das inkarnatorische defizit

O Gott, du hörst meine Worte und siehst meinen Aufenthalt. Du kennst meine geheimen und meine offenbaren Werke, und nichts von meinem Leben bleibt dir verborgen. Ich bin elend und arm, ich rufe zu dir um Hilfe und Beistand, in Furcht und Ängstlichkeit, und ich bekenne und gestehe meine Schuld, Ich bitte dich, wie ein Elender bittet.
So betet ein moslemischer Wallfahrer in Mekka oder in Damaskus. Der Betende weiß, wer er vor Gott ist, und er weiß um die Unordnung seines Lebens und bittet Gott, es in Ordnung zu bringen. Was ihn aufrichten wird, ist die Größe und Barmherzigkeit des Gottes, zu dem er betet. Die Ungerechtigkeit der Welt kann Gott gerecht machen. Der Betende hat Gotteserkenntnis und Menschenkenntnis. Das ist viel.
Aber ein Christ weiß mehr. Dass Gott den Menschen schafft, dass er ihn liebt, dass er sich seiner treu und barmherzig annimmt. Dass er um des Menschen innere Widerbortigkeit weiß und um seine Zerfahrenheit, der sich nicht zusammennehmen kann und ganz Liebe sein, ganz Liebender werden. Und wird selbst ein Mensch. In einer zerfahrenen Welt selbst Mensch, inmitten Dummheit, Borniertheit und Schwachheit ein ganz und gar Liebender in voller Stärke, an ihrer Schwäche selbst leidend, Leiden kein Einwand, an ihr zu Grunde gehend, zum Grund. Gott hat sich entäußert, seine Gottheit losgelassen, doch Gott kann, auch wenn er nicht mehr in seiner Sphäre ist, ganz er selbst sein.
Und Menschen folgten ihm. Zögernd und eifrig wie Petrus, liebend und kühn denkend wie Johannes, energisch und scharfsinnig wie Paulus. An Jesus Christus, dem Prediger und Heiler, haben sie Gott erkannt. Und durch ihre Verbindung mit ihm sind sie stark geworden, die selbst voller Schwächen waren, sie alle. Und nun geht der Glaube über das moslemische Gebet hinaus: Auch gerecht geworden. Gerechtfertigt, sagt Paulus, durch den Glauben an ihn. Aber dieses Glauben hat existenzielle Qualität. An etwas Höheres glaube ich schon, sagten Erwachsene den sie interviewenden Jugendlichen und meinten, sie könnten sich die Existenz von etwas Fremden, Lichtvollen irgendwo und auf irgendeine Weise vorstellen – es könnte ja sein, was weiß man. Aber christlicher Glaube ist das existenzielle Bezogensein des ganzen Lebens auf Gott, genauso konkret und folgenreich, wie dieser Gott selbst Mensch wird. Mit diesem Menschgewordenen rechnend, sodaß sich einer, dessen Mitte Christus ist, auch weit hinauslehnen kann, der Schwerpunkt holt ihn wieder zurück (so wie Gott sich hinausgelehnt hat). Wenn Christus auf die Unmittelbarkeit Gottes verzichten kann und ihm in Menschenfleisch gegenübertritt, so sieht Dorothee Sölle eine neue Möglichkeit des Glaubens geöffnet, atheistisch an Gott zu glauben. Aber der Schwerpunkt muß bestimmen, wie weit sich einer hinauslehnen kann! Der Glaube an Christus macht gerecht, sagt Paulus, die Kirche ist das Sakrament Gottes, sagt das Zweite Vatikanische Konzil. Wie kann es sein, dass alle meine Taufgesprächspartner noch nie etwas von der Inkarnation gehört haben, von der Geschichtlichkeit und Endlichkeit des unendlichen und ewigen Gottes? Und dass sie diesen Jesus nur aus Geschichten ihrer Volksschulzeit kennen, die sie nicht glauben?
Vor unserer Kirche steht seit einigen Monaten eine große Holzskulptur. Ein nackter Christus, der sich aufbäumt wie ein Segel, hängt auf einem Pfahl, der aussieht wie ein Schiffsmast. Schmerz und Energie liegt darin, und Passanten sind sehr betroffen. So konkret haben sie sich Jesus nicht vorgestellt.
offenesherz - 13. Nov, 15:30

Hallo Weichensteller, dieser Text ist wunderschön.

Dass Gott aus Liebe zu uns Mensch geworden ist, uns bis zur Hingabe am Kreuz geliebt hat und sich uns täglich in Brot und Wein schenkt, dieses Geheimnis berührt mich sehr tief.
Ich bin mir bewusst, dass dieser Glaube an den für uns Mensch gewordenen Gott ein großes Geschenk ist, dass ich das ohne ordentliche Portion Heiligen Geistes sicher nicht glauben könnte.

Es ist sicher leichter wie ein Moslem zu glauben, dass Gott da oben ist und wir hier unten. Diese Geschichte der Inkarnation zu hören ist so unglaublich, absurd, widersinnig, dass es einen Gott gibt, der für uns sein Leben gibt.
Aber es ist sicher die schönste Geschichte und als einzige fähig die tiefste Sehnsucht des Menschen zu stillen, bzw ihn auch selbst Mensch werden zu lassen.

Mit lieben Gruß
oh

weichensteller - 18. Nov, 22:02

Danke, offenes Herz!

Diese Geschichte ist so widersinnig, dass die wenigsten daran glauben. Es gibt mehr Gottgläubige als Christusgläubige. Jenseits und Diesseits zugleich.
Lieben Wintergruß!
w

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