1. Was ist Katholizismus?

Um die Veränderungen in der katholischen Kirche in diesen Tagen und in den letzten Jahrzehnten verstehen zu können, hilft ein Blick auf die Sozialform, welche von Katholiken gebildet wurde. Diese wird als Katholizismus bezeichnet und im folgenden als eigenständiges Milieu beschrieben. Für dieses Milieu sind sowohl inhaltliche Richtlinien zu nennen, wie auch sorgfältige Markierungen an den Außengrenzen. Es gibt sowohl Handlungsanweisungen und klare Vorgaben für eine persönliche Identität, als auch etablierte Gemeinschaftsformen auf jeder Ebene, von Partnerschaft und Familie bis zu Berufs- und Ständegemeinschaft sowie der Kirchenleitung. Der Katholizismus formiert sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und wird hier in seiner deutschen und österreichischen Ausprägung beschrieben.

1. Eigenes, in sich geschlossenes, scharf abgegrenztes religiöses Deutungssystem, das alle Bereiche des Lebens umfasst.

Für jede Lebenslage gibt es ein richtiges Verhalten. Erziehung und Wertvermittlung verläuft als Einfügung in einen fertigen Verhaltenskodex. Das Deutungsschema ist vorwiegend moralisch bis moralistisch. Beispielsweise werden Bibeltexte nicht subjektiv, sondern in erster Linie als moralische Instruktionen gelesen. Es gibt eine starke Traditionsanbindung, die eine eindeutige kulturelle Identität zu bilden vermag. Diese wird nicht nur von innen und von der Geschichte, sondern auch von außen bestimmt, durch deutliche Abgrenzungen zum Protestantismus (besonders in gemischt konfessionellen Ländern), zum Sozialismus (in der ersten Republik verliefen diese Trennlinien durch das ganze Volk), zum Liberalismus und zur Moderne.

2. Bürokratisierung und Zentralisierung des formellen Kirchensystems.

Das Feudalsystem klingt aus, die wirtschaftliche und politische Autonomie von Klerikern auf allen Ebenen, die durch Pfründe gesichert war, wird reduziert zugunsten des absolutistischen Staates in Deutschland und Österreich. Parallel dazu konzentriert sich nun die Entscheidungskompetenz auf die höheren kirchlichen Ämter. Papst und Bischöfe setzen ihre seit dem Konzil von Trient nominell bestehenden Befugnisse nun zunehmend auch praktisch um. Die Ämterbestellung erfolgt jetzt nur mehr innerkirchlich. Die Priesterausbildung wird in Seminaren zentralisiert. Der Klerus wird stärker kontrolliert und diszipliniert. Nach napoleonischem Vorbild entsteht ein Legaten-System, das die Kommunikation zwischen dem Vatikan und den Ortsbischöfen diplomatisch reguliert. Auch der regelmäßige (Kontroll-) Besuch der Bischofskonferenzen in Rom, der Ad-Limina-Besuch, wird eingerichtet. Deutliches Symbol dieser Entwicklung im 19. Jahrhundert ist die Erklärung päpstlicher Unfehlbarkeit bei lehramtlichen Verlautbarungen von Glaubensaussagen, wenn sie mit dem überkommenen und praktizierten Glauben der Kirche übereinstimmen.

3. Sakralisierung der Kirchenämter.

Der Primat des Petrusamtes wurde bereits im Mittelalter thematisiert und behauptet gegenüber dem Kaiser und den ostkirchlichen Patriarchen. Aber um ihn auch innerkirchlich durchzusetzen, bekam man erst im 19. Jahrhundert die bürokratischen und disziplinären Mittel. Zugleich erfährt der gesamte Klerus, dem nun als Kollegium des unfehlbare Lehramt zugesprochen wird, durch den Ordo, also durch göttliche Einsetzung, eine Sonderstellung.

4. Konfessioneller Gruppenzusammenhang als katholisches Milieu, mit lebenslanger, spezifischer Prägung der Persönlichkeit.

Das Leben eines Christen ist umfasst und eingebettet durch Taufe – Erstkommunion (die eucharistische Frömmigkeit erwachte in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und bezog auch die Kinder ein) – Firmung – Heirat – Begräbnis. Im Wochenrhythmus sind Beichte und Sonntagsmesse mit Predigt auch eine intensive Begleitung und Formung des einzelnen Christen mit seiner persönlichen Glaubensentwicklung, sowie der christlichen Gemeinschaft. Es entstehen kirchliche Vereine und Verbände, in denen sich Laien organisieren. Katholische Arbeiter, Bauern, Akademiker, Frauen und Männer, Jugendliche und Kinder (Jungschar) sind gesellschaftstragende Stände. Katholische Kindergärten, Privatschulen, Krankenhäuser und Altersheime versorgen Menschen in allen Lebenslagen und ermöglichen ein Wir-Gefühl und eine katholische Identität, inmitten großer gesellschaftlicher Umwälzungen im Industriezeitalter.

5. Weltanschauung, die alle Lebensbereiche durchzieht und moralisch und religiös deutet.

Mit dualistischen Gegensatzpaaren kann so gut wie jede Situation gedeutet werden: Diesseits – Jenseits, Welt – Kirche, Klerus – Laien, Himmel – Hölle, Kirche – Gesellschaft. Deutungen erhalten eine starke moralische Komponente, sodass aus Bibelstellen, Katechismussätzen oder Predigtworten immer klare Handlungsanweisungen folgen.
Zugleich wird die Verantwortung des einzelnen betont, der für sein eigenes Seelenheil zuständig ist und mit Beichte und Selbsterziehung ein Kontrollinstrument für die Sünde in der Hand hat. Aber auch die Verantwortung für die (neu formierte bürgerliche) Familie wird herausgestrichen, sichtbar am Gebet für die armen Seelen im Fegefeuer.

6. Ein Netz von Institutionen für alle Lebensbereiche und Funktionen.

Neben der Pfarrseelsorge mit ihren Einrichtungen der Beichte und der Sonntagspredigt, den Schulen und Krankenhäusern entstehen auch christliche Gewerkschaften sowie eine christliche Volkspartei, welche die verschiedenen katholischen Standesvertretungen aufzunehmen versucht. Auf diese Weise artikuliert sich der gesamtgesellschaftliche Horizont des Katholizismus besonders in Österreich, während er in Deutschland dem vom Herrscherhaus bevorzugten Protestantismus gegenübersteht.

7. Dichte Ritualisierung des Alltags.

Neben den Lebenswende-Ritualen und den Kirchenfesten im Jahreskreis strukturiert das Angelus-Gebet den Arbeitstag. Fastenzeiten geben sozusagen einen katholischen Biorhythmus, der auch auf weltliches Brauchtum wie den Karneval ausstrahlt, oder beispielsweise auf kulinarische Traditionen. Aber auch vielfältige Heiligenfeste beantworten Bedürfnisse und Sorgen der Menschen.

Solche jeweils von der Kirchenleitung und von einflussreichen Laien sorgsam beobachtete Entwicklungen verschafften der katholischen Kirche dort, wo sie in der Mehrheit war, eine eindeutige Position und klare gesellschaftliche Dominanz und Autorität, die von oben und unten gestützt war. Besonders aber ermöglichte sie eine Identifikation von außen und von innen. Die Kirchenzugehörigkeit wurde damit wählbar, weil sie bestimmte, erwartbare Konsequenzen hatte. Die Bildung eines katholischen Milieus kann als Festlegung des Christentums verstanden werden.

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