und Kirchengeschichte abmontieren will, muss doch Gegenreden einstecken können. Lenaers tritt im Gewand des radikalen Erneuerers auf, der schon längst beargwöhnte Glaubensinhalte für nichtig erklärt, dem aber entgegenhält, dass dennoch eine Art von Glauben möglich sei. Als Retter geriert er sich, so wie der Großinquisitor.
3. Von Fraglichkeit und Prinzipialisierung
Dieses Begriffspaar fand bisher hermeneutische Anwendung. In der Textanalyse wurden damit Argumentationsmuster markiert, die dann zwischen den Texten vergleichbar wurden, sowie auch mit der Eigenart von den Glaubensformen, die von den Texten interpretiert wurden. Nun soll aber ihrer jeweiligen Eigenart nachgegangen werden.
l.
Der Begriff Fraglichkeit beschreibt die Erfahrung, dass eine Sache befragt werden kann, dass sie sogar in gewisser Weise diese Fragen hervorruft oder provoziert. Wenn z.B. ein Gesetzestext, von dem Eindeutigkeit erwartet wird, verschiedene Auslegungen und Anwendungen zulässt, dann gilt er als fraglich. In diesem Sinne kann die ganze Welt als fraglich dargestellt werden, denn sie lässt ja eine unendliche Zahl von Fragen zu. Besonders das Aufkommen der Naturwissenschaft hat dazu beigetragen, denn davor war manches durch apodiktische Aussagen verstellt. Die Erforschung der Naturphänomene hat einerseits die Erfahrung der Fraglichkeit gefördert. Als nicht mehr die Erde, sondern die Sonne im Zentrum der Welt zu stehen schien, konnte das Menschen buchstäblich den Boden unter den Füßen wegziehen, denn sie konnten ihren leibhaften Erfahrungen nicht mehr vertrauen. Als auch die Sonne zu einem unbedeutenden Gestirn wurde, schien der Mensch ins Bodenlose zu stürzen. Das ist eine treffende Einführung in die Erfahrung der Fraglichkeit. Scheinbar feste Maßstäbe schwinden, der Boden wankt, den Menschen schwindelt.
m.
Dagegen weht sich eine Gegenbewegung. Heute spricht man vom Urknall und hat den Eindruck, damit etwas Endgültiges und Eindeutiges gesagt zu haben. Dabei steht der apodiktische Charakter der Aussage in keinem Verhältnis zu ihrer hypothetischen Konstruktion, und die anschauliche akustische Metapher suggeriert eine Sinnlichkeit, die tatsächlich auf keiner Stufe des Theoriegebäudes gegeben ist. Warum geben sich dennoch so viele gebildete und kritisch denkende Menschen mit dieser ans Mythologische reichenden Metapher zufrieden und reihen sie in ihre Dogmatik ein?
Weil die Fraglichkeit allein unerträglich ist. Der Mensch sucht Antworten. Und wenn das, was zur Frage steht, schon schwer zur Gänze erkannt werden kann, und erst recht kaum umfassend beantwortet, so neigt der Mensch dazu, Antwortmuster auszubilden, um die hereinbrechende Fraglichkeit der Phänomene abzudrängen. Es werden Antworten behauptet, ohne sie wirklich anzuwenden. Z.B. die Meinung, die moderne Naturwissenschaft hätte Antworten auf alle wichtigen Fragen – und wenn jetzt noch nicht, so würden sie doch gewiss in absehbarer Zeit gefunden. Dieser hypothetische Optimismus ist gewiss vergleichbar mit der unkritischen Autoritätsgläubigkeit, der Papst hätte auf alle Fragen die richtige Antwort, oder er würde sie bald finden. Gegenwärtig sind anscheinend die Massenmedien damit beschäftigt, ihre Autoritätsgläubigkeit zu falsifizieren, indem sie genau das den kritisierten Gläubigen andemonstrieren.
Diese behauptete Antwort wird hier Prinzipialisierung genannt. Um der Überprüfung ihrer Antworthaftigkeit zu entgehen, gibt sich diese (ungeprüfte) Antwort als Axiom, d.h. sie beruft sich auf unüberprüfbare Grundsätze. Lenaers spricht von Autonomie (Theonomie, womit eigentlich so etwas wie die islamische Scharia gemeint ist, oder die zehn Gebote), der Großinquisitor von seiner Sorge um das Glück der Menschen.
n.
Die Fraglichkeit ist gewiss nicht in erster Linie eine religiöse Erfahrung. Die Grundlagen des Lebens werden in jeder Notsituation fraglich. Fragen der Liebe, der Gerechtigkeit, der menschlichen Beziehungen, aber auch der Moral, oder naturwissenschaftliche Fragen nach Bestandteilen der Materie oder des menschlichen Erbgutes, offenbaren jeweils auf andere Weise, dass die Welt nicht aus bloßen Fakten und Tatsachen besteht, sondern in jeder Hinsicht überaus fraglich ist.
Genau das gilt auch für Glaubenswahrheiten. Ob Trinität oder Inkarnation auch als absolute Wahrheit dargestellt werden: Ihre Wahrheit liegt darin, was genau sie eigentlich beantworten. Die Präsenz des Schöpfers in der Schöpfung, des Christus in der Gemeinde, das sind Erfahrungen, die nicht unfraglich sind. Der einzelne Gläubige sucht nach Vergewisserung, die Gemeinschaft nach Erklärung und Ritual, mithin nach Antworten auf das, was in der erfahrenen Präsenz fraglich wird. Fraglichkeit und Antwort gehören zusammen und verstärken einander. Sie gehen Schritt für Schritt auf eine Radikalität zu und nähern sich so der Wahrheit. Ein Antwortversuch, der sich hingegen vor der Fraglichwerdung abschneidet, indem er an nicht zur Frage stehenden Grundsätzen anschließt, heißt Prinzipialisierung. Das ist an ideologischen Argumenten, an apodiktischen Aussagen, an Gefühlsdogmatismus und an vielen anderen Beispielen zu beobachten, wo man das Nachfragen aufgibt. Aber unschwer ist zu erkennen, dass Fragen das Ursprünglichere ist, nicht das abschneidende Antworten. Ist nicht ein Beten, das nach Gottes Willen fragt, das Höhere?
o.
Trotz allem ist es gut nachvollziehbar, wenn jemandem die erfolgten Darlegungen zu schnell gegangen sind. Denn eine wesentliche Sache fehlt noch in dieser Darstellung, und damit gerade die Mitte und der Ursprung beider, der Erfahrung der Fraglichkeit wie der menschlichen Aufbäumung in der Prinzipialisierung. Denn zuerst und grundlegend ist eine Präsenz. Der Gott, um dessen Verständnis und angemessene Darstellung gerungen wird, und sei es auch als Negation, hat sich allererst mitgeteilt und zu erkennen gegeben. Und auch die Phänomene der Welt geben sich kund, sodass der Mensch nach ihnen fragen und Weisen ihrer Erforschung ersinnen kann. Präsent ist, was sich zu erfahren gibt. Und die heute höchstentwickelte Weise, diese Erfahrung zu erschließen, ist die hermeneutische. Auch die theoretische Physik ist in diesem Sinne nichts anderes als Sprachwissenschaft: Ausreizen der Denkmöglichkeiten, um den Phänomenen gerecht zu werden. Auch im Ringen um den Willen Gottes, um die Bedeutsamkeit seiner Offenbarung und zugleich ihre Entzogenheit, sowie im Nachvollziehen aller unserer Antwortgestalten im Denken und Tun, geht es ja immer gerade um dieses eine, auch wenn es nicht und nicht genannt und angesprochen wird: nämlich um seine Präsenz, um seine Anwesenheit. Dies ist zuerst, und dies ist in der Erfahrung aufzusuchen. Dann erst stößt die Erfahrung auf das Fragliche, und schließlich produziert sie immer wieder, anscheinend unumgänglich, auch die Prinzipialisierung. Aber damit muss man nicht aufhören
weichensteller - 11. Mai, 00:50
*künstlerisch-entwickelnde
pastoral*
Positionspapier zu einer
pastoralen Konzeption
1.
a.
MEINE PASTORALEN ERFAHRUNGEN: Ich wuchs im Wiener Arbeiterbezirk Floridsdorf auf, ging dort zur Schule, kannte „Pfarre“ nur als Gottesdienstbesucher. Geprägt hat mich damals ein Religionslehrer und Pfarrer eines Jugendzentrums. Nach meiner Übersiedlung in die Leopoldsstadt engagierte ich mich in St.Josef, „Karmeliterkirche“. Mit ver-trauensvoller Hilfe vom damaligen Kaplan übernahm ich Jugendarbeit - bald auch Firmkatechese, für die wir während eines ganzen Jahres gemeinsam ein Konzept entwickelten. In dieser kleinen, vielfach benachteiligten Pfarre kam ich mit dem „Geist der Entwicklung“ in Berührung, der während der Kriegsjahre schon den von mir verehrten Otto Mauer in dieser Pfarre infiziert hatte, und der sich vorerst in dem stillschweigenden Übereinkommen äußerte, für Firmkatechese und Jugendarbeit, aber auch Gottesdienstgestaltung nur Primärtexte zu verwenden, also selbstverfaßte Beispielsgeschichten oder literarische Texte hoher Qualität, Identifikationsspiele, oder etwa einen Abend zum Thema „Schuld“ in der Karwoche zu gestalten - in jenen Tagen, als über Waldheims Vergangenheit viel diskutiert wurde. Ich las lange Passagen aus Horwaths „Jugend ohne Gott“, ein Jugendlicher hatte dazu Bilder gemalt, die auf Dias präsentiert wurden, und mein Kompagnon Andreas spielte zum Text mit Freunden live Selbstkomponiertes in Leitmotivtechnik ein. Meine wichtigste Aktion aus dieser Zeit und meine erste Begegnung mit Neuer (atonaler) Musik.
Seit 1985 unterrichtete ich in der Hauptschule und lernte dort professionell Entwicklungsarbeit. Ich war z.B. im ersten Jahr Klassenvorstand von 36 vierzehnjährigen Burschen. Mein drittes Unterrichtsjahr verbrachte ich in Karenz und widmete mich meiner eigenen Entwicklung. Im Philosophiestudium, in Schreibversuchen über die menschliche Freiheit und in ungebremstem pastoralen Engagement verfolgte ich die Frage nach meiner eigenen Lebensentscheidung - solange bis die Frage mich verfolgte, warum ich nicht endlich nachgäbe und Priester würde. Bei dieser Frageumpolung hatte die Lektüre von Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ entscheidenden Anteil.
Am 1.April 1988 meldete ich mich bei Regens Toth an. Das war ein Karfreitag, und dieser sollte sechs Jahre dauern. Studium und studentisches Leben waren zwar freudvoll, aber geistige und spirituelle Enge von Priesterseminar und Leitung ein schwerer Klotz und eine Zwangsjacke, die mir die Luft abschnürte. Ich wurde durch Studenten und Leiter mit einem Ausmaß an Existenzangst und Zwanghaftigkeit konfrontiert, das einen auf sich Gestellten, der gewohnt ist, „auf eigene Faust zu leben“ (Zitat Musil), völlig überfordern muß. Glücklicherweise war ich nicht allein, sondern gestützt und umsichtig geleitet durch einen erfahrenen Entwicklungsförderer, der selbst aber, als eigenständig Denkender und Unangepaßter, denselben Anfeindungen ausgesetzt war wie ich. Wohl kaum jemand hat die Vorgänge in der Erzdiözese Wien so aufmerksam verfolgt wie jener Pfarrer, und ist für so viele Menschen helfend und fördernd eingetreten, und höchstens prominente Vertreter haben ähnlich viel Häme und Neid geerntet wie er. Schließlich fand man nur mehr seine Pensionierung als Ausweg.
In den Vorzeigepfarren, in die man mich schickte, um mich „geradezubiegen“, lernte ich verschiedene Spielarten des immergleichen Versorgungssystems kennen. In Kagran lehrte mich der Pfarrer das „Konzept der Blumenwiese“, wo alle Blumen wachsen dürfen. Nur ich wurde von Schnellerwüchsigen abgedrängt und dem Regens schlechtgemacht, sodaß ich von der Diakonweihe meines Jahrgangs, der insgesamt kaum pastorale Erfahrung besaß, ausgeschlossen wurde. Dann kam ich nach Ober St. Veit mit seinen elaborierten Umgangsformen und seinem gutbürgerlichen Dorfcharakter. Hier lehrten mich die jungen Damen und Herrn Mitarbeiter, was gewünscht war. Die Propheten aber, die ich damals rief, sind noch immer aktiv und in spirituell und existenziell sehr tiefer Verbindung mit mir. Ich begann damals, die Entwicklungsförderung auf prophetische Charismen zu konzentrieren, die in jeder Pfarre vorhanden sind, wenn auch nicht unbedingt im Zentrum des Aktionismus. Die größte Erfüllung in diesen Jahren aber erfuhr ich in der Arbeit mit den Kindern, besonders in der Waldorfschule, wo ich von 1994-98 Religion unterrichtete. Die Kinder begleiteten mich 1995 zur Diakonweihe, 1996 zur Priesterweihe in den Dom und saßen dort ganz in meiner Nähe. Von da an gab es Schulmessen in der nicht gerade katholischen Waldorfschule. 1998 fuhr ich mit der 6.Klasse ORG und dem Lateinlehrer und der Geschichtelehrerin und Klassenvorständin für eine Woche nach Rom. Die lebendige Geschichte (eigentlich ein waldorfpädagogi-sches Ziel ersten Ranges) der römischen Antike, der christlichen Anfänge und der Renaissance bewegten Lehrer und Schüler aber schon Monate davor (jeder Schüler hatte ein Referat gehalten an Ort und Stelle) und hoffentlich auch noch später.
Meine erste Kaplanspfarre in der Brigittenau führte mich wieder in eine Arbeiter- und Kleineleute-Soziologie wie in Kagran, diesmal aber inhomogen durch den außerordentlich hohen inländischen und ausländischen Migrantenanteil. Die Bildungslosigkeit, Kommunikationsarmut und Beziehungskälte dieser Milieus treibt den Rechtspopulisten in Scharen die ehemaligen Linkswähler zu - was die Bezirksvorsteher wissen und darum durch Kontakte zu den Pfarren zaghaft gegensteuern. Mir kam das in Allerheiligen zugute, als ich ein regionales Integrationsprojekt mit öffentlicher Unterstützung durchführte. Ich holte (im Alleingang) Schulen, Moscheen, Künstler, Politiker und, am wenigsten beteiligt, auch Pfarren zusammen, um ein Monat lang die gemeinsamen Wurzeln in der Türkei in der Region zu thematisieren. Wenn heute die Medienpräsenz als Gradmesser des Erfolges gilt, dann sind 50 Minuten Ö1 und 10 Minuten ORF2 ein gutes Ergebnis. Auch der Besuch der beiden Veranstaltungen am Anfang und am Ende ließ nichts zu wünschen übrig. Der wirkliche Erfolg dürfte aber in der Herstellung mancher Kontakte zwischen Bevölkerungsgruppen liegen - eine Einstellungsänderung wird kaum stattgefunden haben.
Das zweite Projekt dieses Arbeitsjahres holte vier befreundete albanische Künstler nach Wien, wo sie in der Votivkirche ihre Werke präsentierten (ich unternehme gerade weitere Anläufe, um die damals mir überlassenen Werke auch zu verkaufen), und wo in einer Eucharistiefeier auch musikalisch neue Wege begangen wurden. „Kunst in Kirche“ erscheint mir immer mehr als pastorale Notwendigkeit, keineswegs als Luxus (wie in meiner damaligen Pfarre mit ihrer Garagenkirche mit Linoleumboden und abwaschbaren Tapeten).
b.
DIE LITURGIE: Wie ein Fenster in die inneren Vorgänge einer Pfarrgemeinde ist mir immer die Liturgie erschienen. Die Umgangsformen (sie haben nach meiner Erfahrung den größten Prägecharakter und bestimmen am meisten die „Identität“ des Kollektivs - alles andere ist ihnen ideologisch nachgeordnet), die Arbeitsformen (einer statt allen, oder Konformismus, meistens mit oligarchischer Ausprägung), und v.a. was man für das Wichtigste im Glauben hält. In den Wiener Pfarren, die ich kenne, ist das meist Anpassung an Modernismusideologie, entweder im vornehm intellektuellen Ö1-Stil (Hietzing) - oder eben wie Ö3: anbiedernd, schrill, geschmacklos, inhaltsarm. Das orientiert sich nach der Platitüde „Zu den Leuten gehen“. Auch meine engagierteren Jungpriesterkollegen, die in Niederösterreich arbeiten, folgen solchen Leitbildern. Ein anderes, weniger häufiges, aber stark bindendes Leitbild gibt Caritas und Mission, weil handfeste Hilfe für Andere (Ferne) europäisch abstrakte Lebensformen veran-kern kann.
Die Verunsicherung der in den späten 60ern und v.a. in den 70ern dogmatiklos ausgebildeten Priestergenerationen in ihrem Selbstverständnis äußert sich meist in der Selbstpräsentation, antiklerikal aufzutreten und mit dem „System Kirche“ möglichst wenig in Verbindung gebracht werden zu wollen - gepaart mit dem populistischen Unbehagen gegen jegliche Obrigkeit (dessenungeachtet sie alle autoritär über Reste regieren). Daher wird die Liturgie zur Protest- und Kontraveranstaltung - bei den Engagierteren -, und zum großen Teil ist der wildwachsende Eigenbau völlig inkompatibel mit der Liturgie schon der Nachbarpfarre - ein Problem schon bei Vertretungen, aber v.a. ein Motor zur Erzeugung eines Konkurrenzdrucks zwischen den Pfarren. Das Miteinander im Klerus, das längst stillschweigend durch Freundeskreise in den Pfarren ersetzt wurde (oder kompensiert?), ist daher geprägt durch heimliche Mißbilligung der Sonderwege der anderen, die den eigenen Sonderwegen diametral entgegenlaufen.
Darüber hinaus sind die liturgiegestaltenden Einflüsse auf die Einzelinteressen von Mitarbeitern beschränkt und von ihren Vorlieben für konservative oder aktionistische Formen. Dem schweigenden konservativen zufriedenen, sich versorgen lassenden Gemeindeteil steht der junge, sich inszenierende gegenüber, der sich mit bestimmten bevorzugten Liederbüchern selbst eine gefällige Umgebung bereiten möchte, die jedoch selten inhaltlich zu binden vermag.
Die Steuerung solcher liturgischer Entwicklungen erfolgt nach persönlichen Vorlieben, meist nach Zweckrationalität - aber kaum noch habe ich einen pastoral Tätigen kennengelernt, der nach der sachlichen und personalen Notwendigkeit gefragt hätte. Das Studium der Liturgiegeschichte oder der liturgischen Überlegungen des Konzils und der Kommissionen erfolgt höchstens, um eigene Vorlieben zu rechtfertigen. Liturgische Bildung und Interesse der Mitarbeiter wie der Gemeinde ist marginal. Was ich v.a. immer wieder vermißt habe, ist, sich mit dem Sinn liturgischer Handlungen auseinanderzusetzen. Wenn Volks- oder Hochaltar danach beurteilt werden, ob man die Gemeinde sehen will oder nicht, wird das Wesen des Altars gar nicht zur Frage. Wenn eine Participatio der Gemeinde darin gesehen wird, daß Menschen zur Gottesdienstzeit den Gottesdienstraum betreten und sich eine Weile darin aufhalten, dann erscheint der Gemeindegesang, die Sammlung, die Umschreitung der Versammlung, die Darbringung der Gemeinde-Gaben als Schnickschnack, für den niemand ernsthaft einen Finger rührt. Wenn Gotteswort und Orationen als litaneiartige lautmalerische Atmosphärengestaltung verstanden werden (von etlichen Mitarbeitern auch in Kärnten ausdrücklich so bezeichnet!), dann wird sie je nach Qualität und Geschmack möglichst gekürzt oder durch allerlei Lokaltraditionen ausgeschmückt werden. Wenn Chorgesang als feiertägliche Herablassung würdiger Damen und Herrn erwartet wird, dann ist Volksgesang nur mehr Pausenfüllung, und Anleitung desselben Fleißaufgabe. Daß sich trotz jahrzehntelanger Chorgesangsausbildung nahezu niemand auftreiben läßt, der sich als Kantor einer Ge-meinde gegenüberzustellen bereit ist, bestätigt diese Beobachtung von Selbstein-schätzung und Liturgieverständnis der Mitwirkenden und Verantwortlichen. Und da, wenn überhaupt etwas am Gottesdienst bereichernd sein kann (z.B. besuchen 80-90% meiner Taufgesprächspartner in Ferlach und Maria Rain die Kirche falls überhaupt, dann am liebsten allein, wenn sie leer ist), dies nur von der Predigt selbst erwartet wird, versinkt man davor und danach in eine Art Dämmerschlaf, um dann moralistisch bestätigt oder beunruhigt zu werden (im Falle älterer Priestergenerationen). In allen meinen pfarrlichen Bibelgesprächen (auch in Wien) wurde stets eine moralische Auslegung erwartet und geboten - mitunter in psychologischer Verbrämung im Stil Drewermanns -, und ohne daß man überhaupt auf den Text schaut und hört, weiß man schon, was dadurch erlaubt, gefordert und verboten wird.
Und zuletzt und zuerst maßgeblich sind die Erfahrungen der Menschen mit dem vorherrschenden Stil liturgischen Feierns, der ihnen in der eigenen Pfarre begegnet, als kanonische Meßlatte. Und den empfinden sehr viele Menschen unter 30, ja sogar unter 40, als langweilig und nichtssagend, reine Pflichterfüllung zur Beruhigung und Reinigung des Gewissens (auch der älteren Verwandtschaft). Alle meine Gesprächspartner bei Taufgesprächen in Kärnten haben Taufen in der Sakristei oder im Spital erlebt, die unter 10 Minuten gedauert haben. Alle sind ahnungslos über Inhalt und Bedeutung der Taufe, niemand (100%) hat jemals zuvor eine christologische Begründung der Taufe gehört und brächte von sich aus das Taufgeschehen mit Christus in Zusammenhang statt mit Ängsten wie: „Wenn das Kind stirbt, damit es in den Himmel kommt...“, oder mit kopfschüttelnd widerwillig vorgebrachtem „Wegen der Erbsünde...“. 2/3 der Firmkandidaten gehen wegen der Verwandtschaft zur Firmung, etwa 1/2 bezeichnet sich selbst als ungläubig.
Ich fasse diese Erfahrungen zusammen in dem Begriff Relevanzverlust. Die Ritualisierung des Sonntagvormittags, angereichert mit Anektotischem aus der Predigt, motiviert durch die tangentiale Begegnung mit (lieben) Menschen; das alles zusammengehalten und unterfaßt von der Ahnung von innerer, allerdings verborgener Richtigkeit und abstrakter Heilsbedeutung des Vollzugsganzen. Eine solche Motivationslage wäre vielleicht ausreichend in einer hermeti-schen Nachkriegsgesellschaft mit hohen Pflicht- und Anpassungswerthaltun-gen, profilierter Ausdruck eines wählbaren, stark kollektiv orientierten christlichen Ethos. In individualistischer Motivationslage erscheint solche Liturgie- und Gemeindekonzeption vorwiegend interessant für ältere Generationen und Anpassungsbedürftige. Ansonsten bietet die Pfarre jede Menge Freizeitgestaltung und Sinnstiftung, die auf gleicher Ebene erscheint wie Sportvereine, Feuerwehr und Musikgruppen. Die Notwendigkeit der Funktionen ergibt sich jeweils daraus, daß es sonst ja niemand machen würde - aber nicht aus dem Sinn des Ganzen. Und dieser Sinn des Ganzen müßte m.E. in der existenziellen Relevanz der Liturgie zusammengefaßt zum Ausdruck kommen - transparent und zugänglich für jeden Teilnehmer, affektiv und intellektuell kommuniziert und vollzogen. Ich halte die zugesagte Präsenz Christi in der Eucharistie für so bedeutend, daß auch die antwortende Präsenz der Gemeinde entwickelt werden muß, weil die Gegenwart des einen die Gegenwart des anderen erschließt.
2.
a.
VORÜBERLEGUNGEN ZUR GEMEINDE- UND LITURGIEKONZEPTION: Ich sehe Sinn und Aufgabe pastoraler Arbeit in der Heranführung der Menschen an die Gegenwart Christi in der Eucharistie. Das eröffnet mehrere in unserer Situation zugängliche Dimensionen von Seelsorge:
• Ein entwickelnd-heilender Umgang der Menschen miteinander: Nicht die Funktionserfüllung steht im Mittelpunkt, sondern die Menschwerdung der Gläubigen. Personzentrierte Gesprächsformen mit therapeutischem An-spruch (i.w.S.) sowie suchende, fragende und gestaltentwickelnde Vollzüge prägen das Gesamtbild. [Das pure Gegenbild dazu: eine „Wir sind wir“- Club-mentalität, die starre Vollzüge mit großem Aufwand in Gang hält, um fixierte Identität aufrechtzuerhalten]
• Ausgang und Ziel Liturgie: Festkreise, liturgische Elemente und Symbole (Wasser, Blut, Fleisch, Wein, Brot, Kreuz, Chrisam, Prozessi-on/Gehen, Hören, Sprechen/Singen, Stille, Schauen...) bestimmen Aufgaben und Vollzüge. Sie sind Themen der Auseinandersetzung und Vorbereitung von Gruppen. Die Aktivität dieser Gruppen ist somit themenbezogen und auf die An-eignung durch die Gemeinde orientiert. [Der Kontrast dazu: die Präsentation ei-nes an sich bedeutungslosen Wandteppichs in der Kirche, den die Gruppe ... gemacht hat und damit ein Lebenszeichen von sich gibt]
• Ein sich fortwährend reflektierender und weiterentwickelnder Selbstvollzug: Persönliche und gruppendynamische Stabilisierung soll durch Auseinandersetzung und Kompetenz erreicht werden, nicht durch abgeschlos-sene und ausschließende Formen. Z.B. soll die fünfte Neukonzeption der Oster-liturgie nicht fixe Bausteine und festgelegte Aufgabenverteilungen bereitstellen, sondern Erfahrung im Gestalten und Nachfragen nach dem Sinn. Gleichwichtig wie die Durchführung selbst ist demnach die tiefschürfende Vorbereitung und die umfassende Erfolgskontrolle durch Beobachtungen und Befragungen. Damit eng in Zusammenhang steht die
• Intellektuelle Entwicklung: Das durchschnittlich vorhandene Glau-benswissen auf Volksschulniveau, angereichert mit massenmedial produziertem Meinen, ist unserer hochintellektualisierten Welt nicht angemessen, in der schon die Bedienung von Computer und Fernsehfernbedienung den Geist mehr heraus-fordert als die Religion. Aber zum „Wissen“ gehört Verstehen, Erkennen und Interpretieren gesellschaftlicher, politischer (bes. in Kärnten), kultureller und re-ligiöser (i.w.S.) Erscheinungen. Entwickelte Theorie und entwickelte Praxis be-dürfen einander.
• Künstlerischer Anspruch: „Kunst“ ist hier nicht akademisch ver-standen, auch nicht nur vom Werk her, sondern als Prozeß der Auseinanderset-zung. Es geht nicht um möglichst perfekten Nachvollzug von Formen (z.B. Lie-der), sondern um experimentelles Beschreiten neuer Wege, ohne konfliktscheu zu sein. Das führt zu einer Ausweitung der Bereiche und Dimensionen. Musik im Gottesdienst führt über die Schubert- oder Katschtaler Messe hinaus zu Neuer Musik, Gregorianik, atonalen, seriellen oder elektronischen Experimenten, Perkussion, zu Musik anderer Völker und v.a. zu verschiedenen Formen von Gemeindebeteiligung in Hören, Mit/Nachsingen, Tanzen, Text, Klang, Melodie verinnerlichen usw. Andere Bereiche: Kirchenraum, Bewegung, Licht, Literatur. Diese Dimension zeigt am deutlichsten die Zukunftsorientierung der ganzen Konzeption.
• Integrative Vollzüge: Eine Isolierung und Abschottung von Grup-pen ist vorübergehend möglich, um konzentriert bei einer Sache bleiben zu kön-nen - im ganzen aber ist die Bildung von Sondergruppen unerwünscht. Auch das Sonderbewußtsein der Gemeinde soll sich darauf beschränken, für andere schon erprobte Wege bereitzustellen. Eine solche Gemeinde müßte ein regiona-les Zentrum darstellen, das suchende und/oder in irgendeiner Weise kompeten-te Menschen anzieht. Bevorzugte Ansprechpartner müssen alle pastoral Tätigen sein, z.B. Religionslehrer. Kooperation mit anderen Gemeinden und der Kirchen-leitung müssen selbstverständlich sein. Auf jeden Fall müssen Kompetenzen im-portiert werden, d.h. Menschen, die etwas für die Entwicklung der Gemeinde Relevantes können, eingeladen werden. Auch soziale, religiöse und ethnische Begegnung ist ein wichtiges Ziel dieser Dimension (somit die Bereiche Caritas und Mission).
• Spirituelle Dimension aller Vollzüge: Spiritualität erschöpft sich nicht in Gebetsübungen. Meditation, Bildung von Leib und Seele, v.a. ein ganz-heitliches Menschenbild prägen Liturgie und Alltag. Mystische Tiefe wird nicht auf Sonderbereiche ein-(aus-)gegrenzt, sondern in der Vertiefung aller Dinge gesucht. Vielleicht ist auf diesem Wege eine Verbindung mit den sog. Fernste-henden am ehesten möglich, die sich häufig an bestimmten Vollzügen stoßen, deren Offenheit aber durch die Konfrontation mit der als Institution erfahrenen Kirche Begrenzungen erfährt.
Die beiden letzten Dimensionen halte ich für die wichtigsten in Bezug auf die kirchliche Erneuerung auf personeller Ebene. Ich habe nirgends soviel Ausgrenzung und Oberflächlichkeit erlebt wie im Priesterseminar und im Zu-sammenhang mit der ganzen „Priesterausbildung“. Ich habe dutzendfach gese-hen, daß man mit kreativen, lebhaften und spirituell tiefen und ernsthaften Men-schen nichts anzufangen weiß und ihnen nichts zu bieten hat, weshalb sie selbst gewöhlich nicht lange im Seminar aushalten. Das verdünnt die Begabungen im Klerus ungemein, ohne die Angepaßten zu stärken . Das hier zu entwickelnde Konzept will einen Raum zur Reifung solcher Menschen bieten.
b.
ZIELFORMULIERUNGEN: Hier sind eine praktische, vom Vollzug bestimmte Ebene von der Ebene der inhaltlichen Auseinandersetzung zu unterscheiden. Außerdem müssen allgemeine, weit ausgreifende Formulierungen konkreten, anwendungsbezogenen gegenüberstehen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines Leitbildes für Gemeinde und Liturgie, das Identifikation von Mitarbeitern und Gemeindemitgliedern ermöglicht (auch Ablehnung). Für jede Dimension (s.o.) müssen Grobziele formuliert werden, anschließend (von Arbeitsgruppen) operationalisierte Etappenziele (deren Erreichung überprüfbar ist). Außerdem ist für die Durchführung wohl am wichtigsten, über die nötigen finanziellen, personellen und baulichen Mittel Bescheid zu wissen.
c.
VERFAHRENSFRAGEN: Ein solches Konzept einer bestehenden Pfarre zu implantieren erscheint gewaltsam. Entweder läßt sich der Einstieg in eine solche Arbeit mit einer Neugründung verbinden (das könnte den Vorteil eines konzepti-onellen Kirchenneubaus haben), oder eine Pfarrübernahme könnte das Konzept schrittweise einführen, adaptieren und aneignen . Das Einzugsgebiet müßte groß genug sein, um Austausch und Kommunikation zu ermöglichen. Z.B. würde ich Kontakte zur Universität, zu Künstlern und kulturellen Institutionen vertiefen und erweitern. Für kulturelle Aktivitäten wird eine professionelle PR-Arbeit u-nerläßlich sein. Begegnung und künstlerische Arbeit erfordern Räumlichkeiten, Werkstätten und Ateliers sowie Unterbringungsmöglichkeiten.
Die finanzielle Einbindung sollte die Anstellung und Unterbringung einiger hauptamtlicher Fachleute ermöglichen, die eine ganze Region versorgen könnten - z.B. für musikalische Entwicklung, für spirituelle Vertiefung, für therapeuti-sche Begleitung, für künstlerische Anleitung und pädagogische Führung. Ande-rerseits könnte bei entsprechender PR-Arbeit auch ein künstlerisch-pastorales Zentrum entstehen, das sich durch den österreichweiten Verkauf selbst herge-stellter liturgischer Geräte und Gewänder oder durch Beratung und Hilfe bei künstlerischen Kirchenraumgestaltungen z.T. selbst erhalten kann. Diesbezügli-che Kontakte zu Künstlern, Therapeuten, Gesangausbildnern und Universitäts-professoren und -Assistenten baue ich seit Jahren auf.
3.
ANSÄTZE IN MEINER BISHERIGEN ARBEIT: Das vergangene Arbeitsjahr in Maria Rain bot Gelegenheit zu manchen Experimenten. Am auffälligsten und wirkungsvollsten waren zwei Dinge, die Hinführung der Kinder zur Liturgie und die Taufliturgie, jeweils unter Einbezug der ganzen Gemeinde. Die entwickelte Präsenz der Kinder wirkte auf alle belebend. Das Charisma einiger, Zusammen-hänge schnell zu durchschauen und auszusprechen, oder das Charisma anderer (recht vieler), so intensiv im Lauschen, Gehen oder Beten anwesend zu sein, daß sie alles andere vergaßen, überzeugte die Gemeinde, allen voran die Eltern (meist Mütter) der Kinder, die deren Bewegtheit spürten.
In der Taufliturgie setzte ich meine von Schulkindern gemachte Taufstola ein, die mit Bildern aus dem langen Taufwasserweihgebet und mit Symbolen für Leben und Tod geschmückt ist, weiters verwende ich Chrisamöl in einem gläsernen Fläschchen und vermeide es, nach der Salbung die Hände abzuwischen, als hätte ich mich mit Ekeligem beschmutzt (wie bei den grünspanigen watte-verfilzten Blechdöschen), sondern verreibe und verstreiche behutsam das Öl auf der Haut des Kindes. Dabei entsteht außerordentliche Berührungsintensität. Bei Predigtgespräch und Gesanganleitung (GL 46) wurde Fremdheit schon aufgelockert und Kontakt hergestellt, bei der Versammlung um den offenen, mit Was-ser gefüllten Taufbrunnen Intensität erzeugt, beim Eintauchen der Hände ins Wasser (Epiklese) auf dieses konzentriert. Die stärkste Wirkung und Überzeu-gung geht von der vollendenden und abschließenden Präsentation des getauften Kindes am Altar aus, wenn die Gemeinde um diesen versammelt ist und das Vater unser betet.
Weiterzuführen wäre die Beteiligung der Kinder an allen Gottesdiensten als Normalform, die Vertiefung der Wassersymbolik, das Taufgedächtnis, die Verankerung der Taufe in der Osternacht, überhaupt das Taufbewußtsein und -Charisma der ganzen Gemeinde.
Durch Selbstgestaltung mancher liturgischer Gegenstände (Kelch, Evan-geliar) wurde Aufmerksamkeit auf diese gelenkt. So habe ich etwa des öfteren Stolen und Meßgewänder eigener Fabrikation verwendet - und zum Abschied eine von den Kindern selbst gestaltete Seidenstola bekommen (was sogar unbe-teiligte Gemeindemitglieder als Lernerfolg der Gemeinde bezeichneten). Die Erneuerung alter (vergessener) Bräuche, wie z.B. der Gabenprozession, hat manchmal Verwunderung und Fragen ausgelöst. Das Gespräch über solche Vollzüge wäre allerdings noch weiterzuführen. Ein großer Dorn im Auge ist mir nach wie vor die Beschränkung der Gaben auf die große Hostie (welche wo-möglich, in den kleinen Pfarren, samt Kelch schon am Altar wartet, um keine Umstände zu machen), die dann feierlich konsekriert im Mund des Priesters verschwindet, worauf er für die Gemeinde die schon längst verstauten (und versteckten) Gaben aus dem Tabernakel holt wie aus dem Kühlschrank. Die Einheit des Vollzugs ist dadurch gestört, Priestervollzug vom Gemeindevollzug abgehoben und zwei zusätzliche, sachlich nicht gerechtfertigte Wege zurückzulegen. Die ohnehin unterentwickelte eucharistische Frömmigkeit unserer Gemeinden wird dadurch weiterhin behindert.
Besonders wäre der eigene Kirchenraum zu erschließen, denn wenig Menschen in Maria Rain wissen etwas darüber, obgleich die meisten ihn sehr schätzen. Die den wunderbaren Steinboden verdeckenden Teppichböden, die vielen herumstehenden kleinen Bänklein, der monumentale Gabentisch, der üppige Blumenschmuck auf dem Hochaltar und vieles andere wäre genauer in Augenschein zu nehmen.
Für alles das und vieles mehr wäre natürlich ein ständiges Gespräch über und Interesse an liturgischen Vollzügen nötig - die Fragen danach wurden aber geweckt.
Ein Zwischenschritt aber bis zur künstlerischen Durchdringung und Verwesentlichung liturgischer und pastoraler Vollzüge, der auch in der gegen-wärtigen Praxis längst zu vollziehen wäre, ist die Einübung der Gemeinde in ihre eigenen Gemeindedienste wie Lektor (sinnerfülltes, bewußtes Lesen), Kantor, eigenes stilles und verbalisiertes Gebet (Orationen als Zusammenfassung wo-von?, Fürbitten), Antworten (Monsignore gibt sich immer selbst die Antwort und behindert damit die Gemeindeantwort) und v.a. Gesang (nicht nur zu besorgen von Stellvertretern) und Körperhaltung (gegen das zum Dösen verleiten-de Aussitzen). Dafür zumindest allmählich ein Bewußtsein zu schaffen wäre ein gutes Ziel für mein zweites Jahr in Ferlach, Dollich und Unterloibl.
Bisherige künstlerisch-entwickelnde Aktionen:
• Filmprojekt mit 15 Jugendlichen vom Rosental bis St.Veit: Schnee von ge stern - Tau von morgen
• Rilke-Lesereise nach Duino, Triest und Koper
• Musil-Lesegruppe I & II zum Mann ohne Eigenschaften
• Kindermesse in Grado
• Evangeliar aus Email mit Jugendlichen aus Maria Rain und Schülern der HTL Ferlach
• Evangeliar aus Keramik-Mosaik von Kindern aus und für Ferlach
• Ausstellungen moderner Künstler aus Albanien in St.Georgen, im Schloß Ferlach und in der Pfarrkirche Greifenburg
• Konzert Neuer Musik: Engel von Ensemble Hortus Musicus in der Stadt- pfarrkirche Ferlach (im kommenden Advent)
• Rockmesse mit selbstkomponierten Liedern zum Prophet Elija in Berg/Dr.
Ferlach, im Oktober 1999
Dieses Positionspapier wurde zwei Bischöfen vorgelegt und von einem als undurchführbar verworfen, vom anderen als pastorales Programm angenommen. Sie führte schließlich zu meiner Inkardinierung und in meine heutige Pfarre. Nach zehn Jahren prüfe ich nun die Umsetzung des damals Geschauten
weichensteller - 4. Mai, 22:15
1. Foucaults Untersuchung
In den Vorlesungen, die Foucault 1983 in Berkeley/Kalifornien hielt, ging es um die „Genealogie der kritischen Haltung“, nämlich genauer um die Frage, wer unter welchen Bedingungen die Wahrheit sprechen durfte, und in welcher Beziehung zur Macht. Er untersuchte den Begriff Parresia – παρρμσια – bei mehreren Schriftstellern der griechischen Polis, und dann den Bedeutungswandel bis zu römischen Autoren. Παρρμσια bedeutet Redefreiheit, Freimütigkeit, offen und freimütig reden, öffentlich reden. Gemeint ist, alles zu sagen, was man im Herzen hat, seine Meinung bekennen.
a.
Das, was da gesprochen wird, hat unterschiedlichen Bezug zur Wahrheit. Parresia kann Geschwätz sein (z.B. in Plato, Der Staat – da ist eine schlechte demokratische Verfassung gemeint, wo jeder das Rederecht hat) – oder jemand sagt, was er als wahr weiß. Die Parresia gilt als Übereinstimmung zwischen Meinung und Wahrheit.
Der Begriff kommt nur dann vor, wenn das Sprechen der Wahrheit mit einem Risiko des Sprechers verbunden ist, nicht in alltäglichen Situationen. Parresia ist ein Spiel zwischen dem Sprecher und dem Gesprächspartner, der dem Sprecher übergeordnet ist. Es gibt eine Pflicht zur Parresia, z.B. als Korrektur an einem Freund, oder als Warnung vor etwas, das die Polis betrifft. „Bei Parresia gebraucht der Sprecher seine Freiheit und wählt Offenheit anstelle von Überredung, die Wahrheit anstelle von Falschheit oder Schweigen, das Risiko des Todes anstelle von Leben und Sicherheit, die Kritik anstelle von Schmeichelei, und die moralische Pflicht anstelle von Eigennutz und moralischer Gleichgültigkeit.“ (Diskurs und Wahrheit, Berlin 1996, S.19)
b.
Der Ort, wo sich Parresia ereignet, ist in der Athener Demokratie die Agora, als öffentliche Rede in der Versammlung der Bürger. Im monarchischen Staat tritt sie hingegen am Hof des Königs auf, und dann ohne Öffentlichkeit. Als guter König gilt in der Literatur, wer den Parresiastes anhört, selbst wenn es für ihn unangenehm ist, als Tyrann wird er dagegen erkennbar, wenn er den Ratgeber missachtet oder bestraft.
In den politischen Institutionen ist daher Parresia notwendig, um die Beziehung zwischen der Wahrheit (Logos) und dem Gesetz (Nomos) herzustellen und zu wahren. Die Wahrheit sichert das Wohlergehen der Polis, deshalb soll sich das Gesetz an ihr orientieren. Diesen Diskurs zu führen ist die politische Aufgabe des Parresiastes.
c.
In Ion erzählt Euripides von der Gründung Athens durch König Erechtheus. Das Stück will Athens Führungsanspruch legitimieren, und ein Mittel dazu ist der erzählte Wechsel des Ortes des Wahrsprechens vom Orakel in Delphi zu den Athener Bürgern. Die Geschichte handelt von der einzigen Königstochter Kreusa, die von Apollon vergewaltigt wird. Sie bringt Ion in Athen geheim zur Welt, der ausgesetzt wird und nichtsahnend im Apollonheiligtum in Delphi aufwächst. Kreusa heiratet Xuthos, bleibt aber kinderlos. Beide kommen nach Delphi, um Apollon zu fragen, ob sie jemals Kinder bekommen werden. Beide fragen einzeln, und sie haben verschiedene Fragen: Denn Kreusa weiß von ihrer Zeugungsfähigkeit, aber sie weiß nicht, was aus ihrem Sohn geworden ist. Doch Apollon schweigt, um seine Schuld nicht zu enthüllen.
Xuthos bekommt das Orakel, der erste, dem er außerhalb des Tempels begegnet, sei sein Sohn – und das ist Ion: der König glaubt das wörtlich, Ion weiß noch nichts, beide sind getäuscht durch die Lüge Apollons. Nun gebraucht Ion Parresia als Ermittlungsverfahren, um im Dialog mit Xuthon die Wahrheit herauszufinden, aber vergeblich. Er betrachtet sich als dessen Sohn, aber in Delphi gezeugt, und als Königssohn zweier Nichtathener in Athen ein Fremder ohne Bürgerrecht.
Ion fragt nach seiner Mutter, denn nur ihre Abstammung aus edler athenischer Familie könnte ihm das Recht zu Parresia geben – und er besitzt ja von Natur aus dieses Recht, da seine Mutter in Wahrheit ja die Königstochter ist und ihn in Athen geboren hat, aber er weiß das nicht wegen des Schweigens bzw. Lügens des Apollon.
Kreusa ihrerseits ist wütend, ihren Sohn nicht zu finden, stattdessen aber einen vermeintlichen Stiefsohn ihres nichtathenischen Mannes zu bekommen. Sie spricht öffentlich Parresia gegen Apollon (der mächtiger ist als sie), und klagt darauf sich selbst an, weil sie das Kind ausgesetzt hat (persönliche Parresia). – Es kommt zu Versuchen von Kreusa und Ion, einander zu töten, bis schließlich die Göttin Athene die Lage aufklärt und als Ort der Wahrheitsfindung anstelle von Delphi Athen einführt, und zwar nicht mittels des Orakels, sondern mittels der Parresia.
d.
Später wird für Euripides (nach 418 v. Chr.) Parresia insofern problematisch, als in seiner athenischen Gegenwart in der Bürgerversammlung die wahre Rede von der falschen unterschieden werden muss, und die Abstammung und Legitimierung des Sprechers kein ausreichendes Mittel mehr ist. Isokrates macht ein halbes Jahrhundert später die athenische Form der Demokratie selbst verantwortlich für die Willkür der Rede, die sich nicht mehr an der Wahrheit misst, sondern am Applaus der Zuhörerschaft und Anhänger.
Demosthenes kennt Parresia nicht mehr als Institution und Vorrecht, sondern als persönliche Haltung, auf eigenes Risiko gegenüber dem König zu sprechen – und beide, Sprecher wie König, müssen ihre Haltung vor der Parresia rechtfertigen.
Für Aristoteles gehört Parresia zur freien Rede, oder es ist eine ethische Qualität.
e.
Sokrates verkörpert eine weitere Figur der Parresia, die Foucault in Platons Laches nachzeichnet. Zunächst wird über Erziehungsfragen diskutiert, darüber, wer ein guter Erzieher ist, welche Ziele die richtigen und welche Methoden nötig sind. In diesem Zusammenhang gebrauchen zwei Männer Parresia, um sich selbst öffentlich als schlechtes Beispiel darzustellen, weil sie trotz vornehmer Herkunft nichts Besonderes geleistet haben. Das Gespräch läuft auf die Frage zu, wie nun ein guter, wahrsprechender Lehrer von einem schlechten unterschieden werden kann. Denn für diese Unterscheidung ist wiederum ein Parresiastes nötig. An dieser Stelle kommt Sokrates mit seinem parresiastischen Spiel zum Zug. Seine Methode der Befragung wird 1. als Nähe charakterisiert: wer der Rede des Sokrates nahe genug kommt und sich mit ihm einlässt ins Gespräch... 2. wird nun der Gesprächspartner von Sokrates durch Fragen zum Erkennen und Bekennen der Wahrheit geführt, indem er über sein eigenes Leben und Denken Rechenschaft gibt. Foucault meint, dieses Verfahren vom katholischen Beichtgespräch unterscheiden zu müssen, da es nicht um autobiographische Rechenschaft für das eigene Leben gehe, keine Gewissensprüfung also, sondern um „Rede zu stehen“ (didonai logon) über sich selbst. Jedenfalls ist das Wahrheitskriterium die Beziehung des Logos zum Bios, also zur eigenen Lebensweise. Und die Lebensweise des Sokrates selbst wird nun untersucht, um zu prüfen, ob seine Methode der Wahrheitsfindung akzeptabel ist. Und da Sokrates als tapfer und zuverlässig anerkannt wird, ist man auch bereit, sich auf seine Befragungen einzulassen.
Foucault hebt hier die Bedeutung des Bios hervor, um die Wahrheit zu prüfen; er geht aber nicht auf die Zirkularität dieses Verfahrens ein, das einen Wahrheitsprüfer (Parresiastes) braucht, der selbst aber wiederum geprüft werden muss. In Laches genügt die Überzeugung der Gesprächsteilnehmer durch die Präsenz des handelnden Sokrates.
f.
Philodemos verstand Parresia um die Zeitenwende als Techne, analog zu der Kunst des Steuermanns oder zur Kunst der Medizin. Gregor von Nazianz konnte vier Jahrhunderte später hier anschließen und Seelenführung als Technik der Techniken bezeichnen. So steht Philodemos’ Parresia-Verständnis sowohl am Beginn einer Methode der Selbstbeherrschung des Philosophen, um für andere ein Seelenführer sein zu können, als auch des Selbstverständnisses christlicher Seelsorge. Der Epikuräer Philodemos meinte bestimmte Verfahren innerhalb des Lehrer-Schülerkreises, z.B. das öffentliche Geständnis, das er als to di allelon sozesthai – „Rettung durch einen anderen“ bezeichnet.
g.
Die Kyniker waren um die Zeitenwende eine sehr auffällige Erscheinung. Foucault nennt sie einen aggressiven Individualismus und bringt sie in Zusammenhang mit dem Niedergang vieler Institutionen der alten griechisch-römischen Kultur. Aus der sokratischen und epikuräischen Tradition stammt die große Bedeutung des Bios, des Lebensbeispiels. Wenn Kyniker predigten, so richteten sie sich immer gegen die sozialen Institutionen, die der Freiheit (Eleutheria) und Selbstgenügsamkeit (Autarkeia) im Weg standen. Mehr noch als die Predigt bestand die kynische Parresia in skandalösem Verhalten und Benehmen. Dion Chrisostomos’ sehr bekannte Vierte Rede schildert die Begegnung Alexanders des Großen mit Diogenes. Der Feldherr begegnet auf der Straße dem auf einer Tonne sitzenden Kyniker, der den König auffordert, ihm aus der Sonne zu gehen. Das Gespräch zwischen den ungleichen Partnern besteht in fortgesetzten Provokationen und Beleidigungen durch den Philosophen, der den König bei der Ehre packt und ihn schließlich entlässt mit der Aufgabe, seine drei falschen Lebensstile zu bekämpfen, den Reichtum, die sinnliche Lust und den Ruhm.
Die kynische Parresia besteht also in einer aggessiven Praktik, die den Gesprächspartner dieser Aggression aussetzt, damit er sie als seelischen Kampf verinnerliche.
h.
Plutarch geht der Frage nach, wie ein echter Parresiastes von einem Schmeichler zu unterscheiden ist, der unsere Eigenliebe weckt, zum Nachteil der wahren Erkenntnis. Ganz in der sokratischen Tradition nennt er die Übereinstimmung seines Redens mit seinem eigenen Leben als Wahrheitskriterium. Denn der wahre Freund ist an seiner Beständigkeit und Kontinuität, Stabilität und Unerschütterlichkeit erkennbar, wogegen der Schmeichler einen Charakter ohne festen Grund hat, sondern sich immer demjenigen anpasst, dem er gut tun will.
Foucault schiebt hier einen Vergleich mit früher christlicher Spiritualität ein, die den Satan als Schmeichler versteht, der den Menschen zu Selbstverblendung und Wankelmütigkeit verführt. Um sich vor solchen Verführungen zu schützen, solle der Geist des Menschen sich an Gott binden, zur Selbstentsagung und um Verblendung zu vermeiden. Das Christentum sei eine Bekenntnisreligion und unterliege daher der Wahrheitsverpflichtung, sodass nicht nur Wahrheisquellen in Schrift und Lehre, sondern auch im eigenen Selbst zu erforschen seien. Selbsterforschung und Selbstentsagung bedingten einander wechselseitig.
i.
Die letzten drei Beispiele führt Foucault an, um die Wendung der Parresia zur eigenen Seele zu zeigen. Seneca (De ira) lässt Sextius eine Selbstprüfung am Ende des Tages machen: „... maßvoller wird er sein, der weiß, dass er täglich vor den Richter treten muss.“ Sextius’ tägliche Selbsterforschung dient der Reinigung der Seele, damit er guten Schlaf finde und in den Träumen in Verbindung mit den Göttern treten könne. Diese Praktik stammt von den Pythagoräern, wurde aber auch von Epikuräern, Stoikern und Kynikern verwendet. Dabei tritt das eigene Ich nicht so sehr als Richter, sondern wie ein Kontrollor oder Verwalter bei der Inventur auf. Er findet nicht Sünden, sondern Fehler, wenn ein Verhalten erfolglos oder unwirksam ist, und korrigiert sich, um sich lebendiger, dauerhafter und wirksamer verhalten zu können.
In De tranquilitate animi wird ein Brief Serenus’ angeführt, in dem jener um Rat bittet. Er berichtet an mehreren Beispielen von seiner Unentschlossenheit und Wankelmütigkeit. Seine Selbstprüfung tastet seine Lebenssituationen ab und untersucht, welche Dinge ihm wichtig sind und was ihn gleichgültig lässt. Er ist beunruhigt, dass sein animus immer wieder Einwände erhebt und sich nicht mit getroffenen Entscheidungen zufrieden gibt.
Einige Texte von Epiktet (Unterredungen und Handbüchlein der Moral) zeigen eine andere Form von Selbstprüfung. In diesen Übungen überprüft der Proband seine Vorstellungen, Gedanken und eindrücke darauf hin, ob sie von ihm abhängen oder nicht. Das Ziel dieser Übungen ist, Souveränität über sich selbst zu gewinnen, indem die Beschäftigung mit von einem selbst unverfügbaren Vorstellungen und Ereignissen reduziert werden.
In diesem letzten Teil führt Foucault vor, wie Parresia zunächst vom Lehrer gegenüber dem Schüler, dann aber von diesem gegenüber sich selbst gebraucht wird. Das Ziel ist, eine Beziehung des selbst zur Wahrheit herzustellen. Dabei nimmt der Parresiastes die Rolle eines Technikers, Handwerkers oder Künstlers gegenüber sich selbst ein und gewinnt eine distanzierte Perspektive.
j.
Die Bedeutung des Parresia-Begriffs liegt hier jeweils in der Tätigkeit des Wahrsprechens. Es geht nicht um Kriterien der wahren Aussage, sondern darum, wer imstande ist, die Wahrheit zu sprechen, und unter welchen ethischen und seelischen Bedingungen. Bestimmte Themen unterliegen diesem Wahrheitsdiskurs, und bestimmte Folgen sind angezielt. Foucault geht es dabei um eine Genealogie der kritischen Haltung.
2. Parresia in der Bibel
Die Bedeutungen, die Parresia im Alten und im Neuen Testament annimmt, lassen sich ungefähr denen in der griechischen Antike gegenüberstellen. Vor allem in Euripides’ Ion sind dieselben Ansätze zu finden, die ungefähr zeitgleich auch in biblischer Literatur vorkommen, allerdings in hebräischer Sprache, und ab 250 v.Chr. dann in griechischer Übersetzung.
k.
Ich bin der Herr, euer Gott, der euch aus dem Land der Ägypter herausgeführt hat, sodass ihr nicht mehr ihre Sklaven zu sein braucht. Ich habe eure Jochstangen zerbrochen und euch wieder aufrecht gehen lassen. (Lev 26,13) Gottes Selbstvorstellung knüpft an Israels aufrechten Gang an. Ganz ähnlich der Selbstprädikation am Anfang der zehn Gebote (Ex 20,2/ Dtn 5,6) werden Bilderverbot und Sabbat, sowie Gebotsbefolgung überhaupt angesprochen, und wie dort ist auch hier die Befreiungserfahrung der eigentliche Träger der Aussage. Lev ist deutlich näher an den Lebensbedingungen im Land Israel, Ackerbau und Raubtiere, Wohlstand und Sicherheit werden genannt. Gott schreibt sich selbst als Spender dieser Gaben ein, während Israels aufrechter Gang auch eine andere Zuschreibung im Hintergrund vermuten lässt, nämlich die Menschen selbst und ihre Arbeit. Gottes Selbsteinschreibung in Israels Erfahrung hat folgendes schlagendes Argument: Israels Unabhängigkeit von der ägyptischen Herrschaft – bzw., zur Abfassungszeit, von der babylonischen. Das Aufrechte an Israel (Parresia) ist seine geschenkte Unabhängigkeit – und nicht sein Stolz, wie die Propheten stets kritisiert hatten. Das Aufrechte hat sich somit gewandelt: War es früher Zeichen von Starrköpfigkeit und Widerspenstigkeit (gegenüber Mose), von Stolz und Selbstgenügsamkeit (Propheten), so ist es nun Zeichen der Wahrheit von Gottes Anwesenheit in Israel. Parresia als Umdeutung.
Verglichen mit Ion, zeigt die Parresia wiederum die Wahrheit Gottes an, aber während sie dort an Apolls Lüge direkt widerlegt wurde, ist sie hier als Bestätigung verwendet. Der Wahrheitserweis Gottes findet jeweils in der Haltung der Menschen statt: dort in der wütenden Klage Kreusas und Ions, hier im Gebotsgehorsam und Wohlstand Israels. Beide Male steht auch eine Ortsveränderung der Wahrheitsbezeugung im Hintergrund, nämlich dort von Delphi nach Athen, hier von Ägypten/Babylon nach Israel. Somit haben beide Texte auch Legitimationsabsicht für die Bedeutung der jeweiligen Heimat, Athens im Rangstreit der Stadtstaaten, Israels in der Selbstbehauptung als nunmehrige persische Provinz.
l.
Noch größer ist die Differenz zu Ion bei der Bedeutung von Parresia in Ps 12,6: Die Schwachen werden unterdrückt, die Armen seufzen. Darum spricht der Herr: Jetzt stehe ich auf, dem Verachteten bringe ich Heil.
Nicht mehr dem Aufrechten an Israel, sondern Gott selbst gilt jetzt die Aussage: Parresia heißt jetzt soviel wie die ganze Wirkmacht und Gegenwärtigkeit entfalten und ins Spiel zu bringen, heißt Aufstand, Erhebung – man denkt hintergründig: Aufstand der Unterdrückten selbst!, Aufruhr, Umsturz, eine Drohung also, eine Warnung – also ein prophetisches Wort direkt aus Gottes Mund, sozusagen bevor der Prophet es ausspricht. Diese Doppellesung bezüglich des Subjekts des Aufstands dokumentiert Gottes Identifikation mit den Schwachen und Armen. Das schreiende Unrecht droht sich in Gottes Erscheinen zu entladen, schrecklich wie damals in Ägypten. (Die andere Stelle in Ps 94,1 kann gerade so gelesen werden)
Die vier Stellen in den Sprichwörtern beginnen ebenfalls mit einer Erhebung und Ermächtigung: Die Weisheit ruft laut auf der Straße, auf den Plätzen erhebt sie ihre Stimme. (Spr 1,20) Nach dem prinzipiell sichtbaren, aber in Wirklichkeit doch nur metaphorischen aufrechten Gang Israels (Lev) und dem wohl zeichenhaft (als Drohung) erfahrbaren Aufstand Gottes für die Armen (Ps 12) wird nun von der Parresia der Weisheit gesprochen! Eine dem Griechischen noch viel nähere Verwendung des Begriffs vom freimütig Reden und Wahrheit-Sprechen, sozusagen vom Gehalt der Rede her gesehen, der in den besprochenen griechischen Textstellen ja immer erst gesucht werden musste: bei Euripides, Demosthenes, besonders bei Sokrates ging es gerade um die Verfahren, die Wahrheit der Rede herauszustellen – Sokrates führte den Bios als Argument ein, die kluge Lebensführung, genau das Thema der biblischen Weisheitsliteratur. Der Aufstand der Weisheit, das ist zuerst sicher in der Rede zu erwarten, die überzeugt und weitsichtig ist, aber genau genommen doch ebenso im Lebenszeugnis, in klugen Entscheidungen, in einer unerwarteten Wendung der Geschichte. Nicht das Subjekt der weisen Rede oder Handlung steht hier im Mittelpunkt, sondern das Ereignis der Weisheit, die zur Geltung kommt und sich durchsetzt inmitten von Dummheit und Eigennutz – also auch hier eigentlich eine prophetische Aussage.
Die Stelle in Spr 13,5, mehr noch 20,9 (auch die Stellen in Weish und Sirach sind hier einzuordnen) erinnert dann an die Bedeutung der Parresia bei Plutarch und Seneca, wo es um die kritische Prüfung des eigenen Selbst geht: Wer kann sagen: Ich habe mein Herz geläutert, rein bin ich von meiner Sünde? Dabei ist aber deutlich erkennbar nicht das eigene Wahrsprechen gemeint, keine Technik der Selbstreinigung. Sondern umgekehrt wird gerade solche Selbstverfügung in Frage gestellt, als würde hier Seneca entgegengehalten: prüfe dich genauer und erkenne deine Erlösungsbedürftigkeit! Die Epikuräer und Stoiker suchten die Klarheit der Seele, um ein gutes Leben führen zu können oder im Traum den Göttern begegnen zu können, Spr dagegen erwarten die Parresia der Seele von Gott.
(Est und Makk übergehe ich)
j.
Eine besondere Verwendung findet Parresia in Hiob: Dann wirst du am Allmächtigen dich erfreuen und zu Gott dein Angesicht heben. (Hi 22,26) Das sagt nicht Hiob, der Leidgeprüfte, der kämpft um den Sinn des Gottesglaubens, das sagt Elifa, um ihn zu trösten, oder um ihm seine Existenz zu deuten. Kann denn der Mensch Gott nützen?, beginnt er seine Rede: Nein, sich selber nützt der Kluge, antwortet er epikuräisch. Doch Hiob weist seine kluge Rede zurück, er will sich in keine Technik fügen, um Gottes Zuwendung zu erarbeiten. Hiob steht in einer anderen göttlichen Gegenwärtigkeit, die sich nicht richtet nach menschlichen Entscheidungen, und klugen Erwägungen unzugänglich bleibt. Der Parresia Elifas hält Hiob seine eigene Parresia entgegen: So wahr Gott lebt, der mir mein Recht entzog.... was ist des Ruchlosen Hoffen, wenn er dahingeht... wird Gott sein Schreien hören? ... Kann er sich des Allmächtigen erfreuen und „Parresia üben“ zu jeder Zeit?
Die Situation erinnert sehr an Kreusas Klage an Apollon in Delphi, die ja unbeantwortet blieb, weil den Gott ein schlechtes Gewissen plagte. Auch der Gott Hiobs war am Buchanfang nicht allzu gerecht dargestellt worden, als er sich vom Satan überreden ließ, den gerechten Hiob in Versuchung zu führen. Schweigt auch Hiobs Gott aus Schuld?
Verborgenes enthüllt er aus dem Dunkel, Finsternis führt er ans Licht (12,22), hält Hiob den Beratern nachdenklich entgegen, und hält unbeirrt am Handlungs-Apriori Gottes fest, sieht also auch im Nichthandeln, im Nichterkennbaren Gottes Gegenwart, kommt also wie schon in Spr beobachtet, zur eigentlichen Parresia Gottes, wenn auch noch nicht ergangen. Und zuletzt bewahrheitet sich Hiobs Beharrlichkeit, als Gott seine Mächtigkeit zu erkennen gibt: Wer ist es, der den Ratschluss verdunkelt, mit Gerede ohne Einsicht? ... Wo warst du, als ich die Erde gegründet? ... Wer setzte ihre Maße? (38,1-5) Die Parresia der Ratgeber muss sich der Parresia Gottes (obwohl hier der Begriff nicht vorkommt) unterordnen und verblasst dabei. Der Versuch, Gott zur Rechenschaft zu ziehen, scheitert sozusagen an der falschen Größenordnung: der Mensch ist Rechenschaft schuldig, und nicht Beurteiler der Handlungen Gottes.
k.
Im Neuen Testament kommt Parresia nur einmal in einem synoptischen Evangelium vor, dafür mehrere Male in Joh und in der Apg, dann bei Paulus, im Hebr und in 1 Joh.
Jesus fragt die Jünger, für wen ihn die Leute halten, und er erfährt sich als mit Elija und Johannes dem Täufer identifiziert. Petrus selbst aber bekennt ihn als den Messias. Daraufhin enthüllt er ihnen Tod und Auferstehung, und er redete ganz offen darüber (Parresia) (Mk 8,32). Diese Offenheit aber überfordert Petrus, der Jesus unterbricht: Unverständnis sind für das Gottesgeheimnis eine Grenze, an der es abbricht. Das erinnert an Hiob – nur dass dort Gottes Rede am Ende triumphiert, und hier wird sie unterbrochen. Andererseits ist nun nach Lev 26,13 und Ps 12,6 wieder Gott selbst am Wort, wenn auch nur im Fragment. Aber dieser bedauerlich kurze Klartext korrespondiert ja mit dem gesamten Evangelium, dessen Inhaltsangabe er ist – sodass Mk sich als Parresia Gottes durch Jesu Leben, Sterben und Auferstehen erweist. Die Vorwürfe des Petrus, der Jesu Leiden und Sterben nicht zulassen will, erinnern gerade an die existenzielle Perspektive der Parresia Jesu, die nicht nur Rede ist, sondern Wahrheitserweis mit dem Leben (Bios, siehe Sokrates!), und zwar mit dem größeren Leben, das keinen Tod mehr kennt.
Die neun Stellen von Parresia im Joh beginnen dort, wo Jesus die Öffentlichkeit seines Wirkens thematisiert, und zwar gegenüber seinen Brüdern, die ihn zu mehr Öffentlichkeit herausfordern: Denn niemand wirkt im Verborgenen, wenn er öffentlich bekannt sein möchte, sagen sie mahnend zu ihm (Joh 7,4). Als hätten sie an seine Eitelkeit appelliert, zieht er sich zunächst zurück, während in Jerusalem viel über ihn gemunkelt wird: Aber niemand redete öffentlich über ihn, dann man fürchtete sich vor den Juden. (7,13) Diese erwartete Parresia tritt dann etwas später im Tempel ein, wo Jesus auftritt und lehrt, und Anhänger findet wie auch Unentschiedene sowie Gegner: Und doch redete er in aller Öffentlichkeit (7,26)
Wieder im Tempel wird Jesus zur Rede gestellt und von ihm die Parresia über sich selbst verlangt: Wenn du der Messias bist, sag es uns offen! (10,24) Diese Parresia ist natürlich keine kritische Selbstprüfung im epikuräischen Sinn, sondern wie in Lev oder bei Hiob ein Selbsterweis. Und wenig später geschieht dieser in der Auferweckung des Lazarus: Darauf sagte ihnen Jesus unverhüllt: Lazarus ist gestoben. (11,14)
Joh 11,54 sieht Jesus sich zurückziehen und im Jüngerkreis verweilen, 16,25 aber eine neue, öffentliche Anwesenheit verkünden: Dies habe ich in verhüllter Rede zu euch gesagt; es kommt die Stunde, in der ich nicht mehr in verhüllter Rede zu euch spreche, sondern euch offen (Parresia) den Vater verkünden werde. Der Vergleich mit der Mk-Stelle drängt sich auf, aber deutlicher als dort ist in Joh der Verweis der Parresia nicht auf Sprechen, sondern auf den Wahrheitserweis durch Taten, besondern Kreuzigung und Auferstehung. Wenn auch bei Lazarus die Parresia der Tatsache von Lazarus’ Tod gegolten hat, damit seine Auferweckung umso deutlicher als Gottes Tat erscheinen kann, so auch jetzt in den Abschiedsreden von der Liebe des Vaters, damit die Jünger vorbereitet werden auf die Zeit, da sie allein dessen Liebeserweis erkennen müssen (was auch die Intention der Mk-Stelle war).
Im Leben Jesu wird die Parresia somit dort wiedergegeben, wo es um die Adressaten seines Redens geht, ob es der Jüngerkreis ist oder die Öffentlichkeit. Besonders Joh verwendet den Begriff, um Jesu selbstmächtiges öffentliches Erscheinen zu spiegeln mit der geheimnisvollen Rede für Eingeweihte. Aber jedes Mal liegt das Gewicht weniger auf der Rede und dem Inhalt der Mitteilung, sondern zuerst darauf, wie er erscheinen will – mithin der Selbstoffenbarung Gottes, und diese ist stets im Zusammenhang mit dessen Selbsterweis in Tod und Auferstehung verknüpft – sowie mit dem Glauben der Jünger, wie im Blick auf Apg hinzugefügt werden muss.
l.
Die Verwendung der Parresia in der Apg ist sehr eindeutig und nunmehr tatsächlich als Rede erkennbar. Den Anfang macht Petrus in der Pfingstpredigt, wo er nach der Zeit von Angst und Unverständnis nun an die Öffentlichkeit tritt, den Prophet Joel und Psalmen zitiert und dann über das Glaubensverständnis Israels hinausgeht: Brüder, ich darf freimütig zu euch über den Patriarchen David reden: Er starb und wurde begraben. (Apg 2,29) Petrus markiert mit dieser Ankündigung der Parresia einen Paradigmenwechsel im Glauben, nämlich zum Auferstehungsglauben. Die freimütige Rede hat hier trotz der Öffentlichkeit den Charakter einer vertraulichen Mitteilung, die ohne Vorbild und daher ungeschützt ist. Es ist ein Appell an die Glaubwürdigkeit, verlangt Aufmerksamkeit und bringt die neue Botschaft auf den Punkt. Es deutet sich bereits bei dieser ersten (von zwölf!) Stelle an, dass eben die Parresia die Folge des Wirkens des heiligen Geistes sein könnte, die veränderte Jüngerrede, die mit der veränderten Existenz der Jünger einhergeht.
4,13 zeigt Petrus und Johannes im Hohen Rat. Sie hatten einen Gelähmten im Tempel geheilt und dadurch großen Aufruhr erzeugt und müssen sich jetzt dafür vor der Behörde verantworten. Sie reden freimütig von der Auferstehung und dem größeren Leben Jesu, durch welches der Kranke geheilt worden wäre. So ist die Parresia gestützt auf das sichtbare Zeichen, das als ergangene Gottesoffenbarung gedeutet wird, der keiner der Anwesenden widersprechen kann.
4,29 erblickt die Gläubigen beim Gebet um die Parresia, angesichts der Drohungen der Ungläubigen, die durch den Zusammenschluss von Herodes, Pilatus, den Römern mit den Juden erwächst. Wieder wird die Parresia als Wirkerweis des heiligen Geistes erwartet: Doch jetzt Herr, sieh auf ihre Drohungen und gib deinen Knechten die Kraft, dein Wort mit aller Freimütigkeit zu verkünden. 4,31 berichtet die Gebetserhörung als Bestätigung durch die erfolgte Parresia der Jünger.
9,27 führt den früheren Christenverfolger Paulus in Jerusalem ein durch den Erweis seines Christusglaubens, der er mit Parresia in Damaskus verkündet hatte, 9,28 bestätigt das mit seiner neuen Parresia in Jerusalem.
m.
13,46 markiert einen Wendepunkt, indem Paulus und Barnabas die erfolglose Parresia bei den Juden beenden und sich von nun an den Heiden zuwenden. Es ist die einzige Stelle, bei der nun die Reaktion der Hörer auf die Parresia ausdrücklich thematisiert wurde, welche bisher nur geflissentlich als Zustimmung erwähnt wurde. 14,3 zeigt die beiden bei der Parresia in Ikonien, wieder unterstützt durch Zeichen und Wunder, aber damit eine Spaltung in der Bevölkerung auslösend.
18,26 zeigt einen Neubekehrten bei der Parresia, Apollos von Ephesus. In 19,8 spricht Paulus in Ephesus Parresia. 26,26 zeigt Paulus vor König Agrippa Parresia sprechen, genau nach dem Muster des Verhörs Jesu durch Pilatus, der keine Schuld an ihm finden konnte. Auch Paulus nutzt die Redemöglichkeit nicht zur Verteidigung, sondern zum Bekehrungsversuch des Königs, was dieser auch registriert, aber nicht beantwortet. Im letzten Satz der Apg spricht Paulus Parresia in Rom (28,31), das zu erreichen er eben diesen König Agrippa benutzt hat, indem er an den Kaiser berufen hatte.
Die Entwicklung der Parresia in der Apg dokumentiert das Wirken des Geistes in der Ausbreitung der Kirche, und bestätigt es zugleich. Nicht nur Wundertaten – die freie Rede selbst ist nun der Erweis, denn sie ergeht trotz aller möglicher Widerstände und findet (auch) gläubiges Gehör. Dabei sollte der jeweilige Ort beachtet werden. Zuerst ein Privathaus in Jerusalem, dann der Tempel, der Hohe Rat, Damaskus, Ephesus, Korinth, das Haus des Statthalters in Cäsarea, und zuletzt ein Miethaus in Rom. Jeweils ist eine Öffentlichkeit im Spiel. Die Adressaten ähneln denen in der griechischen Literatur: offene Rede vor Freunden und Gegnern, auf der Ratsversammlung und am Königshof, wo jeweils die Hörer sich als parresiafähig erweisen müssen. Die Parresia in Rom fungiert zuletzt als Höhepunkt der offenen Rede, im Mittelpunkt aller Öffentlichkeit, in der Stadt aller Städte, mit der symbolischen Hörerschaft des ganzen Reiches. Und als Wahrheitsbeweis bleibt zuletzt die mutige und freimütige Existenz des Paulus selbst und seiner Rede, sowie die Existenz der Kirche durch ihre Gläubigen. Zwölfmal Parresia im Römischen Reich, eine geist-legitimierte Kirche durch das Lebenszeugnis der Gläubigen, in aller Öffentlichkeit.
n.
Zehn Stellen weist das Neue Testament auf, in denen Paulus selbst Parresia spricht, davon sechs aus seiner eigenen Feder (2 Kor, Phil, 1Thess, 1 Tim, Phlm), drei aus dem Epheserbrief und eine im Kolosserbrief.
In 2 Kor 3,12 (vgl. 1 Thess 2,2) gibt Paulus eine Philosophie der Sichtbarkeit. Die Gemeinde selbst, an die er schreibt, nennt er Zeugen seiner Wahrhaftigkeit, vom Geist verfasster Text seien sie, sichtbares Resultat des Wirkens des Geistes, in dessen Dienst er sich selber weiß. Dieses Geistwirken gibt ihm Hoffnung und Zuversicht, weil es über seinen eigenen Radius hinausgeht. Dem stellt er den jüdischen Buchstabenglauben gegenüber, den er in Mose verkörpert sieht, der Gottes Angesicht zu schauen nicht ertrug, sondern sein Gesicht verhüllte. Der jüdische Gesetzesgehorsam sei ein steckengebliebener Glaube, ein Text, auf dem eine Hülle liegt, sodass er nicht zu verstehen ist. Dagegen steht nun die Parresia des Paulus, das offene Ansprechen der christlichen Hoffnung, die weder Gottes Geist noch Widerstand durch Menschen fürchtet, obwohl sie beides kennt. Er, der erkennbar gezeichnet ist, vielleicht von Krankheit oder von Erschöpfung durch andauernden Widerstand, stellt sich umso stärker in die Kraft Gottes, die er etwa in Korinth wirken sieht. So ist diese Parresia-Ansage auch eine eigene Ermutigung, vielleicht sogar in erster Linie. Im Sinne der Sichtbarkeit ist jetzt die Parresia die Ansage der Erkennbarkeit des Geistes, sozusagen Lektüre des Gottestextes in der Gemeinde, dessen Auslegung und Anwendung im Apostelleben.
Noch stärker kommt diese gegenseitige Bedeutsamkeit von Apostel und Gemeinde in der anderen Parresia-Stelle zum Ausdruck: Ich habe großes Vertrauen zu euch, wörtlich: mir ist viel Parresia gegenüber euch (7,4). Das mag mit Zutrauen oder Freimütigkeit wiedergegeben werden, aber in dieser Aussage liegt auch eine gegenseitige Angewiesenheit, sogar Abhängigkeit: der Apostel lebt von der Glaubenskraft der Gemeinde!, empfängt Trost und Kraft von ihr – das ist der Grund, warum er bedauert, nicht selbst kommen zu können. Hier ist Parresia eine Art gegenseitige Wahrsprechung – eine gegenüber dem Griechischen völlig neue Bedeutung.
o.
In ähnlichem Sinn kommt Parresia in Eph vor, aber zunächst nicht auf das Verhältnis des Apostels zur Gemeinde angewendet, sondern auf sein Gottesverhältnis. Nachdem er zuerst von Gottes Heilsplan spricht, nennt er dann mit Parresia (3,12) sich selbst auch einbezogen und mit einem freien Zugang versehen, sodass er selbst frei eindringen kann in das Geheimnis der Wahrheit Christi. Diese gewährte freie Zugänglichkeit Gottes stattet den Apostel mit einer großen Selbständigkeit aus, der ja den ganzen jüdischen Jahweglauben völlig neu zu formulieren hat auf Christus und seine Auferstehung hin, und diese Anwendung stets zu bewähren hat in immer neuen Kontexten.
In 6,19f bittet der Apostel um die Fürbitte der Gemeinde wegen seiner Parresia: Er stellt sie klar als Gottes Gabe dar, nicht nur als Redegewandtheit, und nicht nur als Bitte um das Öffnen des Mundes und die Gabe von Worten, wie sie auch die Propheten aussprechen oder der Psalmist, sondern darüber hinaus als selbständigen Zugang zum Gottesgeheimnis, um sich darin frei bewegen zu können (Schlier, Peterson).
Wenn Sokrates den Bios als Wahrheitskriterium der Parresia genannt hat, dann ist es bei Paulus noch stärker das Martyrion, das Lebenszeugnis – ja er nennt in Phil 1,20 sogar seinen Leib als den öffentlichen Ort der Parresia. Das ist nicht als Erfolgskriterium gemeint, als korrespondierte sein Wohlergehen mit der Zuwendung Gottes – solche Interpretation hat bereits Hiob zurückgewiesen. Im Gegenteil, der Leib gilt als Offenbarungsort, und zwar in Leben und Tod, als wäre er Schriftzeichen Gottes, und im Blick auf Christus scheint dem Apostel der Tod noch näher als das Leben. Es soll übrigens darauf hingewiesen werden, dass die Stoiker und Epikuräer die Seele als Aufgabe der Parresia gesehen haben, nämlich sozusagen als Arbeitsfeld. Paulus hingegen sieht nicht den Leib als Ziel der Parresia, sondern als Mittel, besser als Medium für das, was der Geist wirkt, sei es das Sprechen des Apostels oder sein Schweigen, sein Kampf und Einsatz oder sein Versagen, seine überzeugende Präsenz oder seine Mühsal.
Koll 2,15 nennt Gott den Parresiastes, der die Mächte und Gewalten entwaffnet durch Christus. 1 Tim 3,13 erwartet Parresia von den Diakonen – wohl mit Blick auf den überragenden Prediger Stefanus. Und Phlm 1,8 nennt die Parresia des Paulus die Vollmacht, seinem Mitarbeiter zu befehlen, ist also anwendungsbezogen zu verstehen.
Die vier Parresia-Stellen im Hebräerbrief werden in der Einheitsübersetzung alle mit Zuversicht wiedergegeben und bezeichnen alle eine Art von Glaubenssicherheit der Gemeinde, eine Identität wie das Haus, dessen Eigentümer Christus ist. Ebenso mit den vier Stellen in 1 Joh, wo die Glaubenszuversicht als In-Christus-sein gedeutet wird, die sich bewähren kann und soll, in der Welt und im Gebet.
p.
Kardinal Karl Lehmann nennt in seinem Vortrag über die Widerstandsbewegung Weiße Rose im Jänner 2010 in München die Märtyrer als christliche Parresiastes. „Der Märtyrer hat eine zweifache Parresia: eine auf Erden und eine im Himmel. Auf Erden beweist er seine Parresia gegen die dem Glauben feindliche Obrigkeit. Nach seinem Tod aber hat er Parresia bei Gott, denn er weilt schon im Paradiese und kann nun als ‚Freund Gottes’ ihn um alles bitten.“ (Erik Peterson 1994, nach Lehmann)
So ist die Entwicklung, die schon an Paulus zu beobachten war, nämlich dass einer mit seiner Existenz für andere einsteht und für Wahrheit und Bewahrheitung sorgt, bei den Märtyrern weiter zu beobachten. Sie alle bezeugen damit auch den Sinn des Kreuzestodes Christi und seine universale Relevanz.
Lehmann weist auf die liturgische Einbettung des Vaterunser hin, das mit ...getreu seiner göttlichen Weisung wagen wir zu beten: Vater unser... ebenfalls eine parresiastische Ansage ist: den Schöpfer des Universums als den eigenen, persönlichen Vater anzusprechen kann nur wagen, wer dazu beauftragt ist durch den Sohn.
Somit sind Glaubenszeugnis inmitten einer gottfremden Welt und Gebet als bleibende Weisen der Parresia genannt, was den Blick auf die Gegenwart öffnet.
3. Parresia im heutigen Wahrheitsdiskurs
q.
Es gibt in unserer westlichen Gesellschaft eine Berufsgruppe, die sich lautstark als Parresiastes stilisiert und in vielen Bereichen den Diskurs beherrscht: die Journalisten und Redakteure bei Presse und Rundfunk. Besonders der Enthüllungsjournalismus treibt ein ums andere neue Blüten in der Aufdeckung von Tabus und verstecktem Unrecht, wobei er sich (in unseren Breiten) der Gegnerschaft der Autoritäten in Politik und Finanzwelt, Sport und Klatschwelt, und eben auch der Kirche gerne rühmt. Zentrales Motiv ist dabei (wie der Name verrät) die Bloßstellung, und darin liegt der Schauwert – zusammen mit der peinlichen Berichtigung der Bloßgestellten, wozu diese unterschiedliche Routiniertheit vorweisen können.
Eine andere Sache ist es, wenn Anna Politkowskaja russischen Machenschaften nachspürt und dafür ihr Leben riskiert. Der Kampf um Wahrheit nimmt auch heute immer wieder existenzielle Dimension an. Doch wird diese sogleich reduziert, wenn sie in unsere saturierte Konsumwelt eintritt: Als Politkowskaja 2003 von der Frankfurter Buchmesse wieder ausgeladen wurde, weil Präsident Putin diese zu besuchen gedachte, war das kaum einen Bericht wert. Als sie drei Jahre später ermordet wurde, war der Schauwert dafür umso größer. Hätte man das in Frankfurt schon gewusst, wäre ihr Beitrag zu Tschetschenien gewiss wertvoller gewesen.
Achmed Numeri ist Journalist im Sudan und hat über Jahre immer wieder im Gefängnis für die Wahrheit seiner Berichte einstehen müssen. Auf monatelangem Irrweg ist er Anfang dieses Jahres in Österreich angekommen, wo er den Winter dann als „Illegaler“ im Gefängnis verbrachte. Zu Frühlingsbeginn erhielt er den Bescheid einer „Dublin-Rückführung“ nach Griechenland, wo für Asylwerber bekanntermaßen menschenunwürdige Bedingungen herrschen. Er legte mit Hilfe seiner Anwältin Berufung gegen den Bescheid ein, da seine Angaben über seinen Beruf sowie über die Lebensbedingungen als Asylwerber in Griechenland von den österreichischen Behörden nicht untersucht worden waren. Trotzdem wird er morgen, ohne das Ergebnis der Beschwerde abzuwarten, zurückgebracht.
Ein Grund zur Aufregung für mediale Parresiastes? Mitnichten. Asylwerbende Berichterstatter haben keinen Schauwert. Journalismus hierzulande agiert nach Geschäftsinteressen und riskiert dabei nichts. Gebracht wird nur, was auch gern gelesen (gesehen, gehört) wird. Um Parresia heute aufzuspüren, muss sehr genau nach den Interessen der Wahrsprecher gefragt werden.
r.
Wenn derzeit die Kirche medial zerzaust wird, nicht ohne Mithilfe kirchlicher Eigenständiger, die daran auch Interesse haben, so soll der Blick nun gerade auf einen Kirchenvertreter gelenkt werden, und zwar nicht auf einen mit Leitungsaufgaben Betrauten, sondern mit Denken, also auf einen Theologen – wahrscheinlich den Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Rahner. Aber nicht die vielen Bände seines gewichtigen Gesamtwerks, besonders zu dogmatischen Fragen, sondern eine schmale Anlassschrift steht im Verdacht der Parresia: Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance, geschrieben 1973, anlässlich der deutschen Diözesansynode.
Rahner empfielt der Synode ein neues, modernes Kirchenbild, das weniger auf juristischen oder territorialen Grundlagen steht, sondern auf der individuellen Glaubensentscheidung selbständiger Menschen. Das ist ausdrücklich nicht als Assimilation an moderne Gegebenheiten zu verstehen, sozusagen als Nachgiebigkeit gegenüber dem Anpassungsdruck des aggressiven Säkularismus, sondern gerade umgekehrt als reflexes Bewusstsein der Weltdistanz (36), die der bürgerlich-bequemen Eingemeindung der Kirche widersteht. Angesichts schwindender Mitgliederzahlen, geringen Priesternachwuchses, vermindertem gesellschaftlichen Einflusses und scharfem medialen Gegenwindes fragt Rahner umgekehrt, „wo und wie die Kirche in ihrem faktischen Leben und Handeln selber Ursache des Rückgangs eines explizit kirchlichen Christentums war und noch ist: Durch eine altmodische Theologie und Verkündigung, durch einen Lebensstil bei Amtsträgern und sonstigen Christen“ usf. (44) Anstatt Untergang zu blasen wie frustrierte Kleruskonferenzen, setzt Rahner auf Überzeugungsarbeit: „Die Möglichkeit also, aus einem unchristlich gewordenen Milieu neue Christen zu gewinnen, ist der einzig lebendige und überzeugende Beweis dafür, dass das Christentum auch heute noch eine wirkliche Zukunftschance hat.“ (45)
Aus seinen Analysen und Vorschlägen sollen folgende herausgestellt werden:
s.
Quer durch sein Büchlein ziehen sich immer wieder Auswahlfragen. Ein tüchtiger Pfarrer oder Bischof wäre demnach nicht dort zu finden, wo sich einer reibungslos in den vorherrschenden Kirchenbetrieb eingefügt hat. „Der beste Missionar in einer nichtchristlichen Diasporasituation wäre der beste Kandidat für ein kirchliches Amt“, meint Rahner diametral entgegen geübter kirchlicher Praxis.
Viel Raum gibt Rahner der Zulassungsfrage zur Ordination. Er entwickelt einen sehr interessanten Ansatz, indem er sich deutlich vom Weihewunsch oder einer Weiheforderung distanziert: Das kirchliche „Amt“ bezieht seine Vollmacht nämlich „nicht einfach vom Willen der einzelnen Glieder der Kirche her“ (142). Sondern die Gemeinde ist der Bezugspunkt des Amtes, sie soll geeignete Kandidaten aufstellen und auswählen. Ob Mann oder Frau, verheiratet oder nicht, seien nachgeordnete Fragen. Die „Frage des Priestertums der Frau ist nicht primär von den individuellen Wünschen der Frau und ihrem Selbstverständnis und ihrer Selbstbehauptung her zu sehen, sondern von den Bedürfnissen, Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer Gemeinde her“ (136).
Dazu ist aber zu sagen, dass Rahner dabei eigenständige Basisgemeinden im Sinn hat, keine bloßen Verwaltungssprengel der Amtskirche, und er erwartet von ihnen, die wesentlichen kirchlichen Grundfunktionen selbst zu tragen. Stets geht Rahner von der Identität zwischen Gemeindeleiter und Eucharistieleiter aus, und bemisst der konkret ausgeübten Gemeindefunktion eine logische Priorität gegenüber der amtlichen Bestellung zu einer solchen Funktion (134f). Er sieht also Personen anerkannt Dienste tun in ihrer Gemeinde, und erwartet deren Bestellung als Amtsträger.
Diese Freiheit gewinnt Rahner durch den Begriff einer relativen Ordination (131), indem nämlich ein Amt nicht mehr generalisierend für jeglichen Einsatz definiert ist (überall einsetzbare Priester mit großem funktionalen Einsatzradius), sondern jeweils nur für eine bestimmte Gemeinde, und nicht ohne weiteres auf andere Gemeinden übertragbar (wie das in etwa beim verheirateten Diakon verwirklicht ist). Hier gibt ihm einerseits die Entwicklung recht, indem zunehmend Priester auftreten, die nur an wenigen Orten für bestimmte Dienste einsetzbar sind, während andererseits die Mobilität und Ortsungebundenheit der Gemeinden wie der Funktionsträger außerordentlich zugenommen hat, was letztlich zu Lasten eben dieser Gemeinden geht. Ob die Gemeinde selbst nun solche Erwartungen prinzipiell erfüllen kann (oder zu Rahners Zeiten erfüllen konnte), wird genau zu prüfen sein. Gewiss ist sie darin zuwenig und mit untauglichen Mitteln gefördert worden, und deshalb ist ihre Untauglichkeit und Impotenz bereits die Folge einer falschen Strukturentscheidung. Andererseits kann doch schwerlich behauptet werden, die Entwicklung der westlichen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten hin zu einem radikalen Individualismus hätte durch kirchliche Entscheidungen aufgehalten werden können.
t.
Immerhin wird nun die gesellschaftliche Dimension des Positionstextes Rahners sichtbar. Denn seine prophetische und parresiastische Dimension wird erst dort ausgespielt, wo jene amtsbesessene, obrigkeitliche und ritualbezogene Kirche nicht nur als unzeitgemäß, sondern überhaupt als unkirchlich gebrandmarkt wird: „Wer die gesellschaftlichen Verhältnisse einfach für selbstverständlich und gut hält, der muss sich als Christ fragen lassen, ob er wirklich glaubt“ (147), schleudert Rahner den saturierten Christen und Amtsträgern entgegen, die für ihre Privilegien kämpfen anstatt für eine größere Menschlichkeit der „unterentwickelten Völker“ oder unserer „ziellosen Konsumgesellschaft“ (149).
Und nun bringt der Theologe den Hauptbegriff in Anschlag, die „Konkupiszenz“, die Begehrlichkeit, die Selbstbezogenheit des Menschen, die alle seine Institutionen prägt. Da kann an die Verabsolutierung des Marktes und seiner Gesetze gedacht werden, oder an den Zerfall der letzten bindenden gemeinschaftsbildenden Institutionen, an die Herrschaft des Bildes oder der Selbstbedienung in jeglicher Hinsicht, oder an die Abschottung des Westens in der zuvor von ihm globalisierten Welt – Rahner deutet das alles nur an. Umso heftiger warnt er davor, sich mit den staatlichen Institutionen allzu sehr zu arrangieren, ohne kritische Distanz aufzubauen. Der fortschreitende Abbau von zentralen Ordnungsfunktionen mag ermüden und Christen zur ausweglosen Anerkennung des Faktischen verführen, aber gerade darin verfehlen sie ihren kirchlichen Auftrag, so Rahner (152f). Für Gerechtigkeit und Freiheit einzutreten kann nicht dispensiert werden, man möchte da heute an die Betreuung von Asylanten denken, aus denen die Politik schamlos ihren Nutzen zieht, oder an die Hilfen für Alleinerziehende, die größten Opfer des extremen Individualismus, und ihre Betreiber zugleich. Überall dort ist Engagement von gemeindlichen Christen zu erwarten, und an diesen Fronten bewährt und bewahrheitet (Parresia) sich Kirche, oder sie scheitert – so Rahner.
u.
Die Gemeinde, die Rahner vorschwebt, verdient Augenmerk. Der medial kräftig unterstützte Trend zur Emanzipation von jeglichen Autoritäten schadet gewiss der Großkirche, so wie allen anderen Großinstitutionen, seien es Politik oder Gewerkschaft, Schule oder Universitäten. Er kann aber einer nicht autoritär, sondern kollegial verfassten Gemeinde zugute kommen, sofern sie sich nicht selbst genügt, sondern sich mit Perspektiven an gesellschaftlichen Missständen abarbeitet. Ein lohnendes Ziel wäre bereits die Kräftekonzentration auf eine nicht bloß rituelle Kinder- und Jugendpastoral, die zu überzeugen versucht und Bindungen aufbaut. Dafür müssen selbstverständlich Freiräume in Liturgie und Gemeindeleben geschaffen werden, sollte dieses Segment sich nicht in Marginalien und Shows verbrauchen. Dieser Pastoral könnte zugute kommen, dass viele Kinder und Jugendliche ohne Männer aufwachsen, und nicht nur Peergroups, sondern auch männliche Bezugspersonen gefragt sind. Weiters brauchen alleinerziehende Mütter Entlastung sowie häufig Beheimatung und freundschaftliche Beziehungsangebote.
Was die basisgemeindliche Selbstorganisation der Gemeinden angeht, ist die Entwicklung Rahner nicht entgegengekommen. Die Autoritätshörigkeit hat wohl eher noch zugenommen, ob bei Modetrends oder betriebseigenem Wohlverhalten, gepaart mit kommunikationsarmem Individualismus. Selbst bei pfarrlichen Sozietäten mit einer gewissen Eigenständigkeit ist doch meist ein bestimmter Habitus mehr identitätsbildend als ein wirklich kirchliches Anliegen, und auch das noch eher in Abgrenzung zu den gewöhnlichen Nachbarpfarren als zum kreativen Aufbau der Gesamtkirche. Insgesamt scheint sich die Gemeinde kaum über das bürgerliche Nineau erheben zu können und eher mit Anpassungs- als mit Gestaltungsaufgaben beschäftigt.
v.
So mag nun diese parresiastische Ansage am Schluss stehen bleiben, trotz mehrerer Jahrzehnte völlig unverbraucht, weil unbeachtet, und in ihrem Wahrheitsgehalt inzwischen nur noch sichtbarer geworden. Was noch hervorgehoben werden soll, ist zuerst die klare und eindeutige Option für die Strukturen. Ungeachtet der persönlichen Integrität von Amtsträgern, ist christliches Handeln nur dann kirchlich zu nennen, wenn es auch strukturelles Handeln ist. Das bedeutet zunächst, dass man ohne soziologische Analysen nicht auskommen wird, dass persönliches Dafürhalten und konkrete individuelle Erfahrungen nicht ausreichen, um pastorale Ziele zu beschreiben. Weiters ist zu folgern, dass der Konstituierung von Öffentlichkeit besonderes Augenmerk geschenkt werden muss. Jede Pfarre und christliche Gemeinschaft braucht das, um überhaupt Mitglieder zu bekommen, um Meinungsbildung zu ermöglichen und um Optionen auszubilden und umzusetzen. Im österreichischen Rundfunk sind da (weitgehend kirchlich autonom) hervorragende Kräfte am Werk, auf Diözesanebene und darunter hingegen wird bestenfalls in die kircheninterne Öffentlichkeit investiert. Diese Schwäche rächt sich regelmäßig in Kampagnen, die sich zynisch gegen die abgeschottete Kirche richten. Es wäre viel mehr Aufmerksamkeit nötig für die freie Meinungsbildung im öffentlichen Raum – eine wahrhaft parresiastische Aufgabe.
w.
Was die Struktur betrifft, so ist nicht nur die Analyse, sondern auch die Korrektur gesellschaftlicher Missstände, sowie eigenständige kirchliche Strukturbildung nötig. Will man strukturelles Wahrnehmen stärken, so müssen natürlich soziologische und andere Fächer in der Ausbildung forciert werden, sowie auch die interne Kommunikation für Strukturfragen sich öffnen. Beispielsweise vermisse ich längst eine eindeutige Option für innovative pastorale Kräfte in den Städten und Hauptpfarren, während diese wie Pfründe an altgediente honorige Herrschaften im Pensionsalter vergeben werden. Das halte ich für strukturell fahrlässig. Ebenso ist mit Rahner dringend anzuraten, die schwächer werdenden Kräfte zu bündeln, also etwa ähnlich denkende und tätige Seelsorger zusammenzuziehen, anstatt sie jeweils isoliert an Einzelorten sich abarbeiten zu lassen, ohne Nutzen füreinander und für das größere Ganze. Anstatt eines frommen Jahresmottos wären klare Handlungsoptionen zu treffen. Und nicht zuletzt muss auch gesagt werden, dass nach Jahrzehnten medialen Trommelfeuers gegen den Priesterzölibat endlich einmal eine interne Bestandsaufnahme geboten wäre, mit allem Mut und gebotener Offenheit. Es ist nicht zu erwarten, dass die Voraussetzungen dafür irgendwann günstiger werden als bisher.
x.
Über das Strukturelle hinaus spricht Rahner aber auch parresiastisch über Innovation. Unzweifelhaft gilt seine Sorge nicht den altgedienten, konservativen Kräften (was zukunftsträchtige Entscheidungen betrifft), sondern den Kirchenfernen und ihrer Gewinnung. Das sollte sich von der Kirchenleitung bis zu den pastoral Tätigen in Schulen und Gemeinden auswirken. Er rät, unhaltbare Positionen rechtzeitig mutig zu räumen, „ohne noch lange an deren Verteidigung Kräfte zu verschwenden“ – man mag da etwa an Ehescheidung oder an kirchliche Feiertage denken. Noch brisanter fragt er, „ob man bei einem solchen Marsch in die Zukunft der Kirche immer alle die braven Leute in der Kirche mitnehmen kann“. Hier werden gewiss viele Verantwortliche aufschreien und Rahner Rücksichtslosigkeit vorwerfen wollen, sind sie doch von jeher gewohnt und angeleitet, immer möglichst alle im Blick zu behalten, oder, genauer beobachtet, jedenfalls die leicht Zugänglichen und Gefügigen. Und damit haben sie, und vor ihnen schon Jahrhunderte, jeweils einen bestimmten Typus des Christen selegiert, der somit innerkirchlich die Oberhand behält und (evolutionistisch ausgedrückt) die meisten Nachkommen hat. Und an dieser Selbstanpassung wird die Kirche so wie jedes andere Großsystem zugrunde gehen, prophezeit (unparresiastisch) Niklas Luhman, der Systemtheoretiker.
Weiter Rahner: „Wenn man nur sehr begrenzte Kräfte für die äußere Mission zur Verfügung hat, ist es doch gewiss erlaubt, dass man die meisten Kräfte zur Missionierung der Menschen einsetzt, die das größere geschichtliche Potential für die Zukunft repräsentieren“(64f). Daraus nun wären verbindliche Optionen abzuleiten, etwa eine für Kinder und Jugendliche, für Paare und Familien, für Künstler, oder für Berufstätige bestimmter Branchen. Auch für den Priesternachwuchs, sogar für Gemeindemitarbeiter und Pfarrgemeinderäte, sollte das einmal in aller Ruhe durchgedacht werden. Jedenfalls mahnt Rahner für jegliche Innovationen in aller Klugheit: Rechtzeitiges Planen und rechtzeitiger Beginn der Ausführung des Geplanten müssen in einer Zeit geschehen, in der das Geplante noch gar nicht absolut dringend und für jedermann selbstverständlich ist.“(67) Es ist unschwer zu sehen, dass diese Parresia von Entscheidungsträgern bisher nicht angehört worden ist. Trotzdem darf auch das die pastoral Tätigen nicht dispensieren von dem eigenen kirchlich-revolutionären Engagement, denn heute spricht der Parresiastes nicht mehr nur zu Tyrannen.
weichensteller - 17. Apr, 22:45