Montag, 4. August 2025

Kindertheologie

Der Name ist mehrdeutig, und das ist gut so. Ein Leser könnte eine Theologie über Kinder erwarten, über ihre gottgeschaffene Eigenheit, etwa eine Schöpfungstheologie der Altersstufen, ein nach und nach Zusichkommen des Menschlichen, das lässt gar an eine Theologie der Geschichte (Menschheitsgeschichte, Alersstufen der Menschheit) denken. Mancher mag sich eine Sammlung von biblischen Aussagen zu Kindern erwarten. Viele werden hoffen, hier würden Rezepte geboten, wie Kinder in der Glaubensverkündigung erreicht werden können, für die Eltern, für Kinderliturgie oder Religionsunterricht. So werden viele sich Impulse für praktische Arbeit erwarten, manche aber vielleicht theoretische Grundlagen. Das könnte alles stattfinden, wenn es auch nicht eigentlich intendiert ist.

Hält es jemand für möglich, dass Kinder selbst theologisch denken? Eigenständig Vorstellungen von Gott entwickeln, inspirierte Auslegungen biblischer Geschichten und Gestalten? Eigenes Glaubensinteresse, selbständige Gebetsformen mit ganz anderen Ansätzen, als viele Erwachsene ihnen vorlegen als scheinbar kindgemäß, doch kaum ausbaufähig, somit eher Sackgassen, bereits von Teenagern als Kinderkram abgetan? Können Erwachsene sich vorstellen, dass Kinder selbst spüren und wissen, wer Gott ist und wie man ihn erreicht? Dass sie dazu dienliche Hilfe annehmen und eigenständig anwenden, während sie Unbrauchbares liegenlassen?
Sind wir schon soweit, Kindern Selbstkompetenz zuzutrauen? Und sie als Empfänger der Offenbarung Gottes und seiner Gnade ernst zu nehmen? Denn wenn es so wäre, dann würden auch wir Erwachsene zuweilen Lernende sein, würden staunend und überrascht aus Kindermund Gottes Wort empfangen, manche Wegweisung und Erhellung, und von uns aus Kontakt zu ihnen suchen. Dann würden nicht Zurechtweisung und Belehrung, sondern Fragen und Suchen nach ihrer Erfahrung unseren Umgang mit Kindern prägen. Dann hätten wir nicht Vorträge oder Merktexte, sondern ergebnisoffene Gespräche. Dann würden wir nicht Kompetenzen antrainieren, sondern Erfahrungen vertiefen.
Und, nebenbei gesagt, könnte eine so entwickelte Gesprächsform auch den Umgang unter Erwachsenen verbessern. Im kirchlichen wie im schulischen Kontext herrscht ja oft die Erwartung vor, wir müssten Standards herstellen oder erhalten, einen bestimmten Betrieb, bestimmte Teilnehmerzahlen, gewisse Ergebnisse. Wenn der sogenannte Pfarrbetrieb das oberste Ziel ist, dann sind individuelle Begegnungen untergeordnet, wenn Kinder in den Religionsunterricht gelockt werden sollen, dann greift mancher Lehrer zu Videos oder Handy-Spielen. Religiöse Bedürfnisse und Erwartungen von Kindern und Erwachsenen werden oft verfehlt, und der Betrieb, in den viel Kaufmännisches und Organisatorisches investiert wird, läuft sich leer.

Es sollen darum auch hier keine Belehrungen folgen, wohl sollen aber Irritationen erzeugt und Hoffnungen geweckt werden. Ich werde Erfahrungen und Ereignisse wiedergeben, werde zeigen, wie etwas gelaufen ist, ohne sagen zu können, warum. Vielleicht gibt es im Nachhinein Erkenntnisse oder Reflexionen, aber das Beziehungsereignis steht im Mittelpunkt, sowohl in der Schule wie in der Pfarre und im Gottesdienst oder im Kindergarten.
Noch ein Wort dazu, wie ich dazu gekommen bin. Ja, ich bin ausgebildeter Pflichtschullehrer und habe verschiedene Fächer unterrichtet in mehreren Schulen. Erst dann bin ich Priester geworden. Aber was heute meinen Unterricht ausmacht, ist gerade nicht das, was ich gelernt habe: pausenloses forderndes Angehen der Kinder mit immer neuen Methoden und Abprüfen ihrer Fortschritte, permanente Beschäftigung, bestmögliche Kontrolle. Heute mach ich es umgekehrt. Ich frage meine Schüler, was sie von mir lernen wollen. Und sie sagen es mir. Das ist mein Programm!


1. Mit Fragen ins Gespräch kommen

Beispiel St. Filippen:

In jener Zeit suchte der Herr zweiundsiebzig andere aus
und sandte sie zu zweit vor sich her in alle Städte und
Ortschaften,
in die er selbst gehen wollte.
(Lk 10,1; 14. SO, Lesejahr C)


Ich war zur Aushilfe in einer Dorfkirche, gut gefüllt, ein freundlicher, offenherziger Mesner, ein Lektor und Fürbittenleser, eine humorvolle Organistin, eine Ministrantin im Volksschulalter.
Die Predigt begann mit der Frage: Warum geht Jesus nicht selbst?
Erstauntes Schweigen.
Ich bitte die Ministrantin, die im Altarraum (hinter mir) saß, in der ersten Bank Platz zu nehmen.
Ich frage sie: Hat Jesus jetzt Urlaub gemacht?
Sie schüttelt den Kopf.
Ich frage sie, was Jesus gemacht hat, während die Jünger in die Dörfer gingen.
Sie sah mich mit großen Augen an.
Ich bot ihr an: Fernsehen? Zeitung lesen? Handy spielen?
Jedes Mal energisches Kopfschütteln.
Womit war er beschäftigt?
Mit seinen Jüngern, sagt sie.
Richtet er seinen Geist auf sie?
Sie bejaht.
Betet er für sie?
Sie stimmt heftig zu.

Später frage ich: Die Jünger sollten Frieden bringen und die Kranken heilen, die dort sind. Wie machen sie das?
Eine grauhaarige Frau ruft keck: Mit Schnaps!
Ich frage: Wogegen hilft Schnaps?
Nun zählen sie grinsend auf: Gegen Bauchweh, Kopfweh, Rückenweh...

Am Ende der Messe danke ich der Ministrantin für die Predigt. Da applaudiert die ganze Gemeinde freudig. In der Sakristei fragt sie mich: Wann kommst du wieder?

Als wir uns umgezogen haben, hat der Mesner spontan Kaffee organisiert an einem Tisch im Freien, und die Organistin und andere Leute stellen sich fröhlich vor und zeigen sich beeindruckt von dem, was die Ministrantin gesagt hat.

Nachbetrachtung:
Die Ministrantin weiß, wer Jesus ist. Sie kennt ihn und kann einschätzen, wie er sich in bestimmten Situationen verhalten würde, auch wenn der Text das nicht sagt. Wir haben ja durch ein Fenster ins Textgebäude hineingeschaut, das offen war, Jesus, wenn er nicht öffentlich ist. Sie versteht sein Anliegen. Sie sieht auch einen Unterschied zu anderen Erwachsenen, die jemandem Aufgaben geben, um selbst davon entlastet zu werden. Der Apostelauftrag ist nicht Arbeitsteilung, sondern Identifikationsauftrag an die Jünger. Diesen hat die Ministrantin gerade selbst angenommen!




Beispiel St. Georgen:

In jener Zeit
stand ein Gesetzeslehrer auf, um Jesus auf die Probe zu stellen,
und fragte ihn:
Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?

(Lk 10, 25; 15. SO, Lesejahr C)


Kleine Dorfkirche, gut gefüllt mit Erwachsenen, eine Familie mit Kind in der ersten Reihe.
Die Predigt beginnt mit einem Lob der Frage. Der Gesetzeslehrer fragt nicht nach Glück und Wohlstand, auch nicht nach Gesundheit oder Beliebtheit. Sondern er fragt nach dem, was danach kommt und worum es im Leben überhaupt geht. Ich preise die Weisheit der Frage.
Der Bub in der ersten Reihe sagt: Das ist wie beim Pharao in Ägypten, der in den Götterhimmel kommen will.
Ich staune über seine blitzschnelle Übertragung der Frage in eine andere Situation.
Er kennt den Pharao und den ägyptischen Götterhimmel aus einem Buch.
Ich antworte: Der Pharao bekommt Hilfen, um in den Götterhimmel zu gelangen.
Er sagt: Die Zaubersprüche, die an die Grabeswand geschrieben sind.
Ich füge dazu: Und den Gott mit dem Hundekopf, der ihn an der Hand nimmt und den Göttern vorstellt.
Er erweitert: Und die Heldentaten, die an die Wand gezeichnet sind.
Ich fasse zusammen: Also wussten auch die alten Ägypter, dass es aufs Tun ankommt, um das ewige Leben zu erlangen. Und auch sie strengten sich an für das Jenseits, und nicht nur für Wohlstand und Glück auf Erden.

Nach der Messe fielen mir die Eltern beinahe um den Hals, so begeistert waren sie von der Messe und von ihrem Sohn, der noch nicht bei der Erstkommunion war. Sie stellten sich vor als Urlaubsgäste aus einem anderen Bundesland.


Nachbetrachtung:

Der Bub hat die Frage nach der Praxis, die das ewige Leben erbt, eigenständig angewendet auf das, was er aus seinem Buch kennt. Einerseits hat er schon die Bilder der pharaonischen Religion für sich erschlossen. Andererseits hat er die Frage des neutestamentlichen Gesetzeslehrers mit der Frage des Pharaos und seiner Priester identifiziert - eine religionsgeschichtliche Übertragung.
Über die von beiden erfragte Praxis nachzudenken war in diesem Moment nicht in seinem Blick. Wir hätten noch den Unterschied bedenken können zwischen den Heldentaten im Krieg, die der Pharao den Göttern vorweist, und den Taten der Nächstenliebe, die der Samariter darstellt. Aber das hätte das Gespräch überdehnt. Im Zentrum stand die Frage nach dem Himmel, und die gab er der Sonntagsgemeinde mit.



Beispiel: Begräbnis meines Vaters

Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:  ...
eine Zeit zum Schweigen / und eine Zeit zum Reden
(Koh 3, 1-7)

Und wohin ich gehe - den Weg dorthin kennt ihr. 
(Joh 14, 3-6)


Kirche im Dorf der Eltern, Kinder und Enkel des Verstorbenen, Freunde, Nachbarn, Dorfbewohner. In der Predigt weise ich darauf hin, dass wir nicht nur an den Vater denken, sondern dass wir ein Teil von ihm sind. Ich nenne als Beispiel die Reise- und Abenteuerlust, die ich vom Vater habe und die jeder in der Familie und in der Nachbarschaft kennt. Ich entzünde eine Kerze und stelle sie in der Schale auf. Dann lade ich die Teilnehmer ein, ebenso zu berichten. Nun kommen die Tochter, der Schwiegersohn, die Enkel und Nachbarn, und jeder hat etwas (ganz anderes) vom Vater übernommen und bezeugt es mit der Kerze vor der Trauergemeinde. Obwohl Vater schon seit Jahren dement war, entsteht so ein Bild von Lebendigkeit und Lebensfreude, die wir alle von ihm geerbt haben. Und jeder von uns spricht es zur Gemeinde hin, niemand zum Sarg, denn jeder hat den lebendigen Vater und seine lebendigen Kinder vor Augen.

Nachbetrachtung:

Die Predigt war hier die Brücke, nicht die Zusammenfassung. Die Familienmitglieder waren vorbereitet, die Freunde und Nachbarn setzten spontan fort.
Es waren keine Schulkinder anwesend, dennoch handelt es sich um Kindertheologie. Denn einerseits stammten viele der Zeugnisse aus der Schulzeit. Andererseits sind auch Erwachsene immer noch Kinder oder Enkelkinder des Vaters und der Mutter und bezeugen gerade dadurch die fortwährende Lebendigkeit des Vaters.
Es war, trotz Trauer, eine fröhliche Feier bis zum anschließenden lebendigen Totenmahl.


2. Entwickeln

Beispiele aus der Schule:

Am Ende des Semesters (des Schuljahres) frage ich die Schüler, welche Themen im Religionsunterricht die besten waren. Der Francesco, sagt die 2. Klasse einhellig. Das war immer spannend, wie die Geschichte weitergeht! Ich habe das Leben von Franz von Assisi erzählt, von der Kindheit bis zum Tod, an Thomas Celano orientiert, zuweilen ausgeschmückt mit Betonung seiner Schulzeit und Erfahrungen als Ritter, mit Topographie der Stadt Assisi und sozialem Status der Bürgerfamilie Bernardone sowie der adeligen Familie Bernadino, aus der Klara stammt. Ich erzähle (ohne irgendwelche Medien zu benützen), die Kinder zeichnen oder schreiben nach eigener Wahl. Sie entscheiden selbst, was in der Geschichte wichtig ist, wie sie es darstellen, ob es eine Szenenfolge wird oder ein Gesamtbild. Sie haben glatte Hefte in A4-Format. Es entstehen bunte großformatige Bilder, Bildergeschichten mit Sprechblasen wie Comics, zuweilen auch lange Textpassagen über ein oder zwei Seiten. Aber alle können die Geschichte wiedergeben in der nächsten Stunde! Ich lobe farbige Bilder und gute Darstellungsideen.
In der Sakramentenlehre (Hauptthema in der 2. Klasse) hat sie die Einleitungsgeschichte am meisten beeindruckt: Der Streit zweier griechischer Bauern über die Grundstücksgrenze, den der Bürgermeister schließlich mit einem schriftlichen Vertrag auf einer Tontafel beilegt, die gebrannt und dann zerbrochen wird, und jeder der beiden bekommt eine Hälfte mit der passenden Bruchlinie: . Das Symbol ist somit der sichtbare Teil, der mit dem unsichtbaren das Ganze bildet! Das Wasser, das Brot, der Wein, der Ring...

In der ersten Klasse war es "die Geschichte ohne Namen" von den Reisenden mit der Händlerkarawane in das fremde Land, mit Betonung auf die Fragen des Sohnes: Warum bekommen die Kamele zuerst Futter, und erst danach die Reisenden? Warum brechen wir so zeitig in der Früh auf? Warum gibt es in diesem Land dreieckige Häuser? Wer wohnt dort? Ich erzähle, die Kinder zeichnen. Als sich die (noch namenlose) Familie im fremden Land niedergelassen hat und der Bub die Schule besucht, kommt er eines Tages aufgeregt nach Hause: Wir haben die Götter gelernt! Die haben Tierköpfe! Und schließlich berichtet die Mutter: Wir können wieder in unsere Heimat zurück, der König ist gestorben! Und erst jetzt wird es den Schülern klar, dass es die Geschichte der Heiligen Familie war, die Flucht nach Ägypten, und die Heimkehr zeichnen sie nun selbst ins Heft.

Danach folgte die Geschichte des Saulus, angefangen mit seiner Kindheit in Tarsus, als wissbegieriger Schüler und neugieriger Hafenbesucher, der die Schiffrouten erfragt hat. Als er zum Studium nach Jerusalem kam, hat er sich hervorgetan bei der Verfolgung einer Sekte und dafür viel Anerkennung bekommen. Am Weg nach Damaskus wurde sein Weg unterbrochen von einem hellen Licht und einer Stimme. Und erst im Haus des Hananias wurde ihm klar, wer ihm da begegnet ist und wen er bisher verfolgt hat. Dann, selbst getauft und verfolgt, drei Jahre zurückgezogen zu neuerlichem Bibelstudium, lässt er sich, nachdem er Petrus kennengelernt hat, in Antiochien nieder und gründet selbst eine christliche Gemeinde. Und nun schreibt er nach langer Zeit einen Brief an seine Eltern. Den haben nun die Schüler in ihr Heft geschrieben!

Liebe Mama, lieber Papa!
Tut mir leid, dass ihr so lange nichts von mir gehört habt! Aber es geht mir gut. Ich heiße jetzt Paulus und lebe in Antiochien. Hier bin ich ein berühmter Mann geworden. Ich bin jetzt ein Christ, aber ihr müsst euch keine Sorgen machen. Das kam so...
Und Hananias ist jetzt mein Freund!

Das war der erste Brief des Apostel Paulus, der nicht im Neuen Testament, sondern in den Schülerheften steht. Kindertheologie von Zehnjährigen, in Worten und Bildern.

In der 3. Klasse wünschten sich Schüler, das Vater Unser verstehen zu lernen. Wir gingen den Text wortweise durch, ich schrieb jede Stunde nur einen kleinen Textteil an die Tafel:
Vater
Vater unser
Vater unser im Himmel

Wir verglichen den Text mit unserem alltäglichen Wortgebrauch und gingen der Frage nach, wer hier überhaupt spricht: Jesus, die Gläubigen, die Betenden.
Und zu wem gesprochen wird: Warum lässt sich Gott als Vater anreden?
Den ganzen Text durchzugehen brauchte gut ein Monat. Einige in der Klasse waren schon in der Firmvorbereitung, dort wurde das Vater Unser gebraucht. Am Ende des Jahres wurde das Thema von einigen als "Best Of" des Jahres genannt.
In der vierten Klasse allerdings, beim Jahresrückblick und Rückblick auf die ganze Unterstufe, wurde bemerkt, dass wir zwar das Gebet verstehen gelernt haben, aber doch nicht gebetet! Die Vierzehnjährigen haben das Gebet vermisst im Religionsunterricht.

Eine andere vierte Klasse hat von sich aus gewünscht zu meditieren. Die kecken Mädchen, die das wollten, setzten dann auch für die ganze Klasse durch, dass immer wieder fünf oder zehn Minuten Stille herrschte, manchmal auch länger. Es gab auch durchaus Rückmeldungen, was einzelne in dieser Zeit der Stille innerlich erlebten. Es war überhaupt eine Klasse, in der Erlebnisse wichtig waren, auch bei gruppendynamischen Bewegungsspielen. Noch heute kommen Schüler und Schülerinnen dieser Klasse, inzwischen Oberstufenschüler, am Gang auf mich zu und schwärmen von diesen Meditationen und bedauern, nicht mehr mich als Religionslehrer zu haben, und geben mir die Hand.

Meine letzte fünfte Klasse hat mich gefragt, wie denn die verschiedenen Religionen, die sie bisher bei meinen Lehrerkolleg:innen kennengelernt haben, untereinander zusammenhängen und worin die Eigenart unserer Religion besteht. Und in unserer Religion wollten sie die Apokalypse kennenlernen. Ich habe ihnen Bilder der Seckauer Apokalypse von Herbert Boeckl gezeigt und sie die Vorbilder dieser Gestalten selbständig im Text suchen lassen. Am meisten interessierte sie die Hure Babylon. Mit diesen Bildern gestalteten sie dann auf eigenen Wunsch die Adventmeditation für die ganze Schule, dafür zeichneten sie gruppenweise große apokalyptische Figuren und ließen sie im Festsaal auf unsichtbaren Angelschnüren von der Decke pendeln, zwischen denen dann bei Kerzenlicht Schüler am Morgen Platz nahmen. Den Lesetext wählten sie behutsam so, dass zwar die Hure im Zentrum stand, aber ohne genannt zu werden und ohne andere Schüler zu erschrecken.
Zur Belohnung gab es dann eine Klassenfahrt zum Stift Seckau und zum Österreichring in Spielberg in den letzten Tagen des ersten Semesters.

Eine sechste Klasse war theologisch sehr interessiert, fragte nach dem Glaubensbekenntnis und seiner Begründung. Wir begannen mit dem Johannesprolog, lasen dann (noch anonyme) Arius-Zitate, und Schüler:innen interpretierten sie frei und zustimmend. Sodann folgte die Aufklärung über die Wirkungsgeschichte der Theologie des Arius bis zu Nicäa und dem Symbolon. Ihr eigener Erkenntnisschwenk von Arius zu Nicäa beeindruckte sie, noch Jahre später nahmen sie darauf Bezug. In dieser Klasse waren mehrere Schüler:innen mit bosnisch-kroatischem bzw. slowenischem Familienhintergrund. So fuhr ich mit ihnen für eine knappe Woche (mit dem Nachtbus) nach Sarajewo, wo wir die knapp und friedlich nebeneinander wohnenden Religionen erlebten in der katholischen, orthodoxen Kirche, der Synagoge und der Moschee. Wir nahmen überall an Gottesdiensten teil und beobachteten die Architektur, Kleidung und Lebensart der Stadtbewohner. Zu Fuß durchstreiften wir die Innenstadt und die Hügel rundherum. Am letzten Tag besuchten wir das Tunnelmuseum, das vom Jugoslawienkrieg zeugt, und bemerkten erst jetzt die (inzwischen verputzten) Granatenlöcher in den Hausfassaden. Täglich feierten wir miteinander eine Laudes oder Vesper, und nach mitunter holprigem Zugang schätzen sie das Gebet schließlich doch sehr, als Zeichen religiöser Identität und Gemeinschaft (auch zwischen den Generationen).

Eine andere sechste Klasse fragte: Wollte Jesus eine neue Religion gründen? (Das ist inzwischen eine Maturafrage)
Diese Klasse wollte auch "Atheismus" kennenlernen. Sie definierten ihn als "Keingottglaube"!

Ein weiteres "Best Of" der 5. und 6. Klassen waren die Dilemma-Geschichten. Nach einigen (von mir standardisierten) Dilemmasituationen, für die Schüler in Gruppen Lösungswege suchen und begründen, folgt ein Aufriss von Lawrence Kohlbergs entwicklungspsychologisch formulierten Stufen der Gewissensbildung.

Du hast dein Studium abgeschlossen und fährst mit deinem Auto zu einer Abendveranstaltung, wo du einen Vortrag halten sollst. Du bist gut vorbereitet, dein Laptop liegt am Beifahrersitz. Du hoffst, dass dein Vortrag Beachtung findet und dass du an diesem Abend ein gutes Stellenangebot bekommst.
Du kennst die Straße nicht und musst dich konzentrieren, den richtigen Weg zu finden.
In einer Kurve siehst du Bremsspuren in die Wiese hinunter, und unten ein Auto stehen mit offenen Türen.
Kein Mensch zu sehen.
Was machst du?

In Gruppen werden Lösungen gesucht. Es zeigt sich, wie Jugendliche mit ihrer Entscheidung ihre Haltung bestimmen.
Nun ordnen die Schülergruppen ihre gewählten Lösungswege einer Entwicklungsstufe zu.
àPräkonventionelle àkonventionelle àpostkonventionelle Moral

In der Folge gibt es eine Serie neuer Dilemmageschichten, die sich am Schüleralltag orientieren: Mobbingsituationen in der Klasse, Liebesgeschichten mit weltanschaulichen Differenzen, Familiengeschichten mit auseinanderklaffenden Lebensweisen. Und Stunde für Stunde beraten sich Schülergruppen, um Lösungswege zu finden, und bestimmen und festigen dabei selbst ihre ethischen Prinzipien.

Nach dem Überfall der Hamas in Israel und dem darauffolgenden Gazakrieg werde ich in allen Oberstufenklassen nach den Hintergründen gefragt. Ich antworte mit der David-Goliat-Geschichte und den Philisterkriegen, bei größerem Interesse mit einer Israelgeschichte in Siebenmeilenschritten vom Exil in Babylon, der Tempelzerstörung durch die Römer, der folgenden Diaspora in Europa, Russland und den Mittelmeerländern bis Arabien, dem Osmanischen Reich bis zum Ersten Weltkrieg und schließlich dem Zionismus, der Gründung Israels nach der Shoah und der Gründung der PLO und dem Terror seit den Siebzigerjahren.

Im Herbst 2024 fragt mich die siebente Klasse nach der Nationalratswahl, an der die Jugendlichen erstmals teilnehmen. Ich antworte mit einer möglichst neutralen Geschichte der Parteien und unterscheide einige Wahlmotive: Klintelpolitik, Parteien als Förderer bestimmter sozialer und beruflicher Milieus; Wahl für erwarteten persönlichen Vorteil; Wahl für erwarteten Vorteil des ganzen Landes; Wahl bestimmter Persönlichkeiten, Wahl von bestimmtem Kommunikationsstil.

Regelmäßig zu den "Best Ofs" gehören die Reisegeschichten. Eine erste Klasse war vom Album mit den klassischen Fotoabzügen meiner Ägyptenreise beeindruckt (einige Schülerinnen hatten selbst eine Ägyptenreise erlebt), die achte Klasse vom Äthiopienalbum, denn eine Maturafrage thematisierte die Kirche Äthiopiens. Meine Erfahrungen mit dem Islam in Kaschmir, hinduistischem Tempelgottesdienst in Varanasi (Indien) und besonders mit dem Schamanen in Ecuador beschäftigten verschiedene Altersstufen.


Firmvorbereitung:
Vierzehnjährige zur Firmung zu begleiten zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Als ich noch Student und dann Deutsch- und Biologielehrer war, hatte ich Jugendgruppen im Jugendzentrum, dann in der Pfarre. Mit der Vorbereitung Jugendlicher auf die Firmung fand ich auch meine eigene Berufung zum Priester, denn diese außerschulische Arbeit war existenziell bedeutsamer als der Schulunterricht. Zu meinem zwanzigjährigen Weihejubiläum ging ich in meine Heimatpfarre zurück und rief die damaligen Jugendlichen zusammen, die nun Familien und Berufe hatten, um mit ihnen und meinen Weihekollegen eine Dankmesse zu feiern. Und wir legten den Prozess von Anfang an existenziell an.
Wir entwickelten ein Dreistufenmodell. Von der Reflexion auf sich selbst, die eigene Biographie, den eigenen Charakter und die Zukunftsvorstellungen (Ich-Erfahrung) gingen wir dazu über, uns miteinander zu beschäftigen, mit der Familie, den Freunden und deren Sicht auf mich (Du-Erfahrung). Und schließlich ging es um Gottesbegegnung: wir sammelten Momente des Staunens, der Dankbarkeit, Erfahrungen des Geführtwerdens. Eine große Rolle nahm das Spiel des Blindführens ein. Einer führte den anderen, der die Augen schloss, mit zwei Fingern an der Schulter behutsam durch den Park, über den Gehsteig, sogar ins Stiegenhaus und die Wendeltreppe des Pfarrhauses hinauf bis zur Pfarrerwohnung und wieder hinunter. Dann kam die Reflexion, ob man sich der Führung anvertrauen konnte, ob man noch wusste, wo man sich befindet, ob die Aufgaben zu schwierig waren. In diesem offenen Erfahrungsbezug lag bereits damals etwas, was ich später vertiefte und noch einmal ausführlicher besprechen möchte: der Zug zum Offenen.

Schon in der ersten Kaplanpfarre ging ich mit der Firmgruppe in den Stephansdom, um eine Bischofsweihe mitzufeiern (damals wurde Alois Schwarz geweiht). Und fuhr mit der Jugendgruppe für zwei Wochen in die Türkei, nach Istanbul und nach Assos, um Kirchen, Moscheen, den Basar, den Hafen zu sehen, an dem Apostel Paulus ein Schiff bestieg, und schließlich nach Troja. Wir wohnten in einer WG oder am Campingplatz. Die Jugendlichen machten ein Video mit einem Dokumentarfilm über Außerirdische, die all diese Bauwerke errichtet hätten, und interviewten einander als Forscher und Entdecker. Mit einer Oberstufenklasse war ich in der letzten Woche des Schuljahres, gemeinsam mit dem Latein- und der Geschichtelehrerin, in Rom: wieder eine Stadterkundung auf eigene Faust, der vorchristlichen, der frühchristlichen und der Stadt der Renaissance.

Später wurden meine Firmgruppen zu Aktionsgruppen, indem wir Gottesdienste anderer Religionen unserer Stadt besuchten: Moscheen, evangelische, koptische Kirche, eine Freikirche, eine buddhistische Pagode, ein Sikhs-Tempel, immer mit einer Begegnung mit Gläubigen, wenn möglich mit einem Gottesdienst. Natürlich wurde dann auch unser eigener Glaube thematisiert - in einem erweiterten Kontext. So standen die Firmkandidaten mit Aufnahmegeräten am Kirchentor und befragten die Gläubigen, warum sie die Sonntagsmesse besucht hätten und was sie mit nach Hause brächten. Und wir feierten eine Messe im Freien, auf der Wiese im Wäldchen, nur unter uns.
Andererseits fuhr ich mit der Jugendgruppe auf ein Zeltlager. Vierzehn Jugendliche mit vierzehn Jahren in Zelten auf einer Wiese beim Fluss, mit Lagerfeuer, gemeinsamem Kochen und kleinen Ausflügen. Buben und Mädchen nahmen Rücksicht aufeinander und waren auf einmal erstaunlich selbständig. Zur Selbst- und Gemeinschaftserfahrung kam nun die Naturbegegnung. Oder wir fuhren in eine große gotische Kirche und übernachteten drinnen am Steinboden. Zu Mitternacht schickte ich die Jugendlichen einzeln auf den Friedhof hinaus, um auf die Geister zu hören. Wenn sie zurückkamen, erzählten sie, was sie gehört und gesehen hatten.
Für all das brauchte ich natürlich gute Partner in der Pfarre, eine Mutter, die ihre Kinder mitnahm und sich auf diese Woche einließ. Auch für sie war es eine Erfahrung!

Zuletzt machte ich die Firmvorbereitung für drei Pfarren. Ich hatte 35 Jugendliche, die ich in zwei Gruppen am Sonntag Abend zusammenrief. Ich hatte sozusagen zwei Schulklassen im Pfarrsaal um den Tisch herum, und in der zweiten Reihe saßen noch einige Eltern, die ihre Kinder hergebracht hatten und selbst interessiert waren am Thema. Jeder der jungen Menschen hatte mir bei der Anmeldung einen Brief übergeben, wo er/sie mir schrieben, was sie von mir lernen wollten. Das machte ich dann in der Firmstunde.
Dort stand:
Was bedeutet die Firmung?
Ablauf der Firmung
Firmpate
Sonntagsmesse
Was ist Beten
Unterschied zwischen evangelisch und katholisch
ich glaube an Jesus, aber nicht an Gott
Unterschied zwischen Priester und Pfarrer
Tod
Kennenlernspiele, Ausflüge, Spaß

Und die Firmvorbereitung dieser Pfarren startete mit einer Silvesterwanderung auf den Ulrichsberg und einer Gipfelandacht. Der Abschluss war ein österlicher Emausweg mit 70 Firmkandidaten aus dem ganzen Dekanat von der Kirche über Waldwege zu einem nahen Bauern, wo es eine Erfrischung gab, und auf anderen Wegen zurück zu einer Andacht in der Kirche. Die Jugendlichen gingen mit einem für sie unbekannten Firmleiter, der von sich aus versuchte, über eines der Themen mit ihnen ins Gespräch zu kommen:
Jesus
Beten
Auferstehung
Bei der Andacht (die Jugendlichen stimmten ab, ob ich die Emausgeschichte vorlesen oder frei erzählen sollte) erzählten sie von ihren Wegerfahrungen und nannten, was sie nun von der Vorbereitung zur Firmung mitnehmen. Dazwischen spielte und sang ich Lieder von Kaplan Flury.

An dieser Stelle könnte ich darüber berichten, was all diese Ereignisse für die Erwachsenen bedeuteten, und das wird in verschiedener Weise noch ausführlich zur Sprache kommen. Zuvor möchte ich aber noch auf eine bestimmte Schule zu sprechen kommen, in der ich selbst Entscheidendes gelernt habe. In meiner Diakonatszeit und in den ersten Kaplansjahren unterrichtete ich in einer Waldorfschule Religion. (Das ist für diesen Schultyp nicht selbstverständlich, denn ansonsten hat man dort die Christengemeinschaft bzw. Ethikunterricht, und den hält oft der Klassenlehrer. Als konfessioneller Religionslehrer hat man also Konkurrenz und sollte zugleich anschlussfähig sein.)
Die Waldorfpädagogik ist sehr auf die Kindesentwicklung fokussiert, weit mehr als die Regelschule. Im Zentrum steht die Erfahrung des jungen Menschen bei der Erschließung der jeweiligen Stoffgebiete. Die Schüler:innen bekommen Zeit für ihre individuelle Auseinandersetzung, es gibt "Epochenunterricht", das sind zu mehreren Wochen geblockte Einheiten, in denen das jeweilige Semesterziel erreicht werden soll. Das gilt für all die Fächer, die vom Klassenlehrer unterrichtet werden, für Religion eigentlich nicht. Trotzdem übernahm ich diesen Rhythmus und nahm mir Zeit für einzelne Themen. Ein anderes Anliegen der Waldorfpädagogik ist die sprachliche, bildnerische und musische Weise der Erarbeitung des Lernstoffs, das eigenständige Gestalten. Da gibt es keine vorgegebenen Merktexte, Ausmalbilder oder Medienstrecken, sondern das Hauptmedium ist das Schulheft, glatt, A4-Format, möglichst viel Freiheit zum eigenen Gestalten ohne restriktive Vorgaben durch Linien oder Kästchen. Und das Hauptmedium ist die Schüler-Lehrer-Beziehung, das gegenseitige Vertrauen, die Kompetenz des Lehrers, sein Sprechen, seine Entscheidung über den zumutbaren und erwarteten Lernprozess. Hier lernte ich, Bibelgeschichten anschaulich zu erzählen, auch Bilder farbig an die Tafel zu malen, Sachverhalte mit der Tafelkreide grafisch zu strukturieren. Ich erinnere mich an eine Stunde in der Volksschule, als ich einen lebenden Laubfrosch mitbrachte. Ich hatte die Kinder auf dieses Tier vorbereitet. Nun zeigte ich es und öffnete das Glas. Atemlos bestaunten die Kinder das kleine Tier und dessen pulsierende Schallblase. Und plötzlich sprang der Frosch in hohem Bogen in die Klasse und landete genau auf der Stirn des neugierigsten und unruhigsten Buben der Klasse. Und wie besprochen, biss er die Zähne zusammen und rührte sich nicht, bis ich hinkam und den Frosch von seiner Stirn zurücknahm. Ein unvergessliches Abenteuer!
Genau diese Klasse begleitete mich später zur Priesterweihe im Stephansdom und saß auf Pölstern bei den Stufen des Presbyteriums, direkt neben mir, sodass wir Kontakt hatten während der ganzen Feier. Dieser Bub war ständig im Sicht- und Hörkontakt mit mir.
Die Waldorfpädagogik hat mich ganzheitliches Unterrichten gelehrt, spielerisch, künstlerisch, aber auch in großer Eigenständigkeit des Lehrers, der an kein Lehrbuch gebunden ist, keine vorgegebenen Unterrichtsmaterialien, sondern alles, was er braucht, selbst organisiert. Am besten gestaltet er es während des Unterrichts, zusammen mit den Schülern. Und sie hat mich gelehrt, dass der junge Mensch im Zentrum steht, seine Bedürfnisse, seine Entwicklungsfähigkeit, seine Grenzen, die anzuerkennen sind, um sie gegebenenfalls überwinden zu können. Ein Umgang mit Kindern in großer Freiheit und zugleich in großer Genauigkeit. Übrigens weiß ich von einer der Oberstufen-Schülerinnen, die damals nach Istanbul mitgefahren sind und Straßenszenen in der Altstadt gezeichnet und später bei einer Ausstellung in der Stadt ausgestellt hat, dass sie heute eine renommierte Schriftstellerin ist.

Erstkommunion-Vorbereitung:
Jedes Jahr sage ich den jedesmal erstaunten Eltern beim ersten Elternabend, dass das Sakrament, auf das wir jetzt zugehen, Eucharistie heißt und der sonntägliche Mittelpunkt der christlichen Gemeinde ist. Daher ist die Hauptstraße der Erstkommunionvorbereitung der Besuch der Sonntagsmesse. Ich verspreche sogleich, dass die Kinder immer angesprochen werden, wenn sie da sind. Manche Eltern macht das skeptisch, denn sie hätten lieber ein begrenztes Programm, das sie mit wenig Aufwand absolvieren können, besonders solche Eltern, die lieber den Schwerpunkt auf Bastelrunden oder sonstige Aktivitäten gelegt hätten. Es gibt einen starken Trend hin zu Beiläufigkeit und weg von der Gottesbegegnung, auch bei Mitarbeiter:innen. Man kann da mitschwimmen oder ein anderes Angebot dagegenstellen.
Seit einigen Jahren wende ich meine Methode des Bibelerzählens auch in der Erstkommunionvorbereitung an. Ich biete vier Jesus-Stunden an.
1. Geschichte ohne Namen
2. Die ersten Jünger
3. Das Monster in der Wüste
4. Die Auferstehung
Ich stelle Buntstifte und Zeichenpapier zur Verfügung und einen großen Tisch. Ich beginne mit der Geschichte von der Flucht der heiligen Familie nach Ägypten, ohne irgendeinen Namen zu nennen, weder von Personen noch von Orten, und achte darauf, ob irgendjemand eine Ahnung bekommt, von wem hier die Rede ist. In den letzten Jahren haben auch die Eltern selbst an diesen Stunden teilgenommen, auch sie erkennen die heilige Familie höchstens dann, wenn die Rede auf den verstorbenen König kommt. Eher ist darauf zu achten, dass Mütter nicht zu telefonieren beginnen oder eine eigene Unterhaltung anfangen. Aber es gibt auch Eltern, die selbst mitzeichnen und ihre Bilder auch in der Kirche aufhängen lassen.
Am folgenden Sonntag kann ich mithilfe der Bilder in der Kirche nochmals auf Jesus eingehen. Das gezeichnete Monster, das den Versucher in der Wüste darstellt, konnte ich bei mehreren Messen hervorholen und verschiedene Verführungen thematisieren, die bei der Beichtvorbereitung eine Rolle spielten. Kinder merken schnell, dass es viele Gründe gibt, Hausübungen, Zimmer aufräumen oder das Einhalten von Zusagen aufzuschieben oder auch am Sonntag länger zu schlafen, und die Eltern merken es mit ihnen. Bei der Erstbeichte können auch Kinder zusammen mit einem Elternteil kommen, wenn sie das wollen.
Nach dieser gemeinsamen Wegstrecke von Weihnachten bis zur Erstkommunionfeier ist wirklich eine Beziehung der Kinder zu Jesus entstanden. Zu Christi Himmelfahrt wurde ich besorgt von einem Mädchen gefragt: Muss das sein, dass Jesus uns verlässt? Darauf konnte ich von Herzen in der Predigt antworten.



3. Kreativität

Das Schülerradio

Ein großer Schritt zur Kindertheologie war das Schülerradio. Ermutigt durch die Neugier und Gestaltungslust der Firmkandidaten und Schüler:innen ging ich auf die Suche nach handlichen digitalen Aufnahmegeräten, bemühte mich um ihre Finanzierung durch die Kirchenleitung und suchte interessierte Religionslehrer:innen. Wir bildeten ein Team von zehn Lehrer:innen und bekamen ein Einschulungswochenende von der Religionsabteilung von Ö1. Roberto Talotta kam nach Villach und unterwies uns in der Handhabung der Geräte und warnte uns vor den technischen Fallen. Wir lernten geduldig, eine Sendung zu strukturieren, lernten, Interviews zu führen, Klassengespräche zu moderieren, lernten auch, ein Thema so zu entwickeln, dass ein unbedarfter Hörer an das Thema herangeführt wird und die Sendung versteht, auch wenn er nicht alles gehört hat. Wir wurden auf eine Sendungsdauer von 30 Minuten und auf 60 Minuten geschult, lernten, die Beiträge zu schneiden und mit Musik abzuwechseln. Mit Radio Agora, einem nichtkommerziellen freien Radio, wurden wir einig und bekamen einen wöchentlichen Sendungsplatz.
Und nun ging es los!
Es entstanden Sendungen wie:
▪ Krieg von einer 2. Klasse, im Gespräch mit Brigadier Polainer
▪ Gefängnis: Lehrausgang ins Polizeianhaltezentrum
▪ Tod: Interview mit Bestattungsangestellten und mit jemand, der eine Nahtoderfahrung hatte
▪ Krebs in der Schule: Erfahrungen mit einer betroffenen Schülerin
▪ seltene Sportarten: Klettern, Fechten, Bogenschießen
▪ Kriegskinder: Interviews mit Großeltern, die im Krieg aufgewachsen sind
▪ Die Bahai-Religion
▪ Weihnachten für Kinder
▪ Aids
▪ Verliebtsein
▪ Obdachlosenheim
▪ Internet-Beziehungen
▪ Rauchen macht frei
▪ Eine Absolventin unserer Schule ist Politikerin
▪ Sprache - verstehen wir uns?
▪ Messbesucher und Glaube
▪ Facebook
▪ Judentum
▪ Nonnen: Gespräche mit Kleinen Schwestern
▪ Palliativstation
▪ Bombenalarm in der Schule

Man sieht die Freiheit der Themen, die manchmal Schulthemen sind, manchmal Themen des Religionsunterrichts, manchmal auch private Schülerthemen. Immer sind es aber die Schüler, die sich mit ihren Fragen in das Thema hineinarbeiten. Meistens sind es Outdoor-Aktionen, Schauplätze wurden besucht, Gesprächspartner gesucht, zuweilen wird jemand in die Schule eingeladen, oder Lehrerkolleg:innen oder andere Schüler:innen sind Gesprächspartner. Doch immer ist es ein Projekt der Schüler:innen. Sie diskutieren über das Thema, überlegen sich Herangehensweisen, erarbeiten sich die schrittweise Umsetzung. Der Lehrer ermöglicht und unterstützt. Er schafft den Rahmen mit der Schulleitung und vermittelt zuweilen Gesprächspartner.

Die Spiele:

Did you touch me? habe ich selbst von den Schülern der vorigen Schule gelernt. Drei oder vier Schüler kommen heraus und geben das Kommando: Fall asleep. Alle schauen ein auf ihren Plätzen, den Kopf in der Armbeuge. Die Drei oder Vier schleichen nun durch die Klasse und berühren jemand heimlich. Wenn alle fertig sind und wieder vorn beisammenstehen, rufen sie: wake up! Und nun erheben sich die drei oder vier Berührten und müssen erraten, wer sie berührt hat: Maxi, did you tough me? Wenn ers war, tauschen sie Platz, und der Berührte ist jetzt draußen.
Was den Kindern gefällt: Es funktioniert ganz autonom, braucht keine Erwachsenen. Es ist ein Abenteuer, heimlich jemanden zu berühren, einen alten Freund, eine bisher noch nicht deklarierte Freundschaft. Eine scheue Berührung zwischen Bub und Mädchen. Ein wilder Ritterschlag zwischen Männern. Und es ist ein besonderes Ereignis, erwählt zu werden.

Ein Spiel für ungeduldige letzte Schultage: Simon says. "Simon says: stand on one leg." Alle stehen auf einem Bein. "Simon says, sit down." Alle setzen sich. "Get up!" Wer jetzt aufsteht, scheidet aus. Nur mit "Simon says" ist es ein gültiger Auftrag. Bei übermütigen Lehrern gibt es Aufträge wie "visit the neighbour class" oder "bring a massage to the other class". Beim zweiten oder dritten Spiel bekommt ein Schüler das Kommando.

Von Schülern oft gewünscht: Stadt-Land. Bei mir geht das ohne Zettel. Zwei Teams sitzen um Tische herum. Ich wähle zwei Schüler der ersten Mannschaft, einer sagt "los!", der andere nach einer Weile "halt". Dazwischen sage ich in Gedanken das Alphabet auf, "halt" markiert den Buchstaben, bis zu dem ich gekommen bin. Diesen schreibe ich an die Tafel. Die andere Gruppe beginnt und nennt eine Stadt mit diesem Buchstaben, die Gruppen nennen abwechselnd. Wenn eine Gruppe zu lange nachdenkt, beginne ich, den Countdown mit den Fingern herunterzuzählen. Die Siegergruppe bekommt einen Stern an der Tafel.
Man muss vorher besprechen, dass Städte nicht Hauptstädte sein müssen, aber auch keine Dörfer. Bei Ländern muss geklärt werden, ob das Staaten sein müssen; Landstriche, Inselgruppen sind uneindeutig.
Meistens gewinnen dieselben Schüler, die erforderlichen Begabungen sind eng begrenzt.

Mein besonderes Spiel, über Jahre hinweg entwickelt: Raumschiff.
Schüler setzten sich in Gruppen (mindestens vier) um einen Tisch, der das Raumschiff ist, und suchen einen Namen für das Raumschiff. Sodann bekommt jeder im Team eine bestimmte Aufgabe: Commander, Pilot, Techniker, Wissenschaftler, Koch...
Ich schreibe die Namen der Raumschiffe an die Tafel.
Nun kommt die erste Aufgabe. Dafür müssen sich alle einloggen, indem sie beide Handflächen auf den Tisch legen. Ich bin der intergalaktische Zentralcomputer und verkünde die erste Aufgabe: Im Sternbild der Stiere sind die Stiere ausgebrochen. Sie trampeln über das ganze Firmament und beschädigen andere Sternbilder. Viele Sterne sind schon heruntergefallen. Sucht schnell eine Lösung!
Nun wird in den Gruppen beraten, wie der Fall gelöst werden kann. Wenn die Mannschaft eine Geschichte hat, stehen sie auf. Ich registriere die Reihenfolge. Wenn alle stehen, beginnt die erste und schnellste Mannschaft und erzählt ihre Lösungsgeschichte. Wenn ich alle Lösungen gehört habe, loggen sich wieder alle ein zur Datenübertragung, und der Zentralcomputer wählt die beste Lösung aus. Dazu summe ich so wie ein alter Commodore-Computer. Die Kriterien sind: Lösung des Problems, alle im Team beteiligt, phantasievoll, spannend, gut erzählt. Ein Beispiel: Der Techniker baut ein Weltraumlasso, damit fängt der Pilot die Stiere ein und bringt sie zurück. Der Koch macht ihnen eine beruhigende Suppe, währenddessen baut der Wissenschaftler einen Elektrozaun um die Himmelsweide. Dann streift die ganze Mannschaft über das Firmament und klaubt die herabgefallenen Sterne auf und hängt sie wieder an ihren Platz.
Wenn die Mannschaft mit dieser Geschichte die Runde gewonnen hat, setzt die nächste Runde bei dieser Lösung fort.
Zum Beispiel: Als alle auf der Erde zurück sind, sehen sie, dass sie das teure Lasso auf der Weide vergessen haben. Sie fahren zurück, um es zu holen. Aber der Minotaurus hat es im Labyrinth versteckt und bewacht es, um Menschen anzulocken.

Das Spiel ist beliebt von der ersten bis zur achten Klasse.
Ich hatte schon Teams mit einem Weltraumseelsorger, einer Sprachenexpertin, die alle Sprachen spricht, einer Tänzerin, die alle überzeugen kann, oder einem Schamanen, der mit den Geistern spricht.
Ich hatte Lösungen, die in der Bekehrung des Bösewichts bestanden, in der Hochzeit mit der Sternenprinzessin oder im Friedensvertrag mit den Klingonen.
Es ist vorteilhaft, wenn der Lehrer zumindest einige Folgen von Raumschiff Enterprise gesehen hat und wenigstens für den Start schon eine Idee hat für die erste Aufgabe. Es können beliebig religiöse Elemente einbezogen werden, z.B. beobachtet der Zentralcomputer zu Christi Himmelfahrt ein humanoides Objekt, das sich von der Erde aus quer durchs All bewegt und die Grenze des Alls durchstößt und dort ein Loch reißt, woraufhin die umliegenden Sterne ins Vakuum hinausgezogen werden.
Beim ersten Mal muss zuerst der Weltraumführerschein gemacht werden, wozu drei Aufgaben gut gelöst werden müssen. Dieser ist dann jedes Mal mitzuführen, damit der Lehrer abgesichert ist, falls es zu Unfällen oder Pannen im All kommt.
Ganz deutlich ist die Phantasie der Gewinn beim Spiel. Kinder bauen blitzschnell Abenteuergeschichten und finden zu eifriger Teamarbeit, indem die Begabungen der anderen Mitspieler geschätzt und einbezogen werden. Der Gedankenflug durchs Weltall und die Abenteuer mit Monstern und absurden Situationen werden sehr lustvoll erlebt.

Ein weiteres Spiel, das ich zuletzt mit einer vierten Klasse bis zum Exzess gespielt habe, ist Labyrinth.
Zwei Schüler verlassen die Klasse. Am Gang besprechen sie, wer von beiden blind ist und wer ihn/sie führt, und sie besprechen und testen die stummen Zeichen mit dem Finger auf der Schulter. Inzwischen verschieben die anderen in der Klasse die Tische und Stühle und bauen ein Labyrinth, durch das der Blinde hindurchgelotst werden muss. Es gilt: keine Hindernisse unterhalb der Tischplatte (keine Stühle oder Taschen im Weg). Am Ziel steht ein:e Schüler:in und hält die Hände vor zum Abklatschen. Die Schüler der Klasse sitzen auf den Tischen und beobachten lautlos. Wenn alles bereit ist, hole ich das Schülerpaar vom Gang herein. Gewitzte Klassen verdunkeln die Fenster, damit der Blinde sich nicht an der Fensterseite orientieren kann. Wenn das Ziel erreicht wurde, gibt es eine kurze Befragung von blinden, führenden und beobachtenden Schülern nach Schwierigkeitsgrad, Angstgefühlen und Kommunikation innerhalb des Zweierteams.
Die Schüler nennen deutlich die vertrauensvolle Kommunikation zwischen den beiden als Ziel des Spiels. Und sie erweitern ihre Raumorientierung und schärfen alle ihre Sinne, denn bei geschlossenen Augen hört und spürt man gut!



4. Kindertheologie für Erwachsene


Der Querblick:
Ich sitze auf der Terrasse des Restaurants, im Gespräch am Tisch, und sehe hinten die Glastür aufgehen, und eine Mutter kommt heraus mit einem Kleinkind an der Hand. Das Kind erblickt mich und winkt mir.
Ich habe beide nie zuvor gesehen.
Bin auch zum ersten Mal hier.
Meine Gesprächspartner merken nichts davon, nicht einmal, als ich zurückwinke.
Später kommen die beiden wieder zurück, wiederum winkt mir das Mädchen.

Ein Sechsjähriger kommt mit den anderen Ministranten, stellt sich vor mich hin, sieht mich an und fragt: Darf ich auch zur Ministrantenstunde kommen?
Sein älterer Bruder hat ein paar Monate ministriert, sein Vater ist Mitarbeiter und kommt gelegentlich zur Sonntagsmesse. Bis zum Schulbeginn hat der Bub mit Fremden kein Wort gesprochen und ging nur neben der Mutter. Er hat sich von sich aus um diesen Dienst bemüht und um die Gemeinschaft mit den anderen Kindern. Die anderen berieten, was der Neue am besten zuerst lernen soll. Er kam ungefähr ein Jahr lang, gelegentlich mit dem Vater, manchmal mit der Großmutter oder mit den anderen Kindern, meist jedoch alleine, von zu Hause etwa 15 Minuten durch den Wald zur Kirche. Mit der Mutter kam er nie.

Ich habe Gangaufsicht, spähe in die zweite Klasse hinein (die ich nicht unterrichte), Kinder winken mir und kommen heraus: der und der ist heute schlecht drauf, sagen sie mir grinsend, der Bezeichnete kommt auch grinsend dazu, ich frage nach, er sagt, habe die Wiederholung nicht gewusst, ich frage, jetzt ist 10 Uhr, wirds heut noch besser? Er sagt, ja schon, die anderen bezweifeln, ich frage, wirklich? Er sagt: bestimmt!
Einmal haben sie zu mir gesagt: Sie sind so lustig!

Am Gang kommen zwei Schüler auf mich zu, etwa dritte Klasse (ich unterrichte sie nicht), sagen zu mir: Ich kann nicht mehr lernen. Früher hatte ich kein Problem, aber jetzt komm ich nicht mehr mit. Ich sage: Wollt ihr mirs genauer erzählen? Sie sagen: Wir probierens noch einmal. Wochen später sagen sie mir: Es ist besser geworden, ich hab jetzt einen Einser.
Warum sagen sie mir das überhaupt?
Haben sie gehört, dass ich voriges Jahr in der Vierten ein bisschen Lernhilfe gegeben habe? Dass ich mich nach ihren (ineffizienten) Lernmethoden und Fortschritten erkundigt habe? Kinder nehmen mehr wahr, als man denkt.
Und artikulieren ihre Hoffnung.
Kindertheologie.


Wort am See:
Eine junge Frau, die ich vor Jahren gemeinsam mit ihrem Bruder zur Firmung begleitet habe, mit dieser Firmgruppe bin ich nach Assisi gefahren, ist jetzt Schauspielerin und performt selbstgeschriebene Texte. Ich habe sie eingeladen, einen eigenen Text zum Heiligen Geist zu machen und zu Pfingsten in der Messe darzustellen, und sie sagte zu. Der Wortgottesdienst war dann entsprechend reduziert, nur ein oder zwei Sätze vom Evangelium, im Mittelpunkt ihre Performance. Und es war ein Text über die persönliche Umkehr, das Zu-sich-Kommen, das Gestärkt-werden, über persönliches Wachstum, sehr berührend von einer Gefirmten zu Pfingsten zu hören.
Der Gesang folgte an diesem Sonntag dem "Woodstock"-Stil: einer singt vor, alle wiederholen im Chor. Bei dieser Methode braucht man kein Liederbuch, niemand muss den Blick abwenden, die Gläubigen sind stark mit dem aktuellen Ereignis verbunden, hören zu, sind gegenwärtig, antworten spontan. Die Texte sind einfach:
Mein Geist. Dein Geist. Heiliger Geist.
Heilig, heilig, heilig.
Lamm Gottes.

Die Menschen waren stolz auf diese junge Frau aus ihrer Mitte, und soetwas haben sie in ihrer Dorfkirche noch nicht erlebt.

Einige Monate später gab es eine Poetry-Performance mit dieser Frau auf meiner Terrasse in der grünen Landschaft in der Nähe des Sees. Dazu holte sie andere Poetry-Darstellerinnen und einen Musiker. Es wurde ein froher, auch nachdenklicher Sommerabend mit begeisterten Gästen. Alle präsentierten persönliche Ich-Texte, die jeweils eine Erfahrung darstellten, die ein Schwanken war, ein Hin-und-her-Überlegen, etwas nach allen Seiten Umdrehen, ein Erwägen, ein Versuch, etwas Schwebendes darzustellen in der Abendsonne mit dem Blick über das Tal. Mit der Perspektive der Kindertheologie kann ich sagen: Ereignisse der Menschwerdung!

Der Vizebürgermeister begegnet mir im Flur des Gasthauses. Beide sind wir ungeplant dort, ohne mit jemandem verabredet zu sein. Wir setzen uns an einen Tisch, er zeigt mir Fotos von Literaturförderern seiner Gemeinde, nach denen jetzt Straßen und Plätze benannt sind. Zeigt mir das Grab dessen, der den großen Literaturpreis des Landes ins Leben gerufen hat. Ob nicht im neuen Haus der Begegnung ein neuer Literaturpreis entstehen könnte. Für Jugendliteratur, sage ich. Es gibt schreibende Jugendliche. Junge Künstler und Dichter. Er ist interessiert. Ich sage: Die Gymnasien der Region sind untereinander vernetzt. Jede Schule hat eine Bibliothekarin. Sie suchen nach Schreibtalenten in ihrer Schule. Wir reden über eine Jury, wir reden über einen Einreichtermin und einen Veranstaltungstermin. Ein bisschen reden wir über Kosten. Ich sage: Junge Menschen schreiben nicht für Geld. Ja, eine Belohnung ist schön. Aber was ihnen hilft, ist Aufmerksamkeit. Dass man ihnen zuhört. Sich ihnen zuwendet, ihre Geschichten mitgeht, sie ernst nimmt. Sie schreiben, und wir können ihnen eine Öffentlichkeit bereitstellen.
Wir beide sind begeistert. Wir entwickeln etwas Neues. Es geht ins Offene. Wir sind mit diesem Offenen vertraut. Es belebt uns und unsere Arbeit. Wir sehen einen Schatz, der noch im Acker ist. Wir freuen uns schon mit denen, die ihn finden werden.
Kindertheologie.

Musik im Gottesdienst:
Man kann Musik als Behübschung von Gottesdiensten verstehen, als Verzierung, als "Umrahmung", wie ich zuletzt oft gehört habe. Ist damit gemeint, dass Gottes Wort nicht schön wäre? Oder dass Christi Selbstauslieferung von uns eingerahmt werden muss, sozusagen, um verträglich zu werden?
Schöne Musik im Gottesdienst kann der Erbauung und dem Seelenfrieden dienen. Sie kann die Botschaft des Evangeliums weitertragen. Kindertheologie würde ich es aber erst dann nennen, wenn dabei etwas Neues entsteht, eine neue Qualität. Wenn zum Beispiel ein Jazzmusiker für eine Messe komponiert und mit Jazzmusikern in der Kirche spielt. Das ist eine Grenzüberschreitung. Das beginnt schon bei der für Jazzer ungewöhnlichen Tageszeit. Eine Kirche hat eine ganz andere Akustik als ein Jazzlokal. Aber auch die Situation ist ganz anders, eine Sonntagsgemeinde ist solche Musik nicht gewohnt, ist überrascht, hört mit neuen Ohren. Die Musiker müssen die Hörer erst überzeugen. Andererseits ist eine Sonntagsgemeinde kein Konzertpublikum, das auf den Plätzen sitzt und nach jeder Nummer applaudiert. Eine Messe ist Aktion, die Menschen bewegen sich, antworten. Man kann das Liedschema zurücklassen. Musiker können während der Schriftlesungen spielen, bestimmte Passagen hervorheben. Während des Hochgebets. Es kann improvisierte Wechselgesänge mit den Gläubigen geben. Die Kindertheologie zeigt: hier ist Begegnung und Bewegung, und hier ist Entwicklung.

Stellen Sie sich vor, sie hören Pink Floyd in der Sonntagsmesse. "Dark side of the moon", und Sie stellen sich ein Mondraumschiff vor und erinnern sich an Schul- oder Studentenzeiten. Vor Augen haben Sie jedoch den gewohnten Kirchenraum, und irgendwo an der Seite stehen Musiker und spielen diese Musik, und den einen oder anderen kennen Sie vielleicht. Eine Entrückung. Oder Sie hören "Time", und im Evangelium spricht Jesus vom Himmelreich. Da kommen Welten in Bewegung! Kennen Sie Elvis Presley's "Love me tender"? Singen Sie einmal dieses Lied mit dem deutschen Sanktus-Text! Es ist, als wäre diese Musik für die Kirche gemacht.

Eines der radikalsten Ereignisse waren die Geräuschmessen. Musiker sind aufgefordert, zu spielen ohne einen Ton, ohne Melodie. Eine ganze Messe nur mit Geräuschen. Da braucht man ein großes Repertoire und ein Konzept. Und der Priester spricht nicht (Sprechton), sondern flüstert tonlos (aber mit Mikrophon). Alle Texte sehr reduziert, nur das Wichtigste. Die Kirche finster. Aus wenigen Worten und Klängen entsteht im Hörer eine Welt. "Adam, wo bist du?", fragt die Lektorenstimme im Dunkeln, wiederholt einige Male sehr eindringlich. Stille. Die Frage in die Stille. "Adam?" Mehr braucht gar nicht vorgetragen werden von der Lesung am Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau Maria. Und wenn im Evangelium der Engel Gabriel erscheint vor Maria, hat der Hörer bereits die ganze Begegnung vor sich. Lass ihn erscheinen und hör ihm zu! Vielleicht ein Hauch, vielleicht ein Gong, wenn er ansetzt zur Botschaft, vielleicht ein geräuschvolles Luftschnappen. Ein kräftiger Atemzug.
Es entsteht ein neues Hören. Hören wird zum Abenteuer. War das Musik? Oder ein Geräusch von draußen? Knarrt die Bank, oder ist das absichtlich produziert? Die Reduktion öffnet den Geist. Er kommt und beginnt zu suchen, tastet den Raum ab, das Geschehen, die Menschen im Raum, die eigenen Vorstellungen, die Erinnerungen. Befürchtungen melden sich, Ungeduld regt sich, sinkt wieder zurück, weicht der Neugier. Wenn die Menschen nach der Geräuschmesse hinaustreten in die abendliche Stadt, gibt es kein Geplauder wie sonst. Still gehen sie, bewegt und ergriffen.

Zusammenfassung:

Man könnte es so ausdrücken: die Kindertheologie setzt Prozesse in Gang, die unabsehbar sind. Menschen richten sich auf, werden neugierig, beginnen zu suchen und zu fragen. Kindertheologie will nicht unterhalten, sondern aufrütteln, sie will nicht bestätigen, sondern in Frage stellen, sie will nicht wiederholen oder fortsetzen, sondern neu beginnen. Und Kindertheologie hat kein Ziel, das einmal erreicht werden kann, sodass sie abgeschlossen wäre. Kindertheologie geht stets ins Offene. Kindertheologie ist sozusagen Gleichnis vom Himmelreich in Dialogen und Ereignissen. Dialoge sind keine Frage-Antwort-Spiele, kein Abprüfen des Verstandenen, wie Erwachsene sogleich befürchten, wenn sie vor allen gefragt werden. Dialog ist tastendes Sprechen ins Offene, Dialog ist Ahnung der Wahrheit.
Und Kindertheologie aktualisiert sich fortwährend selbst, z.B. im unerwarteten Querblick, der durch alle Konventionen und Umstände hindurchgeht. Natürlich stellt Kindertheologie junge Menschen und neue Ideen in die Mitte. Kindertheologie ist sozusagen die Zuwendung zu ihnen, das Hinhören, denn sie sprechen zu uns. Dazu gehört Mut. Denn Kindertheologie kostet etwas. Sich auf Kinderwort einzulassen ist ein Wagnis. Man muss sich herunterbeugen und sie ansehen. Auf sie zugehen, sich auf sie konzentrieren. Dazu müssen Widerstände überwunden werden, in mir und meiner Umwelt. Zuhören ist nicht der Normalfall.
Kindertheologie hat Gegner.
Denn Kinder kommen zum Bestehenden wie Fremde. Sie sind nicht mit den Konventionen verabredet und nicht mit Traditionen verbündet. Es liegt ihnen nichts daran, die alte Welt weiterzutreiben. Sie sind ja eine neue Welt. Wenn du nicht neu geboren wirst, sagt Jesus zum Pharisäer, der sich gegen das Neue sträubt und beim Bekannten bleiben will, obwohl er merkt, dass das nicht genügt. Er hat Widerstände in sich. Die Kindertheologie begegnet Widerständen. Es gibt keine Kindertheologie ohne Widerstände, am meisten von den Gläubigen und Pharisäern. Die Widerstände sind sozusagen ihr Wahrheitsbeweis. Die Neugier der Kinder und der Widerstand des Bestehenden, das sich gegen Entwicklung sperrt. Das Bestehende erträgt nicht das Unabsehbare.
Die Unruhe der Kinder strengt an.
Die Unbekümmertheit der Kinder weckt Neid.
Die ältere Generation wird neidisch auf ihre Freiheit.
Die Kinderruhigsteller werden misstrauisch.
Eltern sträuben sich gegen den sonntäglichen Messbesuch.
Priester wehren sich gegen neue Wege, die wirklich begangen werden.
Die Kirchenleitung fürchtet Unruhe und meidet das Wagnis.
Sie sucht das Publikum, nicht die Neugeburt.
Sie dient vorherrschenden Meinungen, nicht der Offenbarung des Himmels.
Gott wusste das, als er sich entschied, ein Kind zu werden


5. Biblische Beobachtungen:

Lukas lässt die Heilsgeschichte mit dem Loblied eines Vaters beginnen, dem gerade ein Kind geschenkt wurde. Du, Kind, redet er seinen neugeborenen Sohn an und nennt ihm die vergangenen und künftigen Heilstaten Gottes, in deren Mitte er seinen Sohn sieht, den Propheten des Höchsten. Der Weg, den das Kind betritt, wird der Weg des Herrn. Ist noch nicht, wird. Zu dieser großen Vision inspiriert der Prophetensohn den Priestervater. Mit dieser Vision läßt das kirchliche Stundengebet jeden Tag beginnen. Jeder Tag mit dem vom Kind inspirierten Erwachsenenblick.
Wir können getrost den bürgerlichen Blick auf die biblischen Kindererzählungen beiseite lassen. Sie konnten in dem erhofften Kind nur die Bestandssicherung der Alten sehen, die antike Pensionsvorsorge. Aber Kinder sind gerade nicht die Fortsetzung des Bisherigen. All die biblischen Geschichten erzählen doch gerade das Neue, völlig Unerwartete und Unabsehbare, das durch Josef, Samson, Samuel, David, Maria, Johannes in die Welt trat und sie heilsam veränderte. Ihr Leben wird als Kindergeschichte erzählt. Sie bringen die Geschichte an den Rand des Möglichen, ja darüber hinaus. Sie vergrößern die Welt


6. Ins Offene:


Das ist der Ort, wo wir uns treffen.
Die Kinder und ich.
Ich versuche, Fotos zu machen am Yang-tse in der Nacht. Ich sehe das schwache Licht vom milchigen Mond, das auf den Wellen glitzert, und zuweilen ein paar beleuchtete Häuser am Ufer. Ich weiß nicht, ob man das sehen kann auf den Fotos. Es wird ein bisschen mehr sein als Nichts. Wenig genug, um dem Denken Raum zu geben. So wie die Geräuschmesse. Plötzlich sehe ich im Finstern, während wir uns dem Tianzhu Feng nähern, auf dessen Gipfel Zhu Di, der dritte Ming-Kaiser, Paläste, Dao-Tempel und -Klöster errichtet hatte. Hier erfand der Mönch Zhang Sanfeng das Schattenboxen, indem er auf daoistische Weise Aktion mit Nicht-Aktion kontrollieren konnte.

"Kannst du deine Kraft einheitlich machen und die Weichheit erreichen,
dass du wie ein Kind wirst?"
Tao Te King (Lao Tse)


7. Nochmals drei Begegnungen:


"Du bist ja ein Promi hier!", raunte Katharina, die gesehen hatte, wie ich schon nach den ersten freien Schritten am Bund in Shanghai von einer chinesischen Familie freundlich angesprochen und um ein gemeinsames Foto gebeten wurde, und später wiederum, aus der Reihe der Langnasen gerade ich erwählt und von dem Buben mit einem strahlenden Lächeln bedacht und später nochmals begrüßt.
Am Rückweg von meinen fotografischen Meditationen im Kaiserpalast von Peking zu unserem Gruppentreffpunkt fiel mir eine große Kindergruppe auf, und ich pirschte mich heran. Doch im Nu hatten sie mich entdeckt, die Kinder und ihre jugendlichen Begleiter, und umringten mich. Und schon war ich der Fotographierte, und ein großes Händeschütteln rundum, und jeder wollte ein paar englische Sätze sagen. Und als wir uns schließlich voneinander gelöst hatten, war meine Reisegruppe schon weitergezogen...
Und heute Nacht am Flughafen von Peking. Ich hatte meine Sitznachbarin gefragt, ob sie auf meinen Rucksack achten könnte, während ich zum WC ging. Auf einmal war er neben mir gestanden, um mich zur "Halle der Harmonie" zu geleiten. Im Nu war auch die andere Familie mit einbezogen, die unsere englischen Worte gehört hatte und auf dem Weg zur Eisenbahnbaustelle in Serbien war, undi dann noch eine weitere, am Rückweg via Seoul nach Vancouver. Mir wurde die größere Schwester vorgestellt, die in Illinois Kinder-Anthropologie studierte. Das Werden des Menschen in Beziehung zu anderen.
Als sich Mutter und Schwester anstellten und mein Rucksack eingereiht war, stand der Neunjährige vor mir und nannte mir seine chinesischen Lieblingsspeisen. Als ich nicht sicher war, ob ich das schon gegessen hatte, suchte er Fotos am Handy der Mutter. Schließlich stellte ich ihm meinen Lieblingssport vor, das Bogenschießen. Er sah sich nachdenklich die Bilder von den Gummitieren an und erkundigte sich, wie scharf die Pfeilspitze wäre. Nach der Verabschiedung winkten wir uns minutenlang durch den ganzen Saal.

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Freitag, 19. August 2016

Was bleibt

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Im Suq der Medina von Kairouan.
Ein sehr stimmungsvoller Ort.
Die Hitze ist gedämpft durch den Häuserschatten und das Dach.
Man breitet aus, was man anzubieten hat.
Offen und ehrlich.
Die Händler warten still, wo es Töpferwaren oder Kupfergeschirr sind. Alles handgemacht.
Trachten und Schürzen. Teppiche.
Aber dort, wo sich die Tische biegen unter den Bergen von Leibchen und Jeans, Unterhosen und Socken, am Tauschmarkt, an den Gebrauchtständen, und das ist die überwiegende Mehrheit der Stände, von der Stadtmitte bis vor die Tore der Medina, dort wird geschrien, dort herrscht Hektik und Gedränge.

Ein Bub steht vor mir und wickelt etwas verträumt seine Schokolade aus. Er zerreißt das Papier und wirft es vor sich auf den Boden. Vor die Verkaufstische. Man sieht keinen Vater, der sich zuständig fühlt. Aber das würde nichts ändern. Der Bub ist frisiert und schön angezogen.

Ich sitze im Cafe, an einem weißen Plastiktisch am Gehsteig, eigentlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Cafe. Sie haben die Plastikstühle überall hingestellt, wo noch Platz ist. Die ganze männliche Bevölkerung würde tagsüber da sitzen, wenn genug Platz wäre. Viele Männer fahren mit dem Fahrrad hier – die Buben mit dem Mofa. Immer wieder erhebt sich eine ganze Tischrunde, nachdem der Kaffee ausgetrunken ist oder das Kartenspiel beendet. (Ja, man trinkt hier Kaffee. Das habe ich noch in keinem arabischen Land gesehen, dass man Kaffee trinkt. Nicht türkischen Kaffee, keinen Nescafe im Hotelrestaurant, sondern Cappucino, Cafe latte und Espresso. Das haben sie von den Franzosen.) Gehen zum Fahrrad, öffnen das Kettenschloss, steigen auf und fahren ab. Es sind alte und neue Räder, nicht gerade Mountainbikes mit Gabelfederung und Scheibenbremsen.
Da kommt ein dicker Mann mit einem tuckernden Moped, sieht einen Bekannten, fährt über den Randstein direkt auf den Gehsteig.
Sie unterhalten sich im Schreiton.
das Moped tackert.
Das Moped steht zwischen meinem Tisch und dem Nachbartisch.
Der Lenker sieht zu seinem Bekannten, der Auspuff sieht zu mir.
Aus dem Auspuff kommt blauer Rauch.
Vorher hat es leicht faulig gestunken aus dem Kanal.
Jetzt stinkt es nach Moped.
Der Dicke holt eine Packung Zigaretten aus der Tasche, reißt die Hülle auf, zieht sie ab und wirft sie weg.
Dann zieht er das Aromapapier herunter und wirft es weg.
Es ist wie ein Handgriff.
Er steckt sich eine Zigarette in den Mund, zündet sie an, steckt die Packung ein und beginnt, das Moped zurückzuschieben.
Er hat einen dicken Kopf, kurz geschorene Haare, und zwischen den Lippen steckt die Zigarette.
Mit den nackten Füßen in den Plastiksandalen schiebt er das Moped zurück, während er immer noch mit seinem Bekannten redet und das Moped tackert.
Dann läutet sein Handy.
Er nimmt es heraus, hält es ans Ohr, fragt, spricht, hört, raucht,
das Moped tackert und stinkt.
Während er telefoniert – den Bekannten hat er jetzt vergessen, schiebt er weiter rückwärts.
Es ist ein kurzes Telefonat.
Es endet wie alle hier ohne Verabschiedung.
Man hört in der Sprachmelodie keinen Abschied.
Ganz anders als in Kärnten. Da wird der Abschied zwei oder dreimal wiederholt, und er wird gesungen.
Und immer wird noch etwas nachgereicht.
Bis bald,
Und einen schönen Tag noch,
Und Grüße an die Frau,
und was man dem Gesprächspartner noch alles nachwirft, bis man ihn endlich wirklich verlässt. Während man an der Kassa steht und die ganze Schlange dahinter.
Der Dicke steckt das Handy ein und schiebt noch einen Schritt zurück und gibt ein paarmal Gas.
Das Moped steht fast unter meinem Tisch.
Mein Schienbein spürt die Hitze des Auspuffs.
Er gibt Gas und fährt laut und stinkend vom Gehsteig auf die Straße und zieht ab.

Die Straße führt aus der Stadt heraus, entlang von Gärten, dann durch Felder.
Am Randstein hängen blaue und weiße Plastiksäckchen, Kartonstreifen, Blätter, Gras und vieles andere. Am Gartenzaun in größerer Höhe hängen vor allem Plastiksäckchen, blau, grau und weiß. Die Felder sind oft von Kaktusfeigen eingerahmt. Diese sind gespickt mit Plastiksäckchen in allen Farben. Die meisten Felder sind Plantagen von Olivenbäumen. Die Kaktusfeigen sind gelb und grün, die Olivenbäume haben niedrige Kronen, die Stämme graubraun, die Blätter auf der Oberseite olivgrün, unten weiß. Die Plastiksäcke, die man in den Olivenbäumen am besten und weitesten sieht, sind blau. Gärten ohne Zaun oder Kaktushecke haben Plastiksäcke nicht nur in den Baumkronen, sondern über den ganzen Boden verteilt. Einen Teppich aus Plastiksäcken. Den trockenen harten Boden sieht man nicht. Der Plastikteppich ist grau, weil sich in den Säckchen auch der Staub gefangen hat. Es geht ja ständig Wind in der Steppe von Kairouan.

Als ich im Supermarkt Obst gekauft habe, hat der Mann an der Waage die Pfirsiche gewogen, aus dem Sackerl mit den roten Weintrauben herausgenommen und in ein zweites gesteckt. Die beiden Preiszettel hat er auf den Pfirsichsack geklebt und den Weintraubensack dort hineingesteckt und zugeknüpft. Ich hatte noch ein Yoghort. Die Dame an der Kassa steckte das Yoghort in einen dritten Plastiksack und die beiden anderen dort hinein.

In Tunis stieg ich nach erstaunlich kurzer Fahrt mit der Metro Linie Eins gutgelaunt an der Place de Barcelona aus. Ich war neben einer Familie mit kleinen Mädchen gestanden. Der Vater, neben mit stehend, hatte das auf der Bank sitzende Töchterchen an den Haaren gezupft. Sie hatte eine kunstvoll geflochtene Frisur mit vielen rosa Maschen und Spangen. Das Mädchen war empört und sah zum Vater. Der stritt es ab und schüttelte den Kopf. Da drehte sich das Kind zu mir, und ich rollte mit den Augen und zog den Kopf ein. Lächelnd folgte ich nun den Passanten über den Bahnsteig und dann die Gleise entlang. Die Gleise sind links und rechts von Gittern gesäumt. Vor mir geht ein Mann am Gleis und trägt ein kleines Kind. Auch das nächste Gleis ist eingezäunt, auch dort strömt eine Menge zwischen Gittern auf dem Straßenbahngleis gegen die vermutliche Fahrtrichtung. Ich verlasse den Bereich der Metro und quere die Plätze mit den Kleiderbergen. Es ist Abend, das meiste ist vorbei. Ich balanciere zwischen den auf Plastikdecken aufgehäuften Kleiderbergen, dann vom Randstein über die stinkende Kloake darunter auf die Fahrbahn. Ein paar Entgegenkommende erwidern mein Lächeln. Ich überlege, ob es ein Heimkommen ist, wenn man nach einigen Wochen wieder ins gleiche Hotel kommt. Ein Moped fährt tuckernd knapp an mir vorbei. Ich höre von hinten ein Auto kommen und wechsle auf den Gehsteig. Dort steht in der Mitte ein Verkaufstisch. Eine Familie kommt dort entgegen. Ich gehe rechts am Tisch entlang. Ein Mann tritt vor mir aus dem Geschäft und geht einen Schritt vor mir in derselben Richtung. Geräuschvoll spuckt er vor mir auf den Gehsteig, mehrmals. Genüsslich. Ich wechsle die Seite und protestiere. Er lacht. Ich gehe weiter.
Ich umgehe die Straßen und Plätze, wo tagsüber am Boden gehandelt wurde. Dort muss man über Müllberge steigen. Als ich in die Straße meines Hotels einbiegen will, schiebt ein Lieferwagen zurück. Er fährt über mehrere Kartons, die laut platzen. In einigen war Obst, das nun seitlich herausquillt. Der Wagen hinterlässt eine breite Saftspur, die bis zur Kloake am Fahrbahnrand reicht. Ich schreite über die staubige Gasse zwischen den fensterlosen Mauern. Mit einem Knall fällt auf das abgestellte Auto neben mir ein Plastiksack mit Obst und zerplatzt dort.

Ich überquere Plätze, die kniehoch mit Müll bedeckt sind. Im Stadtzentrum. Ein Bub schiebt einen Karren, auf den Karton geladen wird. Am Fahrbahnrand liegen Plastiksäcke, am Gehsteig Karton. Es ist so in der ganzen Innenstadt. Um Mitternacht werden dann die anderen Kinder kommen mit ihren Karren und Kinderwägelchen, und Brauchbares herausklauben auf den Straßen. Tunesien ist ein freies Land seit der Revolution 2011.

Am Gehsteig steht ein Karren. Ein Mann verkauft Sandwich. Ich kaufe einen und sehe zu, wie er Würstchen auf den Rost legt über der kleinen Feuerstelle. Er nimmt einen kleinen Brotfladen, schneidet ihn auf und füllt zuerst Chillisauce, dann Salat, Zwiebel und Oliven hinein, alles mit den Fingern. Zuletzt zupft er mit den Fingern die Würstchen vom Grill und stopft sie dazu. Er schlägt den Sandwich in Papier ein und drückt ihn mir in die Hand.

Ich trinke ein Bier. Das gibt es im Hotel el Medina. Ich setze mich in den Gastgarten. Der Kellner bringt das Bier, und auf meine Aufforderung hin wischt er einmal mit dem Tuch über das runde Tischchen. Trotzdem bleibt mein Schreibbuch darauf kleben, sobald es trocken ist. Vor mir ist ein Kanalgitter, das in der Mitte nach unten gewölbt ist, so wie die anderen, die alle in einer Reihe ausgebreitet sind. Deshalb sammeln sich dort Plastikflaschen, Papier, Speisereste und Plastikbecher. An einem anderen Kanalgitter sehe ich eine junge Katze bei der Jagd. Ich beobachte sie, ob sie etwas fängt. Das Kätzchen lauert, springt, setzt nach, wartet, springt wieder, blickt sich um. Ich kann keine Beute erkennen. Das Kind vom Nachbartisch läuft hin und vertreibt die Katze.

Ich erinnere mich an eine tote Ratte. Sie lag mitten am Abfahrplatz am Busbahnhof von Sousse. Es war eine große graue Ratte. Sie war völlig flach, aber man konnte das ganze Tier erkennen, den Kopf, die Beine, den Schwanz. Sie lag auf der Seite, und alle Innereien lagen herausgequetscht als rosa Häufchen hinter ihr. Die Eingeweide war grünlich, die Augen silbrig und trocken, und von eingetrockneten Blutfleck zogen sich Spuren entlang der Fahrbahn.

Der Wind streicht über das Kanalgitter vor meinen Füßen. Etwas hat sich bewegt. Ich sehe genau hin. Zwischen den aus dem Gitter ragenden Grashalmen und den Zigarettenkippen bewegt sich etwas.
Ich sehe lange Fühler.
Sie kommen tastend aus der Gitteröffnung.
Vor und Zurück.
Hinter den Fühlern sehe ich ein Tier.
Eine Schabe.
Ich sehe den Kopf.
Ich warte, bis sie ganz herauskommt, damit ich die Größe sehen kann.
Da kommt ein Mann durch die Tische gegangen und trampelt auf das Kanalgitter. Die Schabe ist weg.

Wenn ich das nächste Mal nach Tunesien komme, wird der Müll bis zur ersten Fensterreihe gehen. Man wird die Fester im Erdgeschoß noch öffnen können, wenn kein Wind geht. Aber nicht die Tür.
Der deutsche Attaché hat schon voriges Jahr im tunesischen Fernsehen gesagt, die deutschen Touristen bleiben nicht aus wegen der Terrorangst. Sondern wegen dem Dreck. Hat mir Mustafa erzählt, als ich ihm Kaktusseife abgekauft habe. Als einziger Tourist an der antiken Zisterne von Kairouan, die wie eine Kläranlage aussieht.

Die Katze ist wieder zurückgekommen.

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Sonntag, 14. August 2016

Kulturgeschichte

SEX und die ZITADELLE
von Shereen El Feki
ist viel serioeser, als der Titel vermuten laesst.
Es geht besonders um die Laender Aegypten und Tunesien seit der Revolution. Die arabische Halbinsel spielt im Hintergrund eine Rolle und kommt fallweise in den Blick, wenn das der Geschichte dient.
Diese Untersuchung fuehrt Foucaults Ansatz aus, der Umgang der Menschen miteinander koenne von der Sexualitaet her aufgerollt werden. Besonders ihre Machtverhaeltnisse. Ihre Leitvorstellungen. Ihre Wuensche, ihre Freiheiten.

Was man von diesem Buch profitieren kann:
Man kann die Menschen besser verstehen. Dort und bei uns.
Man lernt die arabischen Gesellschaften besser kennen, ihre Normalitaet und ihre Geheimnisse. Und die Bedeutung der Religion.
Ich finde meine These bestaetigt: Der Islam ist ueber weite Strecken Moralkodex. Aehnliches sagen auch die genannten Romane und Erzaehlungen. Man muss ISLAM gruendlicher und genauer verstehen - woertlich als UNTERWERFUNG. Und hier ist die Variable Gott auch mit Rechtsvorstellungen auszufuellen, mit Schriftzitaten, mit dem, was als oeffentliches Ansehen gilt, und natuerlich auch mit dem Mann, besonders als Familienoberhaupt. Anders ist er eigentlich auch gar nicht vorstellbar

Starke Nerven?

Zarte Gemueter moegen jetzt weghoeren bzw. die Escape-Taste betaetigen.
VERSCHLEPPT IN DER SAHARA
von Wilhelm Eugen Mayr
hat mit meiner Reise nur eines gemeinsam:
Kairouan.

Was davon erzaehlt wird, habe ich auch erlebt.
Und wer sich nur dafuer interessiert, braucht das Buch nicht zu lesen. Denn da geht es um eine froehliche Schuelergruppe, die mit ihren Lehrern nach Tunesien fahren und ihr Musical auffuehren wollen.
Das tun sie, und das waere bereits Abenteuer genug.
Aber dann kommen Geschichten, die an jene mit Kara Ben Nemsi erinnern. Also vielleicht doch noch eine Gemeinsamkeit. Das gehoert in meiner Generation noch zur Grundausstattung.
Und schliesslich moechte ich noch sagen: Das Nachspiel in Deutschland kommt mir bekannter vor als das Hauptspiel in der Sahara.
Und eines noch, zu Kairouan: Das Dromedar gibt es noch. Aber es laeuft nicht ununterbrochen. Nur auf Anfrage

Freitag, 12. August 2016

Stadt der Frauen und Katzen

Kairouan gilt als eine der islamischen Hauptstaedte, nach Mekka, Medina, Jerusalem und Damaskus. Bei der Ausbreitung des Islam in Nordafrika war hier das Zentrum.
Als ich heute Nachmittag durch die Medina zog, trat ich auf stille, leere Plaetze. Keine Geschaefte, keine Haendler, keine Ausrufer, keine Musik. In ein wunderbar altes Stadthaus trat ich, mit Galerien, Balustraden und Holzschnitzereien, und ueberall Teppiche, in etwas gedaempften Farbtoenen, Karomuster in allen Groessen, Grundton Rotbraun. Ich sagte gleich zu beginn, dass ich keinen Teppich kaufe - der freundliche alte Mann begruesste mich trotzdem herzlich und rief, nachdem er gehoert hatte, woher ich kam: Bruno Kreisky! Vielleicht wollte er sagen, dass Kreisky hier gewesen sei. Das vergilbte Foto war aber weder von Kreisky noch von ihm, sondern vom Gouvernoir der Stadt.
Aus dem Haus trat ich auf stille enge Gassen.
Ungestoert konnte ich Fotoperspektiven waehlen, um die Gewoelbe, die Erker, die Knicke der Strassen gut ins Bild zu bekommen.
Jedes Tor hatte eine andere Farbe.
Es gab Halbboegen, markante Portale, eingemauerte Saeulen.
Von einem Tor zum naechsten wurde ich in die kleinsten Gaesschen gelockt.
Grosse Stille.
Ich kam an private Dinge.
Eine abgestellte Einkaufstasche.
Ein alter Mann, der sich im Tuerspalt die Zehennaegel schneidet.
Eine Werkstatt mit Drehbank hinter der angelehnten Tuer.
Immer wieder tun sich in den engen Gassen ploetzlich kleine Plaetze auf. Als ich einmal wieder zurueckgehe, merke ich eine Bewegung an der Tuer. Die Frau dahinter hat mich beobachtet und ist nun erschrocken.
Ich hoere Schritte naeherkommen.
An der engsten Stelle schiebt sich eine Frau an mir vorbei, laechelt.
Von nun an fallen mir viele eine Spalt geoeffnete Tueren auf, und aus dem Schatten dahinter folgen mir Blicke.
In einem geoeffneten Hoftor sitzt ein Maedchen, halb zu-, halb abgewandt.
Es ist Freitag Nachmittag.
Die Maenner werden in der Moschee sein.
Oder am Diwan.
Die Stadt gehoert den Frauen.
Und den Katzen.
Still wachen sie ueber die Gassen und Plaetze.
Mit den Augen.

Selbst von der Groessen Moschee, der Djama Sidi Oqba, sehe ich zuerst Frauen, sich sich umstaendlich hineinschieben. Ich tappe zum Suedtor in der engen Gasse, und erhasche einen Blick in den Unglaeubigen verbotenen Gebetsraum, noch dazu gerade die Frauenseite. Ein Maedchen kommt froehlich hergelaufen und winkt mir. Mit Blicken haben wir uns verbuendet, sie verraet mich nicht, auch die Bettler nicht, wenn ich nun heranschleiche und mich hineinbeuge in die vertieft liegende, duester erleuchtete Halle, wo unter Saeulengaengen Frauenleiber aufstehen und sich niederwerfen, einige Augenblicke habe ich.
Danach gehe ich zum suedlichen Hoftor und trete in den maechtigen Saeulengang, der in gleissenden Nachmittagslicht liegt wie die ganze Medina.
Nun treten die Glaeubigen aus der Halle, ich habe einige Minuten.
Ich bin nicht der einzige Fotograf.
Ich nuetze die Unruhe, durchkreuze den Saeulengang, um vertraut zu werden mit dem Gelaende und mich unter die Leute zu mischen.
Und pirsche mich so an die Gebetshalle heran. Erhasche Einblicke. Wechsle die Position, weiche aus.
Und sehe so einiges von diesem Prachtgebaeude, der groessten und fuehrenden Moschee Nordafrikas, deren aelteste Teile auf die Aghlabidenzeit im 9. Jahrhundert zurueckgeht.
Von der Stadtmauer aus kann ich dann die herausgeputzten freitaeglichen Moscheebesucher beobachten.
Wie bei uns am Sonntag Vormittag werden nun der betagte Vater heimgefuehrt von den Soehnen, gehen die farbenfroh gekleideten Muetterchen langsam, aufeinander gestuetzt, stuermen die Kinder eifrig davon.

Spaeter werde ich selbst eingeladen. Eine charmante junge Dame bittet mich hoeflich in ein Tor hinein. Schon vom Vorraum aus, der ueber und ueber mit Fliesen ausgelegt ist, hoere ich das Bruederchen schreien. Es wurde vor drei Tagen beschnitten, erfahre ich, als ich auf eine kleine familiaere Tischgesellschaft treffe. Freundlich werde ich zuerst franzoesisch, dann englisch, und schliesslich deutsch durchs Haus gefuehrt, von Damen in historischen blauen und tuerkisen Kostuemen und distinguierten Herren. Man zeigt mir den Garten, den Salon, das Schlafgemach, wo ein Prinz ruht. Dann wird mir gruener Tee mit Pinienkernen angeboten, und alle Augenblicke kommt eine der Damen mit einem Silbertablett voller Suessgebaeck.
Ich weiss nicht mehr, wie ich aus dem Traum herausgekommen bin, aber ich konnte in diesem Tag nichts mehr essen

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Donnerstag, 11. August 2016

Schwimmen

Jeden Abend ist Rambazamba in Tunesien.
Zumindest in den Hafenstaedten.
Da fuellen sich die Lokale - wobei das ohnehin beinahe nur Pizzabuden und Fast-Food-Restaurants sind und Cafes.

Emsig werden Karren und Tische auf die Strasse geschoben, moeglichst mitten in den Weg. Dort werden Socken, Nuesse oder Plastikspielzeug zum Kauf angeboten, und auf Decken und Planen am Boden Berge von Waesche ausgebreitet. Das ist halblegaler gewerbeloser geduldeter Verkauf von armen Leuten fuer arme Leute. So einer war der Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi, der im Supermarkt gekauftes Gemuese am Markt weiterverkaufte, mehrmals von der Polizei schikaniert wurde und sich schliesslich verwzeifelt am 17. Dezember 2010 vor dem Amtshaus selbst verbrannte. Das hatte die tunesische Revolution ausgeloest.

Ausser den Lokalen fuellen sich besonders die Strassen.
Das ganze Volk ist auf den Beinen.
Eltern fuehren ihre Kinder aus zu Zuckerwatte.
Burschen ihre Maedchen auf ein Eis.
Aus Sprechbuden ergehen Proklamationen, davor werden von Studenten Flugblaetter verteilt.
Vor einem Hotel tanzt ein Fracktraeger auf meterhohen Stelzen, Familien lassen sich davor fotografieren.
An Kinder werden abgebundene bunte Luftballons verteilt.
Auf einer kleinen Buehne zwischen zwei Haeusern spielt eine Band tunesische Volksmusik.
Die Gehsteige sind voll mit erwartungsvoll stroemenden Menschenmengen. Alle haben irgendetwas zum Knabbern in der Hand. Auf der Strasse schiebt sich eine Kolonne von Autos und Mopeds durch. Es ist wie im Prater, taeglicher Ausnahmezustand, Gebrumme und Gejohle bis spaet in die Nacht.
Auch am Strand. Im Stockfinstern tummeln sich Kinderscharen im Sand und im Wasser, uebermuetige Buben schiessen Baelle herum, Muetter versuchen, das zu ueberwachen, Liebespaare waten durch den Sand, vereinzelt steht eine Sehnsuechtige oder ein Suchender auf den Stufen und blickt in die laue Nacht hinaus und hofft auf etwas.

Nur ich kann hier nicht schwimmen gehen.
Wo soll ich meine Sachen hintun?
In Sidi Bou Said musste ich nach kilometerlangem Anmarsch ueber brennheisse Asphaltstrassen meinen ersten Badeversuch am verdreckten und gnadenlos ueberfuellten Strand wutentbrannt aufgeben, da niemand bereit war, auf mein Handtuch, meine Sandalen und mein Taeschchen achtzugeben. Nicht der Bademeister, keiner in den drei Restaurants. So war ich den ganzen Weg wieder zurueckgelaufen mit groesser Wut im Bauch, und schliesslich doch salzig klatschnass.

Doch heute morgen war es soweit, auch ohne Hilfe eines Einheimischen. Ich hatte die Badehose bereits an unter der Jean, und sonst nur ein Handtuch. Um 7 waren nur wenige Leute da. Schnell war ich im Wasser, arbeitete mich gegen die Wellen vor, emporgehoben und abgeladen, Meter fuer Meter, und immer wieder ein Blick auf den Strand und mein Haeuflein dort.
Gut, die Sachen waren noch da, als ich zurueckkam. Aber wo sollte ich mich umziehen? Wie auf einer Buehne war ich immer beobachtet. Ich ging am Strandcafe entlang hinueber zu dem verwahrlosten Betonplatz, wo ein verfallenes Lokal war. Ueber knirschende Glasscherben schritt ich hinter den aufs Meer blickenden Burschen an die Ruinen heran. Aber jedes Mal, wenn ich mein Handtuch vor mich legte und aus der Badehose steigen wollte, kam ein Paerchen gerade dorthin, oder ein staemmiger aelterer Mann pflanzte sich genau dort auf. Es war, als waere freies Baden verdaechtig. Irgendwie hab ich es dann doch geschafft, mich umzuziehen in geschaetzten zehn Sekunden. Vielleicht gehe ich morgen in der Badehose ueber die ganze Corniche bis ins Hotel?

Mittwoch, 10. August 2016

Weitere Literaturtips

Habib Selmi:
DIE FRAUEN VON al-BASSATIN

Dieser kleine Roman ist schoen zu lesen und gibt ein wunderbares Sittenbild des heutigen Tunesien. Ich habe natuerlich in offene und geheime innerfamiliaere Vorgaenge in diesem Land keinen Einblick - aber allein das Gehabe der Frauen, die ich sehe, stimmt mit dem ueberein, was Selmi schildert. Immer wieder stecken Frauen jeden Alters die Koepfe zusammen hier und machen empoerte Augen und entruestete Geraeusche.
Als Beispiel fuer gelungene Liebe wuerde ich Selmis Buecher bei aller Liebe nicht heranziehen.

Sousse: Gerueche und Tischsitten

Waehrend mir von Tunis zuletzt stark faulige Gerueche in Erinnerung sind, die von jenen riesigen Schlammseen herruehren, die Bab Saadoun umgeben und die man von der Tram-Station bis zu den Bussen irgendwie umrunden oder durchqueren muss, waehrend Dutzende von Taxis und Minibussen dort aus- und einparken, und die identisch sind mit dem, was von den Kanaelen neben jeder Strasse immer wieder herueberweht/
so riecht Sousse nach nicht richtig abgedaempften Zigaretten.
Immer wieder blicke ich von der Lektuere auf, ueber die gebeugt ich im Cafe sitze, und meine, etwas im Aschenbecher am Nebentisch glosen zu sehen, aber ich finde nichts. Es ist ein Schmorgeruch, der nicht von einem Holz- oder Holzkohlenfeuer kommt, denn solche gibt es an allen Strassenecken, und deren Geruch im beissenden blauen Kohlenrauch ist eindeutig, wenn man in eine solche Schwade hineingeraten ist.
Auch meine ich keine der Garkuechen, die an den frequentierten Plaetzen und besonders an den engsten Stellen aufgebaut sind. Dort ziehen Wolken von lange siedendem Fett durch die Gassen, und vielleicht sind diese dafuer verantwortlich, dass ich gerade dann am wenigsten Hunger habe, wenn ich den halben Tag durch die Medina streife, und noch weniger, wenn ich stundenlang im Bus oder im Zug sitze zwischen schwitzenden Leibern, und selbst klatschnass bin. Nein, hungrig werde ich, wenn ich Stunden ueber Buechern zubringe auf der windigen Terrasse des Cafes oder ueberhaupt im Hotelzimmer. Dann komme ich heraus und gehe bewusst auf die Suche nach Essbarem.

Nun kommt die andere Irritation fuer europaeische Gemueter. Als ich gestern Nachmittag den Ksar Er Ribat bestieg, da war er mir eigentlich in den Weg getreten auf der Suche nach einem netten Lokal. So untersuchte ich alle Etagen mit knurrendem Magen und erkletterte zuletzt den hohen Turm, der zur Sicherung der Stadt vor Seeraeubern und Christen erbaut wurde, und fasse, nachdem ich die ganze Stadt von oben in Fotoquadrate eingeteilt habe, schliesslich genau gegenueber dessen tiefliegendem Eingangstor das Terrassencafe ins Auge, und halte vom Ribat direkt darauf zu. Es wirkte freundlich und sauber, schattig und leise und war trotz der bevorzugten Lage nicht uebervoelkert. Genau genommen war nur ein einziger Tisch besetzt, zwar mit einer grossen Familie, was viel Getue mit sich brachte - gerade schienen die jungen von einem Streifgang zurueckzukommen und den Aelteren dies und jenes zu berichten, und Familiengespraeche haben hier immer eine gewisse Dramatik - aber das schien nicht stoerend zu sein, und ich liess mich auf der anderen Seite des grossen und sonst leeren Sitzgartens nieder. Zuvor noch trat ich an die Theke und fragte nach einem Sandwich, weil damit fast alle Speisen gemeint sein koennen und ich damit rechnete, in der Vitrine das Gewuenschte zeigen zu mussen. Aber der junge Mann begruesste mich hoeflich und kuendigte an, mich am Sitzplatz aufzusuchen und meine Bestellung dort anzunehmen. Er und die junge Frau wirkten sehr nett und freundlich, und ich beglueckwuenschte mich zur Wahl dieses Lokals und freute mich auf ein spaetes Essen.
Inzwischen beobachtete ich die Familie am anderen Tisch und warf hin und wieder einen Seitenblick auf die beiden, die hinter der Theke zu tun hatten, etwas putzten, telefonierten oder etwas besprachen. Die Frau war huebsch und unverschleiert, der Mann schlank und wie alle seiner Generation im T-Shirt. Nach geschaetzten zehn Minuten blickte ich auf die Uhr und ueberlegte, ob ich nochmals meinen Reisefuehrer herausholen sollte und die Sehenswuerdigkeiten der Medina durchgehen. Dann setzte ich mir ein Ultimatum, ohne mich nochmals umzusehen. Schnell stieg der Zorn hoch, weil ich mit so grossen Erwartungen gekommen war und der Wirt zu denken schien, die Gaeste waeren ihm sicher. Schliesslich verstaute ich alles in meiner Tasche, packte sie mit einer einzigen Bewegung, erhob mich, drehte mich dem Weg zu und schritt davon, ohne mich umzublicken. Sofort hoerte ich die beiden mir etwas zurufen und ein paar Schritte auf mich zulaufen, aber ich war es leid, dort als ihr Aushaengeschild herumzusitzen und von ihnen hingehalten zu werden.
Es folgte ein langer Streifzug durch die Medina, ein verbotener Kurzbesuch in einer kleinen Moschee, bis mich ein selbsternannter Selbstgerechter hinauswies, die Entdeckung unzaehliger winziger Gassen, belebter Suqs und des von weither deutlich erkennbaren Fischmarktes, bis ich mich schliesslich am lauten und sehr belebten Eingang der Medina an der Garkueche niederliess und dort, wo die starken Duftschwaden ausgingen, einen Sandwich bestellte, dessen gewuenschte Fuellung ich an der Vitrine zeigte.

Heute Mittag zog ich nach einem langen Lesevormittag und einem kurzen Spaziergang zur verschlossenen Kirche in der Neustadt vor ein Lokal an der Corniche und zeigte auf ein gebratenes Haehnchen und Salat, wartend, bis einer der hinter der Vitrine Taetigen mich beachtete und meine Bestellung registrierte. Dann setzte ich mich an einen freien Tisch, worauf der Besitzer erschien und meine Bestellung nochmals abfragte. Der kurze laechelnde oder spoettische Blick zwischen ihm und der jungen Frau koennte bedeutet haben, dass sie nun einen Kunden angelockt, oder dass ich mich nicht an die Regeln gehalten habe. Waehrend nun die drei auf dem engen Platz werkten, erschienen Lieferungen von rohen Pommes Frittes, die von einem schwitzenden beleibten, krausbaertigen Djellaba-Traeger hereingetragen wurden, der vielleicht Mitte 20 war. Ein anderer trat auf den Besitzer zu und unterhielt sich mit ihm arabisch, dann noch ein weiterer, und schliesslich laeutete sein Handy mehrmals, und er schrie laut ins Telefon. Waehrend all dem gingen Leute aus und ein in dem Lokal von der Groesse einer Trafik, auf der anderen Strassenseite klang aus einem Lautsprecher tunesische Populaermusik - was sonst gottlob nicht die Regel ist in diesem Land! - und ein Polizeikordon marschierte auf und formierte sich am Beginn des Badestrandes mit Sirenengesang und Rotlicht, ohne dass irgendein Anlass oder Absichten erkennbar gewesen waeren.
Trotzdem hatte ich nach angemessener Zeit einen vollen und nett verzierten Teller vor mir stehen - bis ich eine Wasserflasche bestellen konnte, dauerte wiederum seine Zeit. Aber nun hatten sich die zwei oder drei anderen Tische auch schon gefuellt, und ein Paar trat an meinen Tisch, und der Mann schnappte nach meiner Tasche, die ich am Stuhl neben mir abgestellt hatte. Ich protestierte und sah ihn boese an, worauf der Besitzer heraneilte und ihn an einen anderen Tisch verwies. Jedenfalls konnte ich in Ruhe mein Mahl fortsetzen ohne weitere Zwischenfaelle.

Dass es verschiedene Arten von Mahl gibt, die kulturell bedingt sind, wurde mir nun langsam klar. Ich bin ja sogar in Klagenfurt beinahe der einzige, der zusammenwarten will, bis alle im Haushalt am Tisch sind, und mit einem Gebet das Mahl beginne.

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Dienstag, 9. August 2016

Dougga

Die Roemer machten Druck auf Karthago. Bei ihrem letzten Sieg hatten sie einen Nichtangriffspakt fuer Numidien vereinbart. Die Numider aber provozierten Karthago, bis Hanubal sie zurueckwirft und damit den dritten Krieg der Roemer gegen Karthago ausloest. Eine der numidischen Staedte war Tukka, von wo aus Massinissa im 2. Jht v.Chr. gegen Karthago stichelte. Von seiner Stadtmauer steht noch etwas, ebenso wie ein grosses punisches Grabmonument. Am meisten ist jedoch erhalten von der bluehenden Stadt, welche die Roemer schliesslich errichtet hatten - ein praechtiges Amphitheater, das Forum, Wohnhaeuser, Tempel, Stadttore sowie auch eine Kirche, welche einer unter dem Altar beigesetzten Viktoria geweiht ist.

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Es war auch beinahe eine militaerische Unternehmung, nach Tukka vorzustossen. Zuerst lange und schweisstreibende Fahrten von Biserte nach Tunis, dann nach Teboursouk. Dort im Dorfzentrum ausgestiegen und mich durchgefragt zum Hotel Thugga, ueber einen sandigen Fussweg zwischen Gaerten und Feldern hinunter. Schnell eingechackt, umgezogen, und wieder los. Das Hotel ist eine grosse Anlage, flach um zwei Hoefe herum, mit orientalischem Palmengarten, grossem Speisesaal und langen Gaengen mit glatten, spiegelnden Fliesen. Aber bereits beim ersten Schritt ueber die glatten Stufen hatte ich den Eindruck, der einzige Gast zu sein. Der Garten duerr und staubig. In den Gaengen Moebel zur Reparatur geschlichtet. Boehrgeraeusche, immer wieder Arbeiter zur Besprechung.
Der Rezeptionist, der zugleich Kelllner, Manager und Bauleiter zu sein schien, war von spindelduerrer Gestalt, und seine schwarzen Hosen schienen unterm weissen Hemd von selbst zu gehen, als waehren sie hohl. Er war ueberaus freundlich und zuvorkommend. Als ich nach dem Abendessen, allein ungefaehr in der Mitte des grossen Speisesaals sitzend, schliesslich muede vom langen und heissen Tag endlich in meinem schoenen und sauberen Zimmer war und ueber dem Buch etwas eingenickt war, da troeteten ploetzlich unsagbare Geraeusche vor meinem Fenster. Nackt sprang ich auf, riss Fenster und Laden auf und sah einen Mann stehen, der sich als Braeutigam bezeichnete und eben jetzt geheiratet hatte. Zur Bekraeftigung seiner Worte fegte das orientalische Orchester eine Lautfolge durch die Nacht, und ein Gejohle aus hunderten Kehlen setzte ein. Ich schloss das Fenster, zog etwas an und tappte zur Rezeption, vor der Braut, die im Eingang stand in ihrem prachtvollen Kleid, von allen Seiten beknippst wurde und geradewegs auf mich blickte, als wollte sie die Wahrheit der Nachricht beweisen. Ohne den geringsten Zweifel zu haben, eroerterte ich dem Rezeptionisten meine Situation, und er gab mir augenblicklich ein anderes Zimmer. Es koennte sein, dass mich einige Hochzeitsgaeste beobachtet haben, wie ich Zahnputzzeug und Waesche durch den Gang schleppte, und am naechsten Tag brauchte ich eine Weile, bis ich mich im Zimmer zurechtfand. Aber beim Fruehstueck im Speisesaal war ich wieder der einzige, als waere das naechtliche Ereignis ein Spuk gewesen

Bashir

Ich war schon fertig zur Abreise am Sonntag. Da sprach mich Bashir an auf der Strasse. Er hatte mich schon frueher gesehen, damals, als ich im Cafe gesessen bin mit meinen Buechern und Notizen. Damals war mir aufgefallen, wie die Menschen einander kannten in der Nachbarschaft. Im Cafe wird man gegruesst von Passanten. Ein Auto bleibt stehen, das Fester wird heruntergekurbelt, und man ruft einander etwas zu. So war es auch mit Bashir. Mein Sitznachbar hatte ihn angesprochen, dann waren sie um den Tisch gesessen.

Bashir stellt sich vor als Finanzmanager, der zehn Jahre in USA gearbeitet hat und mehrere Jahre in England. Wir gehen in ein Cafe, spaeter laedt er mich nach Hause ein. Ohne etwas von mir zu wissen, stellt er sich als "sozusagen christlich" vor, das heisst interessiert und bibellesend, aber ungetauft. Und nun kommt seine Leidensgeschichte. Sie scheint damit zu tun zu haben, dass man in Tunesien Heimkehrern misstraut, und dass seit der Revolution 2011 das Land zwar frei vom Diktator, aber noch nicht frei von Korruption ist.
Bashir ist ein grosser Mann Ende Dreissig, er spricht sehr konzentriert und ist sehr ernst. Er ist nicht verheiratet und lebt nun im Elternhaus, wo ich am Nachmittag seine Mutter, zwei Schwestern und den franzoesischen Schwager mit den beiden Toechterchen kennenlerne. Auch mit ihm verstehe ich mich gut, wir reden ueber Tunesien, den Islam, ueber franzoesische und ueber Kirchengeschichte.

Schliesslich mache ich auf Bashirs Bitte eine Daemonenaustreibung, und dann gehen wir schwimmen am Strand der Corniche. Das Meer ist ungewoehnlich aufgewuehlt, Seegras treibt wie Wolken, und meterhohe Wogen donnern an den Strand und die spitzigen Felsen dort. Ich arbeite mich den Wogen entgegen. Wenn du einer standgehalten hast, dann zieht dich das zurueckfliessende Wasser mit grosser Gewalt an den Fuessen hinaus, und sogleich stuerzt dir die naechste Welle ueber den Kopf. Einmal verliere ich den Boden, und es wirbelt mich herum im Innern der Welle, sodass ich einen Purzelbaum schlage. Ich spuere wieder Boden unter den Fuessen und komme an die Luft. Ich schwimme weiter hinaus, auch andere sind da, junge Maenner, die lachen und schwimmen, auch Bashir ist gekommen. Dann stecken wir im Seegras fest, jede Woge wirbelt das Gras herum, es ist ueberall, im Haar, in der Badehose, es windet sich um Arme und Beine und wickelt mich ein, sodass ich mich anstrengen muss, um weiterzukommen. Schliesslich kehren wir erschoepft zurueck und lassen uns an den Strand werfen und stapfen mit wackligen Knien und ausser Atem zu unserem Handtuch zurueck, und Bashir zeigt mir, in welcher Richtung Sizilien liegt in 150 km, und in der Haelfte der Entfernung ist Lampedusa.

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Sonntag, 7. August 2016

Beobachtungen

Ein Behinderter tauchte vor dem Cafe auf. Laut redete er mit seiner Fistelstimme vor sich hin in einem weinerlich flehenden Ton, und es waren wohl eher Laute als Woerter. Die Umstehenden verzogen keine Mine, niemand lachte oder spottete, keiner schickte ihn weg. Schliesslich war der Chef des Restaurants da. Der Huehne mit der tiefen Stimme und den tiefen Kerben in den Wangen dirigierte seine Mannschaft bloss mit Handzeichen und ohne Worte, und sie laufen flott. Nun steht er vor dem Behinderten zwischen den Gaesten an den Stehtischchen am Gehsteig, der aus weissen pupillenlosen Augen in die Umgebung stiert, drueckt ihm etwas zu essen in die Hand und fuehrt ihn anschliessend auf seine weiteren Bitten die Strasse entlang und um die Ecke, indem er den Weg bahnt und der Blinde sich an ihm festhaelt und hinterhertappt. Wenige Augenblicke spaeter ist der Mann zurueck und schreitet, ohne irgendjemand anzusehen oder eine Erklaerung abzugeben, an seinen Platz hinter der Theke, und der Betrieb setzt unverzueglich wieder ein

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