Mittwoch, 26. Januar 2011

Robert Musils Apokalypse

a.

Gewöhnlich stellt man sich unter einer Apokalypse einen Katastrophenreigen vor, eine Untergangsstimmung in warnendem Tonfall. Wir denken an die Klimaerwärmung und die damit verbundenen Szenarien von Überflutungen, Hitzeperioden oder Artensterben. Wir denken an Erdbeben oder an Kometen. Oder wir sehen Bilder des Wütens von Menschen an anderen Menschen, die sie abschlachten. Einmal ist die Natur der Dämon, der die Welt bedroht, das andere Mal der Mensch. Jedes Mal ist es aber der Mensch, der leidet. Diese Apokalypsen beschreiben, wie etwas zu Ende geht. Der Friede, ein ökologisches Gleichgewicht, die Unbekümmertheit einer dominanten Zivilisation. Die apokalyptische Tendenz der Weltnachrichten kommt in warnendem Tonfall und gibt den Wink, es könne eine Rettung geben. Dieser apokalyptische Genus ist aber keine Literaturgattung, denn ihr ist keine Autorschaft zuzuordnen. Denn dieselben Schreiber der Klimakatastrophen preisen interkontinentale Gasleitungen oder Absatzrekorde von Autoherstellern, wie sie Bahntunnel verlachen oder Tierschützer bemitleiden. Derselbe warnende Ton gilt sowohl der Massenzuwanderung wie auch der Massenabschiebung; es handelt sich um einen leeren Gestus, der von der Erwartung der Informationskonsumenten bestimmt ist, nicht von der Sorge Wissender.
Um eine literarische Gattung handelt es sich erst dann, wenn ein Wissender schreibt. Sein Wissen stammt daher, dass er das Zuendegehen bereits im Blick hat – gewöhnlich so, dass er es beim Schreiben bereits hinter sich hat. Während die Apokalyptiker der Weltnachrichten (oder regionaler Machtinteressen) strategische Interessen bedienen, sucht der Zurückblickende nach Erklärung und Erkenntnis. So sind vom Großteil des Alten Testaments, der im babylonischen Exil verfasst wurde, apokalyptische Tendenzen zu erwarten, die den Verlust des Landes und des Tempels erklären und rechtfertigen wollen, sowie auf ganz ähnliche Weise auch vom Neuen Testament bis auf Paulus, denn es wurde nach der römischen Tempelzerstörung und der Verbannung der Juden geschrieben. Dennoch wird im folgenden gerade Paulus den Leitfaden geben zur Erschließung der Musiltexte, die ich für die Analyse ausgewählt habe.

b.

Manche Analytiker suchen Autorentexte aus den Autorenbiographien zu erschließen. So versucht man, literarische Bilder auf bestimmte Erlebnisse des Autors zurückzubeziehen. Karl Corino hat das beispielsweise für die musilschen Romanfiguren gemacht, für die er reale Vorbilder im Leben des Autors aufgespürt und prominent mit Bildern und Postkarten unterlegt hat. Wer auf solche Weise unbeschwert an die vorliegenden Textbeispiele herangeht, wird unschwer den ersten Weltkrieg im Hintergrund erblicken, wenn von der Lethargie Kakaniens schwadroniert wird, sich aber im nächsten Augenblick über den ironischen Tonfall wundern müssen, denn der im Krieg dienende Offizier hat keine Spur von Kriegsereignissen hinterlassen, keine Klagen über Niederlage und Kriegsnot, und schon gar keine pazifistischen Ratschläge.
Es wird bei den ausgewählten Textbeispielen aus dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ tatsächlich der Kriegsausbruch als die Zensur der Zeitenwende erscheinen, aber nicht aus biographischen Gründen, sondern als Markierung bestimmter Auffassungen von Zeit. Gerade im Kakanienkapitel springt das ins Auge. Aber bevor wir uns diesem Abschnitt nähern, soll zunächst der ganze Roman in den Blick genommen werden. Es wird darin ein Geschehen entfaltet, das im Sommer 1913 beginnt, und ein Jahr dauern soll, nämlich eine Entscheidungssituation einer Romanperson, die als Selbstfindung oder Selbstbestimmung bezeichnet werden könnte, und im Buch „ein Jahr Urlaub vom Leben“ genannt wird. Für den Leser erkennbar, läuft das Geschehen also auf den Kriegsausbruch zu, von dem die Romanfiguren natürlich nichts wissen. Das ist eine besondere Zeitstruktur, nämlich eine Spannung zwischen einer innertextlichen Unbestimmtheit, an der sich das Textgeschehen abarbeitet, um eine Entscheidung zu vollbringen, und einer außertextlichen Bestimmtheit und geschichtlichen Entschiedenheit, die sich doch letztlich im Text selbst wieder finden sollte, wäre er nur zu Ende geschrieben. Autor und Leser sind in dieser Textanlage zu geheimen Vorauswissern geworden, die den ahnungslosen Romanfiguren dadurch überlegen sind. Diese eigentümliche Zeitbestimmung des Romans soll in Erinnerung behalten werden, wenn nun das Kakanienkapitel untersucht wird und dessen besondere Zeitbegriffe zur Sprache kommen.

ERSTES FRAGMENT:
DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN
8. KAPITEL: KAKANIEN
S. 31-35
c.

Der Abschnitt beginnt mit einer kritischen Passage. Kurz gesteckte Ziele sind Ausdruck eines Effizienzdenkens, welches der Text ironisch ausführt. Es läuft auf die Aussage hinaus, die Tat sei wichtiger als ihr Sinn – heute würde man sagen, die Performance geht vor den Inhalten. Diese Polemik wird in eine Darstellung von Beschleunigung weitergeführt: kurze Ziele, schnelle Rhythmen, wenig Denken. Diese Entwicklung gibt sich wie jede Modernisierung als demokratisch gewählt – und damit auch abwählbar: aber das entlarvt sich als Irrtum. Die erste apokalyptische Wende erblickt in dem, worin der moderne Mensch zufrieden und vertraut zu leben scheint, ein Verhängnis. Die Sache hat uns in der Hand, die Schienen werfen sich selbst voraus, niemand ist dafür verantwortlich, kein Subjekt, keine Entscheidung, kein Widerruf.
Nur ein Gegenbild: Kakanien, das Reich des Guten, das österreichische Gegenmodell, das Aufatmen angesichts des Verhängnisses.
Es sind zwei Existenzweisen, die hier einander gegenübergestellt werden, es ließe sich auch sagen, zwei Epochen. Die gemütlichere ist bestimmt von Dörfern, Landstraßen durch schöne Landschaften und ein wenig Hochseeschiffahrt, durch eine klar strukturierte Gesellschaft, wo jedes Individuum seine festgelegte Zugehörigkeit hat, und eine klerikal – liberale Regierung. Ich würde sie als die bürgerliche bezeichnen, die deutlich zwischen Adel und Unterschicht positioniert ist, und in der kirchlich bestimmte sowie liberale Lebensformen gegenüberliegende Pole sind. Das Auffällige an dieser Formation ist das Maß. Großstädte statt Megastädten, moderne Technik statt hypermoderner, bewaffnete Großmacht statt Supermacht, Koexistenz statt totaler Konkurrenz bei Vernichtung der Unterlegenen. Und die Sprache, die das wiedergibt, ist eine nostalgische. Es ist ja bereits verloren, und wahrscheinlich erweist sich erst im Rückblick aus einer unmäßigen Zeit die maßvolle Haltung der untergegangenen Kultur.
Dagegen ist die Lebenshaltung, die sich durchgesetzt hat, die des Tempos und der Maßlosigkeit. Ihr Fortschrittsgeist beruht auf der Rücksichtslosigkeit gegenüber Andersdenkenden, und deren Vernichtung, wenn sie überwunden sind. Die angesprochenen Nationalitäten im Vielvölkerstaat emanzipieren sich vom Kaiser und seiner klerikal-bürgerlichen Gesellschaftsform. Die meisten Interpreten sehen in dieser Existenz schon die faschistische Biopolitik, welche Leben nach eigenen Vorstellungen produzierte, die der Autor vor Augen hatte, der vor der Diktatur fliehen musste und die gewalttätige Verfügung über den Menschen mitansehen musste. Ist schon genügend beachtet worden, dass der 2. Weltkrieg von Anfang an als Blitzkrieg konzipiert war, als ein Überrennen Europas und des Mittelmeerraums? Hastig greift der Besitzanspruch in den Raum, inzwischen eher mit ökonomischen Mitteln. Zuweilen ist in dieser beschleunigten Zeit, auch gestützt auf andere Textstellen des Romans, das Bild einer amerikanischen Großstadt gesehen worden, die für den Autor das äußerste Sinnbild der Moderne darstellte, sozusagen den Punkt, auf den die Entwicklung zulaufe. Aber es handelt sich um nichts weniger als die sich durchsetzende demokratische Massengesellschaft, die weniger durch Entscheidung und Wahl, sondern eher durch Massenproduktion und Massenkonsum gekennzeichnet ist. Diese sind es, die die Menschen gleich machen, wodurch Abstammung und hierarchische Ordnung, auch die Verbindung mit Grund und Boden, obsolet werden.

d.

Die neun Charaktere, die den modernen Menschen ausmachen, zeichnen zunächst einen alles relativierenden Pluralismus nach, der die Person in Rollenbilder auflöst. Und vollends der zehnte Charakter, die leere Sickergrube, die nichts festhalten kann, führt überdeutlich die Substanzlosigkeit des modernen Menschenbildes vor Augen, nichts Eindeutiges, nichts Festes, alles ein Fließen, ein Jenachdem. Ohne zureichenden Grund ist etwas, das nicht es selbst ist und keine Identität hat.
Die Lethargie Kakaniens ist eine Als-Ob-Existenz: viel, aber nicht zuviel, modern, aber nicht zu modern, Ordnung, aber nicht totalitär. Statt faktischer Ereignisse passiert dort etwas, mit eingeschränkter Wirklichkeit und ohne Konsequenzen. Ich möchte diese Verfassung Kakaniens als ontologischen Vorbehalt bezeichnen. Sie lässt sich mit dem vergleichen, was der Apostel Paulus als messianische Existenz beschreibt: Die Gestalt dieser Welt vergeht! Daher soll, wer eine Frau hat, sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als würde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht (1 Kor 7, 29f). Der fortgeschrittenste Staat, der sich selber nur noch irgendwie mitmachte, war auf eine geheimnisvolle Weise seiner Vollendung nahe, bevor er durch eine Katastrophe an der Erfüllung seiner Mission gehindert wurde. Was bei Kakanien eine verhinderte Epiphanie sein mag, ist bei Paulus umgekehrt die Parusie, die Erwartung der Erscheinung des Messias. Das beiderseitige Nichterscheinen des Messianischen wird jeweils apokalyptisch markiert: Das katastrophische Ende Kakaniens verhindert seine Vollendung, während die Apolkalypse bei Paulus die Erscheinung des Messianischen in den vorläufigen Formen der Welt bedeutet. Beide Apokalypsen sind also spiegelverkehrt.
Aber beide eint der Gegensatz zum tatsächlich inzwischen erfolgten Fortschritt der Zeit, welcher jeden Vorbehalt weggeräumt hat zugunsten einer fraglosen und reflexionslosen Unmittelbarkeit, im Sinne der faschistischen Totalität der Menschenverfügung wie auch im Sinne der konsumorientierten Totalität der Menschenverfügung.

ZWEITES FRAGMENT:
KAPITEL 109: BONADEA, KAKANIEN; SYSTEME DES GLÜCKS UND GLEICHGEWICHTS
S. 527-530
e.

Der zweite Text beginnt mit einem Zitat. Credo ut intelligam, sagt Anselm von Canterbury, - „Ich versuche, nicht zu verstehen, dass ich glaube, sondern ich glaube, damit ich verstehe.“.
Der Kredit ist das gnadenhaft Gewährte, das von der Zukunft Vorweggenommene. Anselm zitiert hier seinerseits Augustinus, der Glauben ganz in Verbindung zum Denken sieht. Der Glaubensakt setzt bei Augustinus ein Gedachtes voraus: Nicht jeder, der denkt, glaubt, aber jeder, der glaubt, denkt, und glaubend denkt er und denkend glaubt er. (Sermo XL III 6,7 und 7,9) Das Gedachte ist das Gegebene – aus Gnade. Das Denken Gottes, das Denken seiner selbst, das Denken des Kommenden – Anselm geht von der antiken Identität von Denken und Sein aus und führt sie weiter bis zum Gottesbeweis mithilfe des „ontologischen Arguments“: Wenn die Idee Gottes, des höchsten und wirklichsten Wesens, im Verstand sei, dann nur deswegen, weil er wirklich sei. Wie sonst könne der unfassliche Gott ins Denken kommen als durch seine freie Offenbarung. Dass Gott sich dem Menschen zu denken gibt, dass Gott dem Menschen die Welt zu denken gibt, sich selbst, seine Zukunft – all das ist Gnade, freies Geschenk Gottes. Des Menschen Denken nimmt teil an dieser gnadenhaften Gegebenheit. Und wenn er antwortend diesem ihm im Denken Gegebenen zustimmt und es bejaht, so ist es Glaube. Glauben können ist ein zweiter Gnadenakt, so sehen es Augustinus und Anselm. Der Mensch bekommt Kredit, indem ihm Welt, Wirklichkeit und Leben geschenkt sind, und einen zweiten Kredit, um das Geschenkte bejahen und lieben zu können. Der doppelte Kredit bezeugt und schafft eine doppelte Freiheit: Gott könnte die Welt auch nicht sein lassen, und er könnte sich dem Menschen nicht zu erkennen geben, und auch diesen sich selbst nicht. Und auf der anderen Seite könnte auch der Mensch seine Zustimmung verweigern, könnte Gott, Welt und Mensch negieren und die Gnade zurückweisen. – Könnte er das wirklich? Kann der Mensch überhaupt existieren, wenn er seine eigene Existenz nicht bejaht, und zugleich die der Welt und alles Gegebenen? Man sieht ein großes Feld sich hier auftun, wie der Mensch sich nun bewegen kann in dieser ihm geöffneten Welt, und welche Bejahung und Liebe er vollbringt, und mit welchen Konsequenzen.

f.

Den Kredit entziehen heißt aber dann, die Gabe der Zustimmung verweigern. Die Welt bleibt, aber der Mensch kann sich nicht mehr an ihr freuen. Die Menschen bleiben, aber sie werden nicht mehr geliebt. Gott bleibt, aber er wird nicht mehr geglaubt. Credo ut intelligam: Mir ist kein Glaube gegeben, um zu verstehen. Die Gabe des Überschusses, der hoffnungsvollen Erwartung des Kommenden, der zuversichtlichen Anwendung und Verwirklichung des Gegebenen, wird entzogen. Der Mensch hat alles, aber er wird nicht froh damit. Und wenn mangels Kredit der Zustrom von Sein und Leben, von Zukunft und Hoffnung aufhört, dann kann der Mensch nur mehr das Vorhandene aufbrauchen und abnützen bis zur Nichtigkeit, und zuletzt sich selbst. Das ist der Horizont des entzogenen Kredits, es ist die schlimmere Apokalypse, das Heraufdämmern nicht einer neuen Zukunft, sondern des Endes von allem. Es lässt sich ganz leicht darin die Lebenshaltung der Maßlosigkeit wieder erkennen, die Tempo hat, aber keine Substanz, rücksichtslosen Fortschritt, aber keinen Sinn. Nun ist aber ein Licht darauf gefallen, warum der Mensch die Sache nicht in der Hand hat, warum er den Gang der Zeit nicht ändern, vom Zug nicht abspringen und nicht ins alte Kakanien zurückkehren kann: Er hat keinen Kredit mehr, hat über seine Verhältnisse gelebt, hat mehr verbraucht als bejaht. Das Geschick, in das er hineingelaufen ist, ist sein Glaubensschicksal. Und nun erscheinen wie von Geisterhand der massenhafte Rohstoffverbrauch, der die Erdoberfläche verwüstet und die Atmosphäre erhitzt, die rücksichtslose Ausbreitung und Selbstbehauptung der Völker und ihrer Ansprüche, und ganz besonders die wahnwitzigen Spekulationen auf ganze Währungen und Volkswirtschaften, bis zum Zusammenbruch von Staaten und der Weltwirtschaft, als ein einziger Vorgang des unrechtmäßigen Verbrauchs ohne Kredit, also gnadenlos.
Und dagegen stand Kakanien.
Als utopisches Gegenbild zum rücksichtslosen hedonistischen Massenkonsum. Die Gestalt der Welt vergeht, aber Kakanien? Nun, dieses Biotop wird erst nach seinem Untergang zum Gegenbild und Ankerplatz der Hoffnungen. Ist nicht die Europäische Union eine Wiedererfindung des Vielvölkerstaates? Nur der kakanische Geist und Atem lässt sich in diesem Europa nicht finden, den atmen höchstens noch die Reste der Beamtenschaft oder der Verwaltung. Stattdessen sind Politik und Wirtschaft nur Prozedere, nur wiederholbare leere Abläufe ohne Inhalt und Substanz. Bildungsreform? Wer fragt danach, was Bildung ist, wie Menschen sich bilden wollen, mit welchem Ziel, wie sie dann sein wollen. Keine Vorstellung, die über einen gut bezahlten Job hinausginge.

g.

Bevor nun die messianische Zeit genauer untersucht wird, einerseits vom biblisch-paulinischen Gesichtspunkt, andererseits von Musil aus, soll unterdessen den beiden Lebenshaltungen nachgegangen werden, die sich bisher angedeutet haben in den verschiedenen Geschwindigkeiten. Ich greife dabei auf die Analyse von Panajotis Kondylis, „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“ zurück, die 1991 erschienen ist.
Kondylis beschreibt eine typisch bürgerliche Lebenshaltung, die sich als soziale Größe seit dem Mittelalter etabliert und die ehedem hierarchischen Denk- und Lebensformen des Mittelalters nach und nach umformt. Auf diesen Faden können die aufkommende Naturwissenschaft, die geistige Aufklärung, die absolutistische Staatsform ebenso gereiht werden wie die Entwicklungen der Künste und der Literatur. Kondylis setzt Höhepunkt und beginnenden Niedergang des Bürgertums in der Mitte des 19. Jahrhunderts an, also etwa in der Mitte zwischen Klassik und Klassizismus, zwischen absolutistischem Staat und Parlament, zwischen Hegemonialkämpfen und den totalen Kriegen ganzer Bevölkerungen im 20. Jahrhundert.
Hohen Symbolwert hat Kondylis´ Beschreibung des Klassischen, wie es in Architektur und Musik, Malerei und Literatur bis heute maßstäblich ist. Dessen innere Ordnung sucht Harmonie, die dem Menschen und der Natur innewohnenden Gesetzen folgt. Es geht um Zusammenklänge und Werkstrukturen in der Musik, Größenverhältnisse von Gebäuden, um ästhetische Proportionen, für die auf die griechische Klassik zurückgegriffen wird. Dadurch wird eine Zeitlosigkeit ausgedrückt, eine zeitlose Gültigkeit bestimmter Normen, anthropologischer Konstanten sozusagen, nach denen sich Kultur und Kunst zu richten haben, und an denen sich das Bildungsideal orientiert. Der bürgerliche Roman dieser Epoche folgt dem autonomen Zusichkommen des Menschen, der in sich die großen Zusammenhänge erkennt und sich in Gefühl und Liebe, Denken und autonomer Lebensführung über die engen Grenzen der feudalen Gesellschaft hinwegsetzt. Wenn Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ als Schlüsselroman betrachtet werden kann, dann lassen die Briefform, die Kämpfe um die gesellschaftliche Position und Anerkennung, und besonders das Ringen um Lebensorientierung in der Liebe den sehr klaren Vorrang des Persönlichen und Authentischen erkennen, der für den bürgerlichen Stand so typisch war. Man sieht aber auch die Gegner, das feudale System mit seiner unumstößlichen Ordnung, die von der Herkunft abgeleitet war, also von etwas Gottgegebenem. Epochemachender Ausdruck des Kampfes gegen diese höhere Ordnung ist wohl der Faust, der mit Hilfe von Denken und Wissenschaft, von pragmatischer Bündnispolitik und metaphysischer Kaltschnäuzigkeit eine Selbständigkeit und Unabhängigkeit erreicht, die ihn zugleich aber völlig isoliert.
Ohne dass Kondylis auf solche konkreten Beispiele einginge, zeigt er dennoch klar die Zusammenhänge auf, die zwischen solchen persönlichen Bestimmungen bestehen wie dem Streben nach wirtschaftlicher und geistiger Autonomie, der neuen Dominanz des Persönlichen, Privaten, des Gefühls und der Liebe, sowie den öffentlichen und gesellschaftlichen Vorgängen der Selbstbehauptung von bürgerlichen Formationen durch Wissenschaft und Bildung, Markt und Handel, demokratischer Mitbestimmung und künstlerischer Autonomie.
Es ist auffällig, wie bürgerliches Denken zwar weiterhin an Gott und Religion festhält, aber ohne Metaphysik, sondern bloß als Garantie einer Ethik. Der bürgerliche Agnostizismus akzeptiert Gott als Stütze der Moral, der wissenschaftliche Deismus erkämpft völlige Freiheit der Forschung, die gesellschaftliche Entwicklung wendet sich zum Diesseits und zur Praxis. Und als treibende Kraft dieser Entwicklung, und das betrachte ich als das Verdienst Kondylis´, kann das Bürgertum festgemacht werden, das auf diese Weise seine eigene gesellschaftliche Stellung und seinen Einfluss erkämpft und durchsetzt.

h.

Was bedeutet das für Kakanien? Nun, Figuren wie Tuzzi und Fischel, Walter und der General, Diotima und Bonadea sind eindeutig Vertreter dieser Ordnung, Arnheim und Leinsdorf sozusagen deren bleibende aristokratische Antipoden. Die Parallelaktion bildet ein repräsentatives Forum dieses kakanischen Kosmos´. Sie sorgt sich an der Schwelle des Übergangs zur neuen Epoche, die sie eigentlich vorbereiten soll, um die bürgerlichen Tugenden wie Ordnung und Pünktlichkeit, Fleiß und Weitblick, Berechenbarkeit und Anständigkeit. Sie sucht nach Idealen und nach der goldenen Mitte, und nach der richtigen Trennung oder Verbindung zwischen dem Privaten und Öffentlichen, zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Es geht um das rechte Maß, und die entsprechende Geschichtsauffassung ist die evolutionäre, nach der stetiger Fortschritt eine immer weiter zunehmende Weltbeherrschung bringen soll.

Es ist diese Geisteshaltung, der der Kredit entzogen wird. Das lethargische Kakanien hat den Glauben an sich und seine Zukunft verloren, es macht sich selbst nur mehr irgendwie mit. Darum tritt es aus der Geschichte aus, und darum kann die Parallelaktion den Sinn nicht finden, die leitende Idee. Kakanien glaubt nicht mehr und hat keinen höheren Sinn mehr. Die neue Zeit bringt Unglauben, Hedonismus und Maßlosigkeit. Der Kaiser hatte die Schutzmacht verkörpert, der die Untertanen sich mit Treue überantwortet haben, die berit – der Bund: das war einmal der Glaube Kakaniens gewesen.

i.

Als Vertreter dieser neuen Zeit muss Ulrich angesehen werden, der Mann ohne Eigenschaften. Als Ingenieur ist er Repräsentant der technischen Weltbeherrschung, die Kondylis in der Massenproduktion der Güter weit über die unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen hinaus die neue Geisteshaltung des schrankenlosen Konsumismus bestimmen sieht. Als Militär mag er Vertreter des neuen Sicherheitsdenkens sein, das in Kriegen und Unruhen lediglich eine Störung der Wohlfahrt entwickelter Staaten betrachtet – oder, näher am Autor, Teilnehmer am Untergang des alten Systems, sowie des darauffolgenden militaristischen Staates. Und als Mathematiker vertritt er eine neue Art von Philosophie, die nicht metaphysisch spekuliert, sondern an der Berechenbarkeit und Entzauberung der Welt arbeitet. All diese Berufe und Tätigkeiten gab es natürlich auch davor. Aber ihre Zusammenfassung in einer Person drückt doch einen viel größeren Herrschaftsanspruch aus, noch dazu, wenn es dezidiert um Fragen vom Sinn von Welt und Leben, um die angebrochene neue Zeit und um die radikale Selbstbestimmung ohne Kompromisse mit althergebrachten Normen geht. Im Leben Ulrichs zeigt sich von Anfang an ungenierter Hedonismus und extremer Individualismus, erst vor diesem Hintergrund wird die Leidenschaft seines Kampfes um Wahrheit – besser: um das richtige Leben verständlich. Sein Einzelkämpfertum steht der großen, mehr oder weniger harmonischen Einheit Kakaniens diametral entgegen. Wie ein Dandy oder ein Bohemien missachtet er Norm und Ordnung, sein Weltbild ist angriffig und vom Kalkül bestimmt. Wie im Bild der neun Charaktere ausgeführt, haben die Vorstellung von Form und Substanz sowie von der Einheit der Person ausgedient, und an ihre Stelle sind stets wechselnde Funktionsbestimmungen getreten. Wie die Figuren auf den Buchseiten zu leben und einander zu lieben, geniert sich Ulrich, zu Diotima gesagt zu haben.
Der extremen Fragmentierung der Welt entspricht ihre beliebige Konstruierbarkeit, wofür die letzten Bestandteile zu finden sind, aus denen jedes beliebige neue Funktionsganze synthetisch aufgebaut werden kann. Solche Elemente hat man einst in Atomen und Zellen zu besitzen gemeint, in Arten und Gattungen, in Ich, Es und Über-Ich, in Organen und Organfunktionen, in Genen, und schließlich überhaupt nur mehr in Funktionen, aus denen irgendwann jedes beliebige Material aufgebaut werden kann, synthetische Materialien, Tiere, Menschenkörper, Wohlbefinden, ein Gesellschaftskörper, Bildung, Politik, Geist oder Kirche. Sobald man weiß, wie es funktionieren soll und die Materialgrundlagen erforscht hat, kann es hergestellt werden. Kondylis nennt es das massendemokratische synthetische Zeitalter, ermöglicht durch industrielle Massenproduktion von weit mehr als nötigen Gebrauchsgütern, verbunden mit einem Menschenbild des Produzenten und Konsumenten, mit frei wählbaren Werthaltungen ohne Verpflichtung, da Normen nicht abgeleitet oder hierarchisch geordnet, sondern jeweils individuell verfügt und eingesetzt werden – was gerade der Sinn des demokratischen Leitbegriffs wäre. Diesem Synkretismus der Werte und Religionen entspricht auch ein Synkretismus des Wissens und Denkens – alles ist mit allem kombinierbar und bedeutet nichts, jedenfalls nichts außer seiner eigenen unmittelbaren Verwertbarkeit.

j.

Kondylis nennt die bürgerliche Denk- und Lebensform zeitbestimmt, nämlich evolutionistisch und fortschrittsoptimistisch. Es ist diese Haltung, die andere Völker und Kulturen als primitive Entwicklungsstufe bezeichnet, von Pizarro bis zur Sklavenpolitik der Südstaaten noch vor einigen Jahrzehnten. Der massendemokratische Hedonismus sei dagegen raumorientiert. Statt einem kalkulierten Fortschritt käme es nunmehr zur permanenten Wachstumsforderung unter Ignoranz und Missachtung sowohl der Vergangenheit wie der Zukunft. Es ist nun diese Haltung, die Raubbau und Verwüstung unseres Planeten rechtfertigt mit der Erwartung, künftige Generationen würden die jetzt erzeugten Probleme lösen. Gleiches lässt sich von der Nukleartechnik sagen, gleich ob für zivile oder militärische Zwecke, gleiches von synthetischen Nahrungsmitteln, gleiches von der beschleunigten Lebensweise unter immer synthetischeren Umständen. Nachbürgerliche Lebensweise ist per se ein Leben auf Kredit, ohne Maß für das Leistbare, gleichgültig, ob gedeckt oder nicht.

An Romanen zeigt Kondylis das Schwinden der Handlung, denn eine Geschichte zu erzählen wird allmählich unmöglich. Es gibt einerseits eine weitschweifende Subjektivität, die sich in lauter Reflexionen ergeht, und andererseits Taten, die wie Ereignisse plötzlich dastehen. Man sieht leicht, dass Musil selbst ein gutes Beispiel für diesen Wandel in der Literatur abgibt. In der Frage des Zeitablaufs erscheint er zunächst klassisch, in der Handlungsarmut und dem Reflexionsreichtum dagegen sehr modern, besonders in dem beinahe lyrischen Sprachausdruck und den vielen Experimenten und Wortschöpfungen. Aber selbst die epische Zeitform steht vor der Auflösung, da es so gut wie keine (geplante und entwickelte) Handlung gibt, dafür aber die Parole zur Tat.

Die massendemokratische Lebensform sei nach Kondylis nunmehr am Raum orientiert. Wir denken an Weltkriege und Globalisierung, die moderne Form des Kolonialismus. Kondylis spricht von der Verräumlichung der menschlichen Psyche oder der neuen Musikschöpfungen, die sich nicht mehr vorwiegend an linearen Abfolgen orientieren. Die völlige Auflösung des Substanzdenkens zeigt sich in der Rückführung von Werten und Normen auf Herrschaftsinteressen. Statt einer Wahrheit existieren nur Konventionen, die sich fortlaufend ändern. An die Stelle der bürgerlichen Vorstellung eines harmonischen Ganzen aus Teilen und Proportionen ist nun die Struktur getreten, die Materie selbst wird aufgelöst in Funktionsfelder, die alltäglichen Erfahrungen von Raum, Zeit und Kausalität werden abstrahiert, aber auch das physikalische Weltbild selbst wird als Fiktion betrachtet mit einem gewissen, vorübergehenden Erklärungswert.

DRITTES FRAGMENT:
KAPITEL 116: DIE BEIDEN BÄUME DES LEBENS UND DIE
FORDERUNG EINES GENERALSEKRETARIATS DER GENAUIGKEIT UND SEELE
S. 589-600
k.

Um nun endlich zum Roman zurückzukehren, nämlich zum dritten Textfragment, so ist nun wohl bereits einiges Licht auf die Parole der Tat gefallen. Eine Tat wird gefordert, etwas soll geschehen, ohne dass ein bestimmtes Ziel, Sinn oder Absicht auszumachen sind. Also eine Tat, keine Handlung. Um diese fiktive Tat kreist die ganze Parallelaktion. Es ist wie ein Forschungslabor zur Herstellung eines neuen Stoffes, nämlich der Selbsterschaffung Kakaniens, der multiethnischen Nation, der geistigen Substanz. Pate des Experiments ist Graf Leinsdorf, der Druck auf die Bürgerlichen in seiner Runde macht. Zwischen ihm und Ulrich, dem Bürgerschreck, kommt es zu unerwartetem Einverständnis. Die Erzeugung der Seele in der Fabrik, das kommt dem Landadeligen verständlich vor, wenn schon alles von Grund und Boden gelöst ist. Und gerade in diese Richtung ist auch Ulrich geführt worden in seiner geheimen und geheimnisvollen Vision von den beiden Bäumen inmitten des Gesprächskreises im Salon.

Wenn unter Gewalt, nach den tastenden Umschreibungen und Erklärungen, soviel wie die rücksichtslose Existenzform des Lebens auf ungedeckten Kredit hin verstanden werden darf, und wenn dafür der weniger lyrische Ersatzbegriff Zynismus erlaubt ist, und der Erzähler führt selbst die Grausamkeit des Mathematikers an, so lässt das Bild der Liebe eher an eine unbekannte Weise innerer Zusammengehörigkeit denken, eine dem Synthetischen nicht zugängliche Form von Identität, die nicht herstellbar ist, sondern sich nur von selbst ereignen kann.
Auffällig ist an dem Bild sogleich, dass eine Vision ja ein Widerfahrnis ist, etwas Ungeplantes und Unverfügbares, und damit sofort im Gegensatz zu Ulrichs angriffiger Haltung, die ja im Baum des Tages dargestellt wird. Und auch der Inhalt des Bildes zeigt ein passives Geschehen: Ulrichs Leben wächst in zwei Bäumen, die einander gegenüber stehen und sehr unterschiedlich sind, aber polar zusammengehören. Es gibt nichts zu entscheiden und nichts zu tun. Alles Kämpfen und Forschen erscheint umgekehrt wie ein ruhiger, unbeirrbarer Vorgang des Wachsens. Und was kann dieses etwas bizarre Bild bedeuten? Nun, im Paradies stehen zwei Bäume, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis. Da die Geschichte sich um den Baum der Erkenntnis und seine Früchte dreht, ist der andere Baum viel weniger prominent. Der Baum des harten, genauen und berechnenden Umgangs mit der Welt, dieser Baum des Kalküls, wird dem Baum der Erkenntnis entsprechen, dessen Früchte ja zum Verlust von Heimat und Einheit geführt haben. Der andere, schattenhafte Baum steht für die gleitende Logik der Seele, also für ein anderes Denken und Leben, und für Leben überhaupt. Ulrich sieht hier etwas gegenüberstehen, was zusammengehört. Damit ist seine Geschichtsdeutung, anders als bei Kondylis, nicht das zweier Epochen, die aufeinander folgen. Sondern das Existieren ereignet sich in zwei verschiedenen Weisen, die aufeinander bezogen sind: Glaube und Erkenntnis.

l.

Die gleitende Logik der Seele ist eine im Menschen verborgene Lebensweise, die der kalkulierenden und planenden Verwirklichung widersteht. Ulrich sieht sie verbunden mit seinen großen Ahnungen von Liebe und Heimat, Ursprünglichkeit und Ganzheit, Vertrauen und Hingabe. Als vom ontologischen Vorbehalt Kakaniens weiter oben die Rede war, ist bereits Paulus zu Wort gekommen. Ich möchte nun nochmals auf seinen ersten Korintherbrief zurückkommen, und auf seine Besprechung der Geistesgaben, ab dem 12. Kapitel. Es geht zunächst um eine Aufzählung und vorläufige Bewertung, indem die einzelnen Gaben als aufeinander verwiesen gezeigt werden. Von den aufgezählten neun Geistesgaben sind die ersten beiden, Weisheit und Erkenntnis zu vermitteln, in der Nähe des Baumes der Erkenntnis, die anderen könnten eher dem Baum des Lebens zugeordnet werden. Bei der Aufzählung des Mannigfaltigen geht es aber darum, alles aus dem einen Geist stammend zu sehen. Darauf folgt das Gleichnis der Gemeindegaben als Glieder eines Leibes, die aufeinander verwiesen sind. Damit kommt der Argumentationsgang scheinbar zum Ziel: verschiedene Begabungen dienen dazu, eine Gemeinde in Eintracht aufzubauen – das Gegenüberliegende soll der Einheit und dem Wachstum dienen.
Es mündet aber diese Argumentation in das Hohelied der Liebe: prophetische Rede, Erkenntnis, Glaubenskraft oder Wohltätigkeit sind für sich gesehen noch gar nichts. Erst die Liebe gibt ihnen ihre Bedeutung. Alle diese Tätigkeiten sind begrenzt und laufen auf ein Ende zu. Was sie schließlich zum Verschwinden bringen wird, ist die Erscheinung des teleion, des Vollendeten – damit ist die Ankunft des Messianischen gemeint. Bis dahin ist Erkenntnis nur Stückwerk – ex merous – wie durch einen Spiegel gesehen, dann aber, in der Erscheinung, oder im Zuge der Erscheinung des Messianischen, ist es ein Schauen von Angesicht zu Angesicht – ein Geschautsein und Erkanntsein ebenso wie ein Erkennen. Dieses Ereignis des Messianischen, von dem Paulus spricht, hat seine Eigenart im Personal-Dialogischen: Nicht nur Erkennen, um das Erkannte vor sich zu haben und über es verfügen zu können – das drückt der Baum der Erkenntnis aus, oder bei Ulrich der erste, stärkere Baum der Gewalt. Sondern zumal Erkennen und Erkanntsein, also selbst mit der eigenen Person betroffen sein, nicht nur für die Folgen des Erkennens, sondern vom Erkenntnisgeschehen selbst betroffen, also miterkannt. Das erkennende Gegenüber wird nicht genannt. Prosopon pros prosopon, von Angesicht zu Angesicht. Das Erblicken im messianischen Ereignis ist ein Erblicktwerden. das Reden ein Angesprochensein, das Schenken ein Beschenktsein usw. Dieses Prosopon pros prosopon ist kein Gegenüber zweier Subjekte, die ihre Zuwendungen kalkulieren würden. Prosopon ist Angesicht – also die Weise der Zuwendung. Dieser Begriff wird im 4. Jahrhundert verwendet, um das Zueinander zwischen Jahwe und dem Messias-Menschensohn auszudrücken: Vater-Sohn, 1. Person – 2. Person. Dasselbe Zueinander, dasselbe Anschauen/Angeschautwerden nimmt Paulus als Ereignis des Messianischen.

Dieses messianische Ereignis sieht Paulus in drei menschlichen Vollzügen stattfinden: in Glaube, Hoffnung und Liebe. Es sind also nicht besondere Tätigkeiten, und es hat keinen Sinn, sie einzumahnen oder zu fordern. Denn Glauben ist ja ein Selbst-Geglaubtwerden, Hoffen ein Selbst-Erhofftwerden, und Lieben ein Selbst-Geliebtwerden, nicht hintereinander, nicht zuerst du, dann ich, nicht zuerst Glaubwürdigsein, dann Geglaubtwerden usw. sondern beides als ein umgreifendes Ereignis. Dieses Ereignis ist das Messianische. Es ist nicht herstellbar, kein Ergebnis irgendeines Planes oder Bemühens, es existiert nur als Geschenk, es wird gegeben. Es gibt Liebe. Weiter nichts.

m.

Paulus sieht im Von-Angesicht-zu-Angesicht die Gemeinde wachsen. Im liebenden, vertrauenden und hoffenden Zueinander der Gläubigen, in dem sich zugleich das messianische Ereignis realisiert. Die Liebe der Menschen, die gläubige Gemeinde ist selbst der Ort des Messianischen. Nicht ihr Ergebnis, diese oder jene Liebestat oder Glaubenshandlung, sondern sie selbst. – Außerhalb des Messianischen aber sind diese Ereignisse rätselhaft – ainigma: undeutlich, weil indirekt. Durch einen Spiegel gesehen nämlich. Außerhalb des Messianischen sieht der Mensch nur sich selbst. Im andern, im Glaubensbruder, im Vorgang sieht er jeweils das, was er selbst hineingelegt hat. Als Bestätigung, als Kritik oder als Aufgabe.

Und nun zurück zu Ulrichs Vorstellung von den beiden Bäumen seines Lebens. Es geht nicht darum, dass es zwei sind statt einem. Es geht nicht darum, diese Spannung zwischen ihnen aufzulösen, indem sie zusammengebracht werden oder einer der beiden eliminiert. Gerade in der Spannung liegt ja das Entscheidende, sie ist ja das, was sein Leben wachsen lässt, als innere Gewissheit des Gegenüber, das ein Zueinander ist, ein Füreinander, ein einander Beantworten. Wüsste Ulrich nicht im Grunde von seinem eigenen Auf-etwas-aus-Sein, das nicht und nicht zur Ruhe kommen will, er hätte sich schon längst abgekoppelt und wäre zur Ruhe gekommen, in irgendeinem Brotberuf und einem Familienidyll. So aber gehört sein Aus-Sein zu seinem Wesen.

n.

Bevor wir uns nun dem Ende des dritten Fragments zuwenden können, nocheinmal zurück zum Korintherbrief, zu einer Stelle, die bereits genannt wurde. Die Zeit ist zusammengedrängt, hat Paulus erklärt, und damit ein Leben im Messianischen begründet, das ein Als-Ob ist. Kairos synestalmenos, die Zeit des Zwischen, nämlich zwischen der gewöhnlichen, chronologischen Zeit, und dem Ende der Zeit, also der Ewigkeit. Es geht hier nicht um das Ende selbst, das Eschaton. Das Messianische ist nicht das Ende, sondern das zusammengedrängte Zwischen. Dieses Zwischen ist das Geliebtsein/Lieben bzw. Lieben/Geliebtsein, also das Zumal des Liebens, des Hoffens und des Glaubens. In diesem Zwischen findet das Messianische statt.

Die Zeit, die uns bleibt, sagt in seinem großartigen Paulus-Kommentar Giorgio Agamben (2000), ist die Zeit, die wir haben. Daraus folgt das Frauen Haben als ob nicht Haben, Weinen als ob Nichtweinen usw. – Agamben identifiziert dieses hos me als einen Vorgang wie das Segeleinziehen oder die Kontraktion eines Tieres vor dem Sprung. (81) Die Parusie, die häufig als Naherwartung der Wiederkunft Christi übersetzt wird, bedeutet nach Agamben einfach Anwesenheit – wörtlich para ousia: Neben-Sein. „Die messianische Anwesenheit ist neben sich selbst, weil sie, ohne je mit einem chronologischen Zeitpunkt zusammenzufallen oder ihm hinzugefügt zu werden, ihn gleichwohl ergreift und ihn im Innern zur Vollendung bringt.“ (84) Es ist dasselbe Zeitverständnis, das mit dem Sabbat gemeint ist, dem Tag der Ruhe, der heiligen Zeit, der Zeit der Vollendung und der Unterbrechung. Die Ereignisse um Mose führt Paulus figürlich (typologisch) als messianisches Ereignis an, für uns, „in denen sich die Enden der Zeiten gegenüberstehen – ta tele ton aionon katenteken“ (87) – antao heißt entgegenkommen, begegnen, teilhaftig werden. (EH: uns, die das Ende der Zeiten erreicht hat) Von Angesicht zu Angesicht, betont Agamben. Dieses Gegenüberstehen der Enden der Zeiten, „dieses Angesicht zu Angesicht, diese Kontraktion ist die messianische Zeit.“ (88) In ihr gewinnt die Vergangenheit (das Abgeschlossene) wieder Aktualität, während die Gegenwart auf andere Weise abgeschlossen wird. (89)

o.

Wie aus der Zeitlosigkeit tritt Ulrich in die Zeit zurück und macht in der verdutzten Runde der Parallelaktion den Vorschlag vom Erdensekretariat für Genauigkeit und Seele. Es geht um eine Abschließung der Zeiten. Sie soll für das Jahr 1918 angesetzt werden, in welchem ja die Parallelaktion das österreichische Jahr vorbereiten soll, da Kaiser Franz-Josef das siebzigste Thronjubiläum begehen soll. Bis dahin – 1913 bis 1918 – also verdichtete Zeit, Zeit der Abrechnung. Die geistige Generalinventur soll den Geist Kakaniens zur Vollendung bringen und zum Messianischen hinwenden, bzw. sein Abgewendetsein beenden und sein Hingewendetsein bestätigen. Jüngster Tag wird dieser Chronos genannt, er soll die Spannung auflösen und das Gegenüber der gegenläufigen Zeiten beenden. Die messianische Anwesenheit, die Parusia, das Neben-sich-Stehen, das Als-ob-nicht, soll aufgelöst werden und mit dem Chronos zusammenfallen.
Im Roman werden die darauffolgenden Ereignisse tatsächlich als verdichtete Zeit erzählt. Dramatische Entwicklungen bei zwei Paaren, mehrere Annäherungen an Ulrich, eine Erhebung Kakaniens gegen die vermuteten Pläne der Parallelaktion, ein nächtlicher Heimweg und eine alles in neues Licht setzende Veränderung kommen in den folgenden hundert Seiten auf Ulrich zu, ohne dass er irgendetwas davon ahnt.
Aber auch die geschichtliche Entwicklung, die Autor und Leser kennen, zeigt eine verdichtete Zeit, zeigt Aufbäumen und Untergang Kakaniens, dem endgültig der Kredit entzogen wurde und das 1918 zu existieren aufhört.

Wenn man Ulrichs Vorschlag ernst nehmen will, dann läuft er auf ein neuerliches In-Kraft-Setzen des credo ut intelligam hinaus. Das Glauben wäre eine Übereignung an das Messianische, ein neuer Bund also, ein Glauben, Hoffen und Lieben, als ob man selbst geglaubt, erhofft und geliebt wäre, also nicht mehr ein Leben-als-ob-nicht, wie Paulus sagte, sondern ein Glauben – Hoffen – Lieben als ob. Geht das?

p.

Vielleicht hat das 20. Jahrhundert tatsächlich einen solchen Versuch gemacht. Ich wäre geneigt, mit Kondylis das Bürgertum, welches sich das Christentum angeeignet hatte, erneut einen verspäteten Herrschaftsversuch unternehmen zu sehen, nunmehr bereits kein Stand mehr, sondern Mittelklasse, und mittels der sozialen Formation der Volkskirche nochmals anschließen wollend an der klaren Eindeutigkeit der bürgerlichen Ordnung der Familie, der Gemeinde, der Bildung, des Wohlstands und Fortschritts, und im Schutz dieses Nestes zugleich seine völlige Abschaffung vorbereiten zu sehen, während in relativ kurzer Zeit die hedonistische Konsumgesellschaft hervorbricht und im selben Aufbäumen zugleich Bürgertum und seine Werte, wie auch das bürgerlich gewordene Christentum an die Wand drückt. Bezeichnenderweise gibt es nun zwischen den drei entstandenen Positionen, den Bürgerlich-Liberalen, den Messianisch-Christlichen und den unbeirrbar Konsumorientierten, Flügelkämpfe und Konversionen, besonders zwischen den ersten beiden. Dabei wird das Christliche konsequent auf das Institutionelle reduziert, und die bürgerlich verkrusteten Christen versuchen, sich ins Juristische zu retten. Konsumorientierte interpretieren das Christliche als eine bestimmte Erlebnisqualität, die dann und wann in Anspruch genommen wird. Die konsumorientierten Christen antworten mit Events und Populismus. Und das Messianisch-Christliche? Gibt es das schon?

Die Parusie würde sich in besonderer Präsenz ankündigen: in menschlicher Aufmerksamkeit, im Interesse am Menschen um seiner selbst willen, im Großdenken vom Menschen. Aber auch in der Herausarbeitung der Präsenz der Dinge, der Artefakte, der Natur. Deren eigener Anwesenheit. Eine messianische Kirche würde sich wie jede ernsthafte Kirche um die Armen und Bedürftigen kümmern – aber sie hätte viel weniger Sorgen um die Rechtmäßigkeit und institutionelle Verankerung als bürgerliche Kirchen. Sie würde sich sehr leicht mit anderen Dienern der Präsenz verbünden, mit Künstlern etwa, mit Philosophen, mit Kämpfern für die Menschenwürde. Und eine messianische Kirche würde die Entscheidung suchen – nun, sie würde überhaupt von der Entscheidung leben. Von der Entscheidung Gottes, welche wir Gnade nennen, Kredit geben. Und der des Menschen, der den Kredit annimmt und seine Talente vermehrt.

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