tunesien erzaehlt

Sonntag, 7. August 2016

Beobachtungen

Ein Behinderter tauchte vor dem Cafe auf. Laut redete er mit seiner Fistelstimme vor sich hin in einem weinerlich flehenden Ton, und es waren wohl eher Laute als Woerter. Die Umstehenden verzogen keine Mine, niemand lachte oder spottete, keiner schickte ihn weg. Schliesslich war der Chef des Restaurants da. Der Huehne mit der tiefen Stimme und den tiefen Kerben in den Wangen dirigierte seine Mannschaft bloss mit Handzeichen und ohne Worte, und sie laufen flott. Nun steht er vor dem Behinderten zwischen den Gaesten an den Stehtischchen am Gehsteig, der aus weissen pupillenlosen Augen in die Umgebung stiert, drueckt ihm etwas zu essen in die Hand und fuehrt ihn anschliessend auf seine weiteren Bitten die Strasse entlang und um die Ecke, indem er den Weg bahnt und der Blinde sich an ihm festhaelt und hinterhertappt. Wenige Augenblicke spaeter ist der Mann zurueck und schreitet, ohne irgendjemand anzusehen oder eine Erklaerung abzugeben, an seinen Platz hinter der Theke, und der Betrieb setzt unverzueglich wieder ein

Freitag, 5. August 2016

Sabihas Lied

Vielleicht ist dies die lange gesuchte Liebesgeschichte/
Die nicht bereits endet, sobald das Paar auf verwickelten Wegen schliesslich zusammengefunden hat/ Oder die Im Rueckblick von der Trennung aus eine schmerzhaft schoene Geschichte erzaehlt/
Als waere Liebe nicht erzaehlbar/
Nur ihre Erwartung oder Erinnerung/
Als gaebe es Liebe nur in der Vorstellung, nicht in der Wirklichkeit/
Als koenne Liebe in der Sprache gar nicht praesent sein/
Oder als gaebe es keine Sprache fuer tatsaechliche Liebe, sondern nur fuer die Vorstellung/
Oder keine Dichter fuer diese Sprache; Minnesaenger nur fuer die Sehnsucht, aber nicht fuer die Wirklichkeit/

Alex Miller ist vielleicht so ein Dichter/
Er erzaehlt diese Geschichte, und erzaehlt sein eigenes Erzaehlen gleich mit/

Sabihas Lied/
Dieses Lied/diese Lieder sind bestimmt kein Minnesang/ Sind eher Dichtung des menschlichen Mysteriums/ Verdichtetes Wissen vopm Leben/ Verborgenes Wissen, in generationsuebergreifendem Liedgut aufgehoben/

Das ist das Eine, was in dieser Geschichte mit Tunesien zu tun hat/ Denn die Schauplaetze sind ganz woanders/ Tunesien ist bloss der unsichtbare Hintergrund/ Das ist das Andere. Tunesien als Herkunftsland, ohne dass irgendeine Fluchtgeschichte noetig wird. In Tunesien lebt der Vater. Der Geliebte, der Wissende; der Freigebende. Er spielt bei der Erfuellung der Liebe eine wichtige Rolle. Der Vater tritt auf, wenn es zur Finalisierung der Liebe kommt. Sein eigenes Leben ist diese Liebesgabe.

Diese Liebesgeschichte, und das ist das Realistische daran, ist auch eine Geschichte der Zeit. Jahre vergehen, Menschen altern, Ahnungen erfuellen sich, Erinnerungen und Hoffnungen bleiben gegenwaertig. Das zu erzaehlen erfordert sprachliches Koennen - es lesbar und interessant zu erzaehlen.

Aber der entscheidende Punkt der Erzaehlung der Liebe ist das Dritte. Es gibt ein Drittes in dieser /und wahrscheinlich in jeder/ Liebesgeschichte, das von Anfang an vorhanden ist, aber erst am Hoehepunkt eindringt. Es stiftet Verwirrung; alles koennte daran zerbrechen und auseinanderfallen/ oder endlich Erfuellung finden. Das Dritte bedeutet, die Liebe erfuellt sich nicht bereits in den beiden Liebenden. Es muss noch etwas hinzukommen. Levinas hat das gesehen, und Rilke kennt es. Es hat nichts zu tun mit einem Ort oder einem Ereignis. Es ist eher soetwas wie ein inneres Geschehen der Liebe, ein Zum-Ziel-Kommen dessen, was schon vom Vater her da ist - und das zu akzentuieren dieses Buch mit dieser Erzaehlerfigur einen besonderen Weg findet. Und genau das ist daran die Dichtung - und nicht bloss Erzaehlung.

Meine beste Empfehlung an Lesende von Sidi Bou Said aus, aus einem Cafe mit blau gestreichenen Stuehlen und runden Tischchen im Licht des Vormittags, zwischen schneeweissen Mauern und Stufen, unter Olivenbaeumchen und einer sengenden Sonne und gegenueber einem Meer, das nach Europa weist und das ich bislang noch nicht beruehrt habe

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