Sonntag, 13. Dezember 2009

GIBT ES EIN SINNVOLLES LEBEN? ________________________ 1. Einleitung

a.
Die erste Frage, die sich stellt, ist die nach der sinnvollen Frage: Ist die Frage nach dem sinnvollen Leben überhaupt eine sinnvolle Frage? Der Roman, zu dessen gemeinsamer Lektüre ich eingeladen habe (Robet Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 62) , stellt diese Frage am Ende des 61. Kapitels: Ulrich war in der Frage, .... ob man zu etwas, das mit uns geschieht und geschehen ist, ein Ziel und einen Sinn finden kann, sein Leben lang immer ziemlich allein geblieben. (247) Das zeigt, dass es sich im Roman um kein beiläufiges Thema handelt, denn diese Frage ist vorbereitet, und sie zu formulieren ein längerer Prozess, länger als in diesem Ausschnitt sichtbar – ich nenne sie sogar eine der Grundfragen des Buches, vielleicht die zentrale. Dennoch darf von einem Text dieses Ranges nicht erwartet werden, dass eine Frage einfachhin aufgeworfen und anschließend mit einigen Sätzen abgehandelt würde. Die Frage wohnt im ganzen Text – und in gewisser Weise wohl auch die Antwort. Allerdings ist zu beachten, dass sich das zur Besprechung anstehende Kapitel im vorderen Fünftel oder Sechstel befindet – es wird daher keine definitive Antwort zu erwarten sein.

b.
Zu etwas einen Sinn finden: das stellt die Sinnfrage in einer ganz bestimmten Weise. Etwas findet statt, etwas Wirkliches, und nun fragt sich, ob das Sinn hat. Es ist der Blick auf ein Weltgeschehen gerichtet, und die Beobachtung gibt Rätsel auf. Dieser Blick ist von vornherein nicht bloß ein aufzählender, registrierender: das und das hat stattgefunden, sondern der Blick sucht zu verstehen. Im 61. Kapitel entzündet sich diese Art der Sinnfrage am Fall Moosbrugger, einem Zimmermann und Lustmörder, und es steht zur öffentlichen Diskussion, ob dieser einfache Mensch zurechnungsfähig und damit vor dem Gesetz verantwortlich zu machen ist.
Zu etwas einen Sinn finden erscheint als hermeneutische Frage: als wäre ein vorliegender Text zu enträtseln, wäre eine Decke wegzuziehen – als wäre eine Sprache zu finden, die das Unzugängliche als in sich sinnvoll aufweist. Diese Art der Sinnsuche ist der religiösen sehr nahe, zumal in einer Buchreligion. Ich verweise nur auf die eigentlich kaum verstehbaren Gottesknechttexte im letzten Teil des Jesajabuches, deren Sinn aus christlicher Sicht erst dann erkennbar wird, wenn Jesus sie ausspricht, bzw. wenn das Lukasevangelium Jesus sie bewahrheiten lässt.
Jedenfalls ist es eine Fassung der Sinnfrage, die den Sinn in dem sucht, was sich ereignet. In den letzten Jahrzehnten kam hierzulande aber (durch die Parteiführerin der Liberalen, und es ist vielleicht ihre folgenreichste Hinterlassenschaft) die Redeweise vom Sinn machen auf – also: etwas macht Sinn. Das suggeriert, dass Bedeutung und Sinn produziert werden könne durch den freien menschlichen Geist. Da wird eine Opposition gesucht, und die selbstbewusste Formulierung markiert gerade das, wovon sie sich absetzen will, nämlich das christliche Schöpfungsverständnis einer Welt als Text Gottes, dessen Sinn und Bedeutung erkennbar ist. Ein solches Schöpfungsverständnis liegt ausdrücklich Musils Text zugrunde, das lässt sich an vielen Stellen zeigen.

c.
Weiters soll zum vorliegenden Text noch einleitend gesagt werden, dass die Hauptperson Ulrich in einer existenziellen Situation angetroffen wird, die „Urlaub vom Leben“ genannt wird. Ulrich will den Sinn seines Lebens finden, und dazu bricht er seine wissenschaftliche Laufbahn ab. Der Kavallerieoffizier, Ingenieur und Mathematiker will sich nicht in eine akademische Karriere bugsieren lassen, nicht Systemzwänge sollen über ihn bestimmen, sondern er will selbst sein Leben in die Hand nehmen. Ulrichs Sinnfrage hat also religiösen, und noch viel deutlicher existenziellen Hintergrund. Er versucht seine eigene bisherige Laufbahn zu entziffern: Was hat ihn bis hierher getrieben, was waren seine Hoffnungen, was erwartet er sich vom Leben? Ein Jahr Urlaub vom Leben, zwölfmonatige Exerzitien, sind zur Hälfte um, das ist die Situation, in der Ulrich angetroffen wird. Die Sinnfrage hat bereits ein bestimmtes Niveau erreicht, sie stellt sich nicht allein als Privatfrage, sondern sieht die eigene Existenz in Zusammenhang mit dem Verlauf der Weltgeschichte. Auf dieser Höhe sollte ihr in dem Romantext begegnet werden.

2. Genaues Lesen

a.
Ulrich beschreibt die moderne Geisteshaltung als die der Genauigkeit. Das erklärt nun seine bisherige Ausbildung als Ingenieur und Mathematiker. Genauigkeit wird als der Ausgriff auf die Welt durch Vermessung und Bebauung verstanden, in einem wissenschaftlichen Pathos, der seit Musils Zeiten bestimmt nicht abgenommen hat. Dem Schwelgen in den Erfolgen von Wissenschaft und Technik stellt Ulrich aber stets eine andere Geisteshaltung entgegen, die mehr auf Ganzheit und Ursprünglichkeit bedacht ist. Zwischen beiden Geisteshaltungen pendelnd wird der Fortgang der Weltgeschichte dargestellt – also unentschieden.
Eine Stelle dabei soll nun als Warnung angeführt werden, sich die Sinnfrage nicht zu leicht zu machen: Denn all die modernen und genauen Menschen, die ihr ganzes Leben rationalisieren, überlassen die Fragen der Schönheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Glaubens ... am liebsten ihren Frauen, und ... einer Abart von Männern, die ihnen von Kelch und Schwert des Lebens in tausendjährigen Wendungen erzählen, denen sie leichtsinnig, verdrossen und skeptisch zuhören, ohne daran zu glauben und ohne an die Möglichkeit zu denken, dass man es auch anders machen könnte. (248)
Die Sinnfrage erscheint in der Gesellschaft also aufgespalten. Das ist umso folgenreicher, als eine der beiden Fragegestalten ja ausdrücklich Ganzheit beansprucht. Lässt sich das durchhalten?

b.
Mit dieser zitierten Bemerkung wird also bereits eingangs eine christliche Beantwortung der Sinnfrage im Predigerstil ausgeschieden: daran wird nicht geglaubt. Glaubensantworten haben keine Plausibilität mehr, zumindest im eindeutigen kirchlichen Predigerkontext. Dennoch sollte die Hoffnung auf eine Lösung nicht vorschnell aufgegeben werden, denn es ist auf die Zusatzbemerkung zu achten: ...ohne daran zu glauben und ohne an die Möglichkeit zu denken, dass man es auch anders machen könnte. Es anders zu machen ist neben der Sinnfrage der zweite rote Faden des Romans. Ulrich nennt das Möglichkeitssinn, und gerade dieser Gedanke motiviert ja seine Sinnsuche. Er möchte sein Leben nicht in durch Konventionen vorgegebenen Bahnen führen, er sucht nach Möglichkeiten und ringt um Alternativen. Der erste Teil des Romans besteht sozusagen aus der Bestandsaufnahme der Sinnkonzepte von Ulrichs Zeitgenossen – zu denen er eine Alternative sucht.

c.
Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass sich das Andersmachen auch auf die Predigt in tausendjährigen Wendungen bezieht. Die Sinnfrage im christlichen Kontext ist in Formeln erstarrt und abartig geworden, also nicht mehr männlich, unternehmend und angriffig. Allerdings ist die christliche Erstarrung der Sinnfrage im Zusammenhang zu sehen mit der Abspaltung der anderen Ganzheitsfragen, nach Schönheit, Gerechtigkeit und Liebe. Da ist an die Ausdifferenzierung der modernen westlichen Gesellschaft zu denken, wie sie Max Weber zu Musils Zeiten für die moderne Soziologie formuliert hat, die nicht nur soziale Milieus, sondern auch Sinnbezirke abzirkelt, und dann der Wissenschaft einen, der Kunst einen weiteren, und eben auch der Kirche nur einen bestimmten Gültigkeitsbereich zuweist. Es kann zu Recht behauptet werden, dass die Gesellschaft durch diese Entwicklung der ganzheitlichen Sinnfrage das Wasser abgegraben hat – und in der Folge wurde diese Not auch häufig artikuliert, sei es durch totalitär-ganzheitliche Systeme, sei es durch überzogene oder reduzierte Sinnansprüche der Kunst, sei es durch ganzheitliche Psychologie oder durch ganzheitliche Spiritualitäten und Körperübungen. Die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt zeigt sich hiervon unbeeindruckt und bietet den Angeboten einen lukrativen Markt, wodurch der Ganzheitsanspruch erst recht wieder beschnitten ist. Ist darauf eine kirchliche Antwort bekannt?

d.
Der Roman meint es trotz üppiger Sprachbilder und gewagter Vergleiche durchaus ernst, wie am Kriterium des „Jüngsten Tages“ zu sehen ist, an dem die wissenschaftlichen Abhandlungen über die Ameisensäure zerschellen. Dass es sich hier nicht nur um eine griffige Metapher handelt, soll durch die Vergleichsstelle auf S.596f beleget sein, wo Ulrich in sehr aufgeladenem Kontext eine Abrechnung angesichts des Jüngsten Tages fordert. Dort nimmt er ausdrücklich Bezug auf seine eigene und die Unentschiedenheit der Arbeitsgruppe, in der er mitdenkt. Es ist einer der Höhepunkte des Romans, eine folgenschwere Wendung einleitend. Wiederum verankert der Text durch dieses Kriterium die Sinnfrage im christlichen Weltbild, auch wenn die kirchliche Erstarrung keinen Ausweg bietet.

e.
Eine biographische Gestalt der Sinnfrage, die eine bestimmte Art von Antworten zulässt oder ausschließt, hat der junge Ulrich „hypothetisch leben“ genannt. Diese Haltung der Unverbindlichkeit folgt dem Misstrauen an der Gültigkeit und Wahrheit der vorgefundenen Haltungen und Grundsätze. Es ist eine Position des Abwartens und Prüfens, und Ulrich hat das sogar sich selbst gegenüber angewendet: auch seinen eigenen Entscheidungen gegenüber bewahrt er Distanz, seinem Charakter, seinem Beruf, seiner Lebensweise. Es könnte auch anders sein, ist seine Formulierung, derentwegen er sich als Möglichkeitsmensch bezeichnet. Dass er darum zögert, etwas aus sich zu machen, zeigt den größeren Ernst seiner hypothetischen Haltung, die nicht einfach mit der Pubertät zu überwinden ist. Denn nach welchem Kriterium soll sich denn eine Meinung und Ansicht als richtig und gültig erweisen vor einem solchen dogmatischen Skeptizismus?

f.
Die fortgeschrittene Gestalt der Sinnfrage nennt Ulrich Essayismus, sie gibt dem Kapitel den Namen. Es ist die Erkenntnishaltung, eine Sache von allen Seiten zu beleuchten. Diese Haltung ist gerade der Grund, warum in der Frage der Beurteilung des Lustmörders Moosbrugger kein Fortschritt zu erreichen ist: denn Moosbrugger hängt mit allem zusammen! Mit seiner Herkunft und Erziehung, mit seiner Lebenssituation, mit seinem Milieu und seiner Zeit – aber was besagt dies alles für seine subjektive Verantwortung? Die Zusammenhänge lösen gerade die Verantwortung auf, nämlich durch die Aushöhlung der Freiheit. Die psychologische, soziologische, juristische, biologische, vielleicht statistische Beschreibung des Menschen lässt keinen Raum mehr für eine freie Entscheidung. Das interessiert Ulrich am Fall Moosbrugger, weil es sein eigenes Existenzproblem ist: eine Moral, ein Lebenskonzept als bloßer Durchschnittswert, als labiles Gleichgewicht, das erzeugt eine signifikante Lebensunsicherheit, die ihn mit dem Mörder verbunden erscheinen lässt.

g.
Daraus bildet Ulrich in einem weiteren Schritt einen „bewussten menschlichen Essayismus“, der nun diese Jenachdem-Unentschiedenheit absichtlich herbeiführt. Ulrich vergleicht das mit dem Gehen: mit der Gewichtsverlagerung von einem Bein auf das andere begibt er sich von einem labilen Gleichgewicht ins nächste, und kommt dadurch gut voran. Er weigert sich, das Charakter zu nennen, was die Umstände aus ihm gemacht haben, er nennt Selbstfindung und Ausbau der eigenen Persönlichkeit geringschätzig Ichbautrieb, analog zum Nestbautrieb der Vögel, und er empfiehlt, die Moral dem Geschmack der Zeit anzupassen.
Spätestens hier ist der Zynismus in Ulrichs Haltung sichtbar geworden, die sich gegen jeden moralischen Einwand immunisiert hat. Es ist fraglich, ob es überhaupt eine Erfahrung geben kann, die Ulrich aus dieser Position herausstoßen kann. Vorläufigkeit als Prinzip, das kann als Opportunismus ausgelebt werden, das kann ein Leben als Selbstgenuss bedeuten, reine Selbstbezogenheit. Verbrechen kann man so begehen, egomanisch wird man sein, individualistisch. Eigentlich liegt hier die literarische Begründung des heutigen extremen Individualismus vor, der zur Zeit Musils noch kein Massenphänomen war. Auch so lässt sich der Roman lesen: als Sprachgebung an eine sich sonst kaum legitimierende heutige Existenzweise, welche die westliche Gesellschaft dominiert. Wenn die Sinnfrage genauer gefasst werden kann, lassen sich vielleicht auch dazu Einsichten und Antworten gewinnen.

h.
Aber das ist noch nicht der ganze Essayismus. In einem zweiten Anlauf (253) nennt Ulrich einen Essay die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt. Als Beispiel nimmt er Abraham, der seinen Sohn zu opfern bereit ist. Musil hat Kierkegaard gekannt, der Abrahams Opfer breit analysiert. Das Opfer Isaaks steht jeder Moral entgegen, auch jeder Vernunft. Das Tötungsverbot ist Grundlage jeder Gesellschaft, und der Sohn ist Errungenschaft und Stolz des Vaters. Kierkegaard arbeitet an der Widernatürlichkeit und Unmoral der Tötungsabsicht Abrahams die unbedingte und unmittelbare Forderung des Absoluten heraus. Dem Absoluten ordnet sich Vernunft und Natur unter, so lautet verkürzt Kierkegaards Erkenntnis. Ulrich bewundert an diesem „Meister des innerlich schwebenden Lebens“ die eindeutige Gewissheit, entgegen allen Wissens richtig zu handeln. Entgegen Kierkegaard weigert er sich, aus der unbedingten Gewissheit Abrahams eine Lehre zu ziehen oder einen Inhalt zu verallgemeinern. Ulrichs Essayismus ist nicht nur Freihalten, sondern warten auf diese Gewissheit: Und ihm ahnte doch, dass man es aus ganzem Wesen heraus tun oder lassen könnte. (255)

3. Subversives Lesen

a.
Origenes war in der Bibelexegese ein Wegweiser. Er hat minutiös den Originaltext rekonstruiert, säuberlich nach hebräischer und griechischer Herkunft getrennt. Literalsinn oder somatischen Sinn hat er das genannt, ein Meister der Exaktheit. (Musil nennt das Buchstabensinn.) Dazu kommt dann die Textauslegung nach dem pneumatischen, psychischen und moralischen Sinn. Die „Königsdisziplin der Improvisation“ aber ist die Allegorie. Das ist die freieste Auslegung, da sind kaum mehr Kriterien, da hilft nur mehr ein grundlegender Glaubenssinn, ein Gespür für das Gemeinte, aufgrund von Erfahrung mit der Heiligen Schrift und von persönlicher Glaubenserfahrung.
Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, spricht von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn. Ich möchte von einem Lesen im Wortsinn sprechen, oder auch Schriftsinn genannt. Er sucht nach der bisher dargestellten Weise den Text nach schwer verständlichen Passagen ab, versucht sie zu erklären – durch Vergleich mit anderen Textstücken aus dem Roman, oder mit Literaturen, auf die sich der Autor bezieht. So lassen sich Textmarken finden, von denen aus sich ein Blick auf den ganzen Text sowie auf das sich öffnende Gemeinte ergibt. Solche Beispiele sind gerade gezeigt worden.
Nun folgt aber ein zweiter Schritt, der das bisher Gewonnene nur so wie Baumstämme eines abgeholzten Waldes betrachtet, und daher über den Baumstümpfen die Stämme und Kronen imaginiert, um so zum Eindruck des ganzen Waldes zu kommen. Dieser zweite Durchgang versucht also, etwas zu sehen, was gar nicht da ist. Und gerade dadurch soll der Text allererst richtig verständlich werden – denn dasselbe hat schon der Autor getan.

b.
Was Ulrich (bzw. der Erzähler: das wird hier nicht unterschieden) Ichbautrieb nennt, die Aufrichtung des Ich aus verschiedenen Arten von Stoff mithilfe einiger Verfahren (252), ist eine prosaische Umschreibung der materiellen Vorgänge des Zusichkommens des Menschen. Die Aufklärung hat gerade darin den besonderen geistigen Akt des freien Menschseins gesehen, Kant nennt es Selbstbestimmung. Genau das ist das Hauptthema des Romans, dessentwillen Ulrich ein Jahr Urlaub vom Leben nimmt, um zu finden, was ihn erfüllen kann und soll. An diesem Problem arbeitet der Autor mindestens 30 Jahre seines Lebens fast ausschließlich, der Leser vollzieht den Niederschlag dieser Arbeit auf 1300 oder 2000 Seiten, falls er solange durchhält. Wie ist es jetzt zu verstehen, dass in einem resonierenden Abschnitt desselben Textes dieses überaus komplexe Problem als “Ichbautrieb“ bezeichnet wird?
Es ist eine Ironie, gerade das Höchste in etwas ganz Niedriges umzudrehen, eine gewisse Derbheit, oder genauer, eine kalkulierte Brüskierung des Lesers, der durch die vorangegangenen Spitzfindigkeiten zu gewagtesten Spekulationen geneigt ist, ein Herabholen des Hochfliegenden auf den Boden der Tatsachen. Vielleicht möchte man es als Selbstkontrolle des Autors bezeichnen, um den Boden nicht zu verlieren. Jedenfalls ist es eine Methode, die der Autor von der ersten Seite an unablässig einsetzt, wodurch er den Text sperrig macht und des Lesers Spekulationen zähmt. Im Text selbst tritt das in Ulrichs Brüskierungen seiner Mitmenschen auf, besonders in seiner Rolle als Wissenschaftler und nüchterner Denker.

c.
Große Teile des vorliegenden Kapitels erörtern die Forderungen einer Haltung der Genauigkeit, entnommen aus den Beispielen der technischen und wissenschaftlichen Modernisierung der Gesellschaft. Diese Fortschritte werden kontrastiert mit Verlusten in den Fragen der Schönheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Glaubens. Kann das denn nun anders gelesen werden denn als eine Klage, als ein Versuch, die Tugend der Genauigkeit auch auf die wirklichen Lebensfragen anzuwenden? Und als Beleg für diese Lesart lässt sich die schon genannte Vergleichsstelle auf S. 597 anführen, wo Ulrich den aberwitzig erscheinenden Vorschlag eines Erdensekretariats für Genauigkeit und Seele macht, der diesmal nicht von ihm selbst, sondern von den anderen lächerlich gemacht wird, von Ulrich selbst aber mit dem Mut der Verzweiflung vorgebracht wurde. Ein andermal wünscht er sich, als Wissenschaftler die Visionen der Heiligen zu erfahren oder den Weg der Erleuchteten mit dem Kraftwagen zu befahren. Im vorliegenden Abschnitt beschneidet er die lange ausgebreitete gesellschaftliche Dominanz des Fortschritts- und Tatsachengeistes mit dem Jüngsten Tag, vor dem die exakte Wissenschaft nichts mehr zu sagen hat.

d.
Hypothetisch leben und Essayismus sind unverbindliche Lebensformen, die philosophisch und gesellschaftlich erörtert werden, aber das existenzielle Problem Ulrichs noch nicht lösen. Die Literatur zum Mann ohne Eigenschaften tendiert eher dahin, diese Lebensunsicherheit historisch aufzufassen als Zustand nach dem Zusammenbruch des alten Europa – auf den die Anlage des Romans ja zusteuert -, und als Nährboden für die aufkommende faschistische Ideologie. Subversiv betrachtet, ist die neue Unverbindlichkeit aber als Veränderung des Freiheitsbegriffs zu betrachten: es geht um die Verwirklichung des potentiellen Menschen, wie er nach der Dekonstruktion aller Verbindlichkeiten hervortritt, mit allem in Zusammenhang, aber an nichts gebunden. Man wird unschwer Beispiele heute lebender Menschen dafür finden. Aber auch Ulrich selbst ist ein solches Beispiel. Sein Freihalten wird aber als ein Suchen und Fragen nach Sinn dargestellt.

e.
Es wird aber noch subversiver. Mit Essayismus ist wohl zunächst eine bestimmte Art von Erkenntnisprozess gemeint, darüber wurde schon gesprochen. Das ungeschriebene Gedicht seines Daseins. Nun soll aber einmal darauf geachtet werden, was es bedeutet, dass in einem Buch das Leben als Textgattung dargestellt wird! Unzweifelhaft wird in dieser Metapher die Grenze von Darstellung und Dargestelltem weggenommen. Der Text ist das Leben, und das Leben ist der Text. Ulrich sagt einmal zu seiner Cousine: Lieben wir einander wie die Figuren auf den Seiten eines Buches! Und der Existenzweise der Meister des innerlich schwebenden Lebens nähert Ulrich sich durch das Studium ihrer Texte. Aber auch der Romanautor unterscheidet wenig zwischen seinem eigenen Leben und dem Romantext: die selben Fragen, das selbe Ringen, die gesuchte Lösung im Roman wäre auch die gesuchte Lösung für den Autor. Es zeigt sich: die existenzielle Frage umgreift Text und Autor – und Leser.

f.
Noch einen Schritt weiter. Die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist, sagt der textgewordene Ulrich und macht damit die Gegenwart ihrerseits zum Text. Er tut das in enger Anbindung an sein Vorbild Friedrich Nietzsche, der in Die fröhliche Wissenschaft (V.Buch, Aph. 374), alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein nennt (Colli/Montinari S.626). Ulrich, der nichts für fest hält, für in sich selbst bestehend, steht im Wandel der sich ändernden Auslegung des Textes Welt. - Aber als guter Nietzscheaner kennt Ulrich auch den nächsten Schritt: Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist .... – nun, umso besser. (Jenseits von Gut und Böse, 1. Hauptstück, Aph. 22; S.37)
Hinter Ulrichs hypothetischem Leben steckt also Nietzsches Totalauflösung der Ontologie: Die Welt als Text und Interpretation zugleich heißt, kein Seinsgrund, kein fester Boden, keine Entscheidung, ob Seiendes ist oder nicht ist. Ulrichs und Musils Literaturwerdung dokumentieren die Auflösung einer real existierenden Welt.
Vor dieser Entwicklung ist die Rede vom Jüngsten Tag noch einmal genauer zu betrachten: Der Untergang der Welt bezeugt doch diesen gerade? Ist nicht unter dem Weltgericht eine Abrechnung zu verstehen über die Realität und Sinnhaftigkeit des Existierenden?

g.
Die eine Frage, die allein das Denken lohne, ist für Ulrich die nach dem richtigen Leben. Diese Richtigkeit erscheint nunmehr aber in einem neuen Lichte: Nicht mehr steht jetzt zur Debatte, ob diese oder jene Berufswahl besser wäre, sondern eher, ob das Leben nicht in Gefahr ist, synthetisch oder fiktional zu werden – die Fiktionsindustrie folgt Ulrich hier beharrlich. Das falsche Leben könnte ein fremdes Leben sein, die Wahl des nicht eigenen Lebens, nach fremden Maßstäben gelebt, die verfehlte Identität. Auch dafür gibt es Textbelege im Roman. Die Frage nach der Richtigkeit ließe sich dann etwa so übersetzen: Bist du es? – Und vor dem Jüngsten Gericht: Bist du es gewesen?

h.
Aber auch die Frage selbst hat nun, indem sie immer wesenhafter gefragt wurde, eine ganz neue Bedeutung erkennen lassen. Denn indem das Leben, das richtige, das eigene, das wahrhafte Leben, das wirklich seiende erfragt wurde, sind seine Seinsstufen ja überhaupt erst hervorgetreten. Das Leben ist kein Fragloses, das sich einfach ergibt, aus einem bestimmten, vorliegenden Material, durch fortgesetzte Auseinanderfaltung – sondern das Leben bekommt Identität erst, wenn gefragt wird. Nur eine Frage lohnt das Denken wirklich – ist jetzt zu lesen, also nicht ein Deduzieren von ewigen Wahrheiten (Axiomen), oder eine Umsetzung von Grundgesetzen, seien es moralische oder Gesetze der Natur. Die Frage des rechten Lebens ist somit schon als Existenzform zu betrachten – noch nicht als Lösung/ Antwort, noch nicht als Ausschlag zwischen Sein und Nichtsein.
Damit ist aber im Hintergrund auch die Bedeutung des Textes neu hervorgetreten. Der Roman, und wenn man so will, im Roman das literaturgewordene Existieren, ist somit zur Frage geworden, zur Existenzfrage. Er ist fragend auf etwas hingeordnet, als Hypothese zwischen Sein und Nichtsein, er hat einen Bezug auf etwas, das nicht im Licht ist, nicht angesprochen, nicht erkennbar – aber an Zeichen doch erschließbar.

i.
Solcher Art sind die Abgründe, über die Ulrich schreitet: im Fragen nach Identität öffnen sich Sein und Nichtsein, und nicht nur sein eigenes persönliches Leben, sondern der Seinsgrund überhaupt ist fraglich geworden. Das essayistische Existieren ist zwar ein Fortschreiten, aber es ist kein Ziel zu sehen: es ist wie ein Schritt, der nach allen Seiten frei ist, aber von einem Gleichgewicht zum nächsten und immer vorwärts führt – taumelnd an den Abgründen vorbei (und nicht immer vorbei, wie der Roman sagt). Diese Nähe und Wirkung der Abgründe verbindet Ulrich mit den Essayisten und Meistern des innerlich schwebenden Lebens – Abgrund nun buchstäblich als Bodenlosigkeit.
Aber in dieser doch sehr hypothetischen und zweifelhaften Lage gibt es nun, wie angedeutet, Hinweise auf eine mögliche Antwort.

j.
Ulrich wartet hinter seiner Person, während seine Verzweiflung mit jedem Tag höher stieg. Seine Abgründigkeit, mit der er so spielerisch umzugehen scheint, hat ihn doch in den schlimmsten Notstand seines Lebens gebracht. Aber dieses Warten ist ein Zeugnis: das, was sein Fragen beantworten, seine Unruhe stillen, seine Ahnung erfüllen soll – das wird nicht von Ulrich selbst erwartet, sondern das wird etwas sein, das ihm begegnet. „Im Kreis seiner Gedanken“ wartet Ulrich wie im Vorzimmer des Anwalts – weil es nicht die Gedanken selbst sind, von denen er Erlösung erhofft; sie sind nur Ankläger und Streitparteien. Ulrich wartet auf etwas, das für ihn aufbewahrt ist, wie ein Text, der schon geschrieben, aber noch nicht gelesen ist.
Und dann, nach geistigen Höheflügen, während ihm die Nacht durch die Fenster ins Leben schaut, steigt Ulrich die Treppe hinunter und tritt aus dem Haus in den nächtlichen Garten. Er sucht festen Boden unter den Füßen, er will die Kälte spüren, er besteht die Finsternis, er tritt fest auf den Weg. Ulrich hat den Abgrund betreten und erfahren, dass er fest ist und trägt. Und dann ereignet sich etwas Zeichenhaftes, selbst im Text fast verborgen: Ein Weg führte zum Gittertor ... ein zweiter kreuzte ihn dunkel deutlich – Ulrich begegnet einem in den dunklen Grund eingeschriebenen Kreuz. Darauf leuchtet ihm Moosbrugger auf, mit diesem von Gott mit allen Zeichen von Güte gesegnetem Gesicht (68), mit dem Gesicht mit den Zeichen der Gotteskindschaft über Handschellen (69). – Eine Kreuzerfahrung im Abgrund, eine Christusbegegnung im Verborgenen, ein Genanntes, das im Nennen nicht aus der Verborgenheit heraustritt, sondern namenlos bleibt, oder mit einem anderen, stellvertretenden Namen zugedeckt wird. Dem abgründigen Fragen ist ein verdecktes Nennen zur Seite getreten – gibt es ein richtiges Leben? Ja, es wird gegeben.

k.
Aber wenn wir ehrlich sind, dann ist diese hintergründige Religion, dieses Bodensuchen des bodenlosen Denkers, seine unwissende Kreuzerfahrung, seine Vision des gefangenen Gotteskindes, eben auch nur Literatur, ebenso Text wie das Subjekt, das diese Erfahrungen macht – oder nicht macht, sondern sie nur dem Leser unterschwellig durchscheinen lässt. Möglicherweise stellt die Begehung des Bodens durch Ulrich auch nur den Kontext der abendländischen Ontologie dar, die zwar nächtens betreten, aber ebenso wieder verlassen und vergessen wird und deshalb nicht von sich aus eine Rolle spielt - außer man spielt mit ihr. Es scheint, als würde dadurch Erfahrung überhaupt aufgehoben. Von dieser Art ist wahrscheinlich allein eine Antwort auf die Frage des Textes nach dem sinnvollen Leben zu erwarten: ob der Text nichts oder alles bedeutet, entscheidet der Leser. Die Analyse der Strukturen liefert ihm dazu Möglichkeiten. Vielleicht liegt darin eine Chance für moderne Seelsorge im Umgang mit der Sinnfrage, Antwortmöglichkeiten zu bieten – aber die Wahrheitsfrage muss anders gestellt werden.

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