Visionen aus dem vorigen Jahrhundert

*künstlerisch-entwickelnde
pastoral*
Positionspapier zu einer
pastoralen Konzeption

1.

a.

MEINE PASTORALEN ERFAHRUNGEN: Ich wuchs im Wiener Arbeiterbezirk Floridsdorf auf, ging dort zur Schule, kannte „Pfarre“ nur als Gottesdienstbesucher. Geprägt hat mich damals ein Religionslehrer und Pfarrer eines Jugendzentrums. Nach meiner Übersiedlung in die Leopoldsstadt engagierte ich mich in St.Josef, „Karmeliterkirche“. Mit ver-trauensvoller Hilfe vom damaligen Kaplan übernahm ich Jugendarbeit - bald auch Firmkatechese, für die wir während eines ganzen Jahres gemeinsam ein Konzept entwickelten. In dieser kleinen, vielfach benachteiligten Pfarre kam ich mit dem „Geist der Entwicklung“ in Berührung, der während der Kriegsjahre schon den von mir verehrten Otto Mauer in dieser Pfarre infiziert hatte, und der sich vorerst in dem stillschweigenden Übereinkommen äußerte, für Firmkatechese und Jugendarbeit, aber auch Gottesdienstgestaltung nur Primärtexte zu verwenden, also selbstverfaßte Beispielsgeschichten oder literarische Texte hoher Qualität, Identifikationsspiele, oder etwa einen Abend zum Thema „Schuld“ in der Karwoche zu gestalten - in jenen Tagen, als über Waldheims Vergangenheit viel diskutiert wurde. Ich las lange Passagen aus Horwaths „Jugend ohne Gott“, ein Jugendlicher hatte dazu Bilder gemalt, die auf Dias präsentiert wurden, und mein Kompagnon Andreas spielte zum Text mit Freunden live Selbstkomponiertes in Leitmotivtechnik ein. Meine wichtigste Aktion aus dieser Zeit und meine erste Begegnung mit Neuer (atonaler) Musik.
Seit 1985 unterrichtete ich in der Hauptschule und lernte dort professionell Entwicklungsarbeit. Ich war z.B. im ersten Jahr Klassenvorstand von 36 vierzehnjährigen Burschen. Mein drittes Unterrichtsjahr verbrachte ich in Karenz und widmete mich meiner eigenen Entwicklung. Im Philosophiestudium, in Schreibversuchen über die menschliche Freiheit und in ungebremstem pastoralen Engagement verfolgte ich die Frage nach meiner eigenen Lebensentscheidung - solange bis die Frage mich verfolgte, warum ich nicht endlich nachgäbe und Priester würde. Bei dieser Frageumpolung hatte die Lektüre von Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ entscheidenden Anteil.
Am 1.April 1988 meldete ich mich bei Regens Toth an. Das war ein Karfreitag, und dieser sollte sechs Jahre dauern. Studium und studentisches Leben waren zwar freudvoll, aber geistige und spirituelle Enge von Priesterseminar und Leitung ein schwerer Klotz und eine Zwangsjacke, die mir die Luft abschnürte. Ich wurde durch Studenten und Leiter mit einem Ausmaß an Existenzangst und Zwanghaftigkeit konfrontiert, das einen auf sich Gestellten, der gewohnt ist, „auf eigene Faust zu leben“ (Zitat Musil), völlig überfordern muß. Glücklicherweise war ich nicht allein, sondern gestützt und umsichtig geleitet durch einen erfahrenen Entwicklungsförderer, der selbst aber, als eigenständig Denkender und Unangepaßter, denselben Anfeindungen ausgesetzt war wie ich. Wohl kaum jemand hat die Vorgänge in der Erzdiözese Wien so aufmerksam verfolgt wie jener Pfarrer, und ist für so viele Menschen helfend und fördernd eingetreten, und höchstens prominente Vertreter haben ähnlich viel Häme und Neid geerntet wie er. Schließlich fand man nur mehr seine Pensionierung als Ausweg.
In den Vorzeigepfarren, in die man mich schickte, um mich „geradezubiegen“, lernte ich verschiedene Spielarten des immergleichen Versorgungssystems kennen. In Kagran lehrte mich der Pfarrer das „Konzept der Blumenwiese“, wo alle Blumen wachsen dürfen. Nur ich wurde von Schnellerwüchsigen abgedrängt und dem Regens schlechtgemacht, sodaß ich von der Diakonweihe meines Jahrgangs, der insgesamt kaum pastorale Erfahrung besaß, ausgeschlossen wurde. Dann kam ich nach Ober St. Veit mit seinen elaborierten Umgangsformen und seinem gutbürgerlichen Dorfcharakter. Hier lehrten mich die jungen Damen und Herrn Mitarbeiter, was gewünscht war. Die Propheten aber, die ich damals rief, sind noch immer aktiv und in spirituell und existenziell sehr tiefer Verbindung mit mir. Ich begann damals, die Entwicklungsförderung auf prophetische Charismen zu konzentrieren, die in jeder Pfarre vorhanden sind, wenn auch nicht unbedingt im Zentrum des Aktionismus. Die größte Erfüllung in diesen Jahren aber erfuhr ich in der Arbeit mit den Kindern, besonders in der Waldorfschule, wo ich von 1994-98 Religion unterrichtete. Die Kinder begleiteten mich 1995 zur Diakonweihe, 1996 zur Priesterweihe in den Dom und saßen dort ganz in meiner Nähe. Von da an gab es Schulmessen in der nicht gerade katholischen Waldorfschule. 1998 fuhr ich mit der 6.Klasse ORG und dem Lateinlehrer und der Geschichtelehrerin und Klassenvorständin für eine Woche nach Rom. Die lebendige Geschichte (eigentlich ein waldorfpädagogi-sches Ziel ersten Ranges) der römischen Antike, der christlichen Anfänge und der Renaissance bewegten Lehrer und Schüler aber schon Monate davor (jeder Schüler hatte ein Referat gehalten an Ort und Stelle) und hoffentlich auch noch später.
Meine erste Kaplanspfarre in der Brigittenau führte mich wieder in eine Arbeiter- und Kleineleute-Soziologie wie in Kagran, diesmal aber inhomogen durch den außerordentlich hohen inländischen und ausländischen Migrantenanteil. Die Bildungslosigkeit, Kommunikationsarmut und Beziehungskälte dieser Milieus treibt den Rechtspopulisten in Scharen die ehemaligen Linkswähler zu - was die Bezirksvorsteher wissen und darum durch Kontakte zu den Pfarren zaghaft gegensteuern. Mir kam das in Allerheiligen zugute, als ich ein regionales Integrationsprojekt mit öffentlicher Unterstützung durchführte. Ich holte (im Alleingang) Schulen, Moscheen, Künstler, Politiker und, am wenigsten beteiligt, auch Pfarren zusammen, um ein Monat lang die gemeinsamen Wurzeln in der Türkei in der Region zu thematisieren. Wenn heute die Medienpräsenz als Gradmesser des Erfolges gilt, dann sind 50 Minuten Ö1 und 10 Minuten ORF2 ein gutes Ergebnis. Auch der Besuch der beiden Veranstaltungen am Anfang und am Ende ließ nichts zu wünschen übrig. Der wirkliche Erfolg dürfte aber in der Herstellung mancher Kontakte zwischen Bevölkerungsgruppen liegen - eine Einstellungsänderung wird kaum stattgefunden haben.
Das zweite Projekt dieses Arbeitsjahres holte vier befreundete albanische Künstler nach Wien, wo sie in der Votivkirche ihre Werke präsentierten (ich unternehme gerade weitere Anläufe, um die damals mir überlassenen Werke auch zu verkaufen), und wo in einer Eucharistiefeier auch musikalisch neue Wege begangen wurden. „Kunst in Kirche“ erscheint mir immer mehr als pastorale Notwendigkeit, keineswegs als Luxus (wie in meiner damaligen Pfarre mit ihrer Garagenkirche mit Linoleumboden und abwaschbaren Tapeten).


b.

DIE LITURGIE: Wie ein Fenster in die inneren Vorgänge einer Pfarrgemeinde ist mir immer die Liturgie erschienen. Die Umgangsformen (sie haben nach meiner Erfahrung den größten Prägecharakter und bestimmen am meisten die „Identität“ des Kollektivs - alles andere ist ihnen ideologisch nachgeordnet), die Arbeitsformen (einer statt allen, oder Konformismus, meistens mit oligarchischer Ausprägung), und v.a. was man für das Wichtigste im Glauben hält. In den Wiener Pfarren, die ich kenne, ist das meist Anpassung an Modernismusideologie, entweder im vornehm intellektuellen Ö1-Stil (Hietzing) - oder eben wie Ö3: anbiedernd, schrill, geschmacklos, inhaltsarm. Das orientiert sich nach der Platitüde „Zu den Leuten gehen“. Auch meine engagierteren Jungpriesterkollegen, die in Niederösterreich arbeiten, folgen solchen Leitbildern. Ein anderes, weniger häufiges, aber stark bindendes Leitbild gibt Caritas und Mission, weil handfeste Hilfe für Andere (Ferne) europäisch abstrakte Lebensformen veran-kern kann.
Die Verunsicherung der in den späten 60ern und v.a. in den 70ern dogmatiklos ausgebildeten Priestergenerationen in ihrem Selbstverständnis äußert sich meist in der Selbstpräsentation, antiklerikal aufzutreten und mit dem „System Kirche“ möglichst wenig in Verbindung gebracht werden zu wollen - gepaart mit dem populistischen Unbehagen gegen jegliche Obrigkeit (dessenungeachtet sie alle autoritär über Reste regieren). Daher wird die Liturgie zur Protest- und Kontraveranstaltung - bei den Engagierteren -, und zum großen Teil ist der wildwachsende Eigenbau völlig inkompatibel mit der Liturgie schon der Nachbarpfarre - ein Problem schon bei Vertretungen, aber v.a. ein Motor zur Erzeugung eines Konkurrenzdrucks zwischen den Pfarren. Das Miteinander im Klerus, das längst stillschweigend durch Freundeskreise in den Pfarren ersetzt wurde (oder kompensiert?), ist daher geprägt durch heimliche Mißbilligung der Sonderwege der anderen, die den eigenen Sonderwegen diametral entgegenlaufen.
Darüber hinaus sind die liturgiegestaltenden Einflüsse auf die Einzelinteressen von Mitarbeitern beschränkt und von ihren Vorlieben für konservative oder aktionistische Formen. Dem schweigenden konservativen zufriedenen, sich versorgen lassenden Gemeindeteil steht der junge, sich inszenierende gegenüber, der sich mit bestimmten bevorzugten Liederbüchern selbst eine gefällige Umgebung bereiten möchte, die jedoch selten inhaltlich zu binden vermag.
Die Steuerung solcher liturgischer Entwicklungen erfolgt nach persönlichen Vorlieben, meist nach Zweckrationalität - aber kaum noch habe ich einen pastoral Tätigen kennengelernt, der nach der sachlichen und personalen Notwendigkeit gefragt hätte. Das Studium der Liturgiegeschichte oder der liturgischen Überlegungen des Konzils und der Kommissionen erfolgt höchstens, um eigene Vorlieben zu rechtfertigen. Liturgische Bildung und Interesse der Mitarbeiter wie der Gemeinde ist marginal. Was ich v.a. immer wieder vermißt habe, ist, sich mit dem Sinn liturgischer Handlungen auseinanderzusetzen. Wenn Volks- oder Hochaltar danach beurteilt werden, ob man die Gemeinde sehen will oder nicht, wird das Wesen des Altars gar nicht zur Frage. Wenn eine Participatio der Gemeinde darin gesehen wird, daß Menschen zur Gottesdienstzeit den Gottesdienstraum betreten und sich eine Weile darin aufhalten, dann erscheint der Gemeindegesang, die Sammlung, die Umschreitung der Versammlung, die Darbringung der Gemeinde-Gaben als Schnickschnack, für den niemand ernsthaft einen Finger rührt. Wenn Gotteswort und Orationen als litaneiartige lautmalerische Atmosphärengestaltung verstanden werden (von etlichen Mitarbeitern auch in Kärnten ausdrücklich so bezeichnet!), dann wird sie je nach Qualität und Geschmack möglichst gekürzt oder durch allerlei Lokaltraditionen ausgeschmückt werden. Wenn Chorgesang als feiertägliche Herablassung würdiger Damen und Herrn erwartet wird, dann ist Volksgesang nur mehr Pausenfüllung, und Anleitung desselben Fleißaufgabe. Daß sich trotz jahrzehntelanger Chorgesangsausbildung nahezu niemand auftreiben läßt, der sich als Kantor einer Ge-meinde gegenüberzustellen bereit ist, bestätigt diese Beobachtung von Selbstein-schätzung und Liturgieverständnis der Mitwirkenden und Verantwortlichen. Und da, wenn überhaupt etwas am Gottesdienst bereichernd sein kann (z.B. besuchen 80-90% meiner Taufgesprächspartner in Ferlach und Maria Rain die Kirche falls überhaupt, dann am liebsten allein, wenn sie leer ist), dies nur von der Predigt selbst erwartet wird, versinkt man davor und danach in eine Art Dämmerschlaf, um dann moralistisch bestätigt oder beunruhigt zu werden (im Falle älterer Priestergenerationen). In allen meinen pfarrlichen Bibelgesprächen (auch in Wien) wurde stets eine moralische Auslegung erwartet und geboten - mitunter in psychologischer Verbrämung im Stil Drewermanns -, und ohne daß man überhaupt auf den Text schaut und hört, weiß man schon, was dadurch erlaubt, gefordert und verboten wird.
Und zuletzt und zuerst maßgeblich sind die Erfahrungen der Menschen mit dem vorherrschenden Stil liturgischen Feierns, der ihnen in der eigenen Pfarre begegnet, als kanonische Meßlatte. Und den empfinden sehr viele Menschen unter 30, ja sogar unter 40, als langweilig und nichtssagend, reine Pflichterfüllung zur Beruhigung und Reinigung des Gewissens (auch der älteren Verwandtschaft). Alle meine Gesprächspartner bei Taufgesprächen in Kärnten haben Taufen in der Sakristei oder im Spital erlebt, die unter 10 Minuten gedauert haben. Alle sind ahnungslos über Inhalt und Bedeutung der Taufe, niemand (100%) hat jemals zuvor eine christologische Begründung der Taufe gehört und brächte von sich aus das Taufgeschehen mit Christus in Zusammenhang statt mit Ängsten wie: „Wenn das Kind stirbt, damit es in den Himmel kommt...“, oder mit kopfschüttelnd widerwillig vorgebrachtem „Wegen der Erbsünde...“. 2/3 der Firmkandidaten gehen wegen der Verwandtschaft zur Firmung, etwa 1/2 bezeichnet sich selbst als ungläubig.
Ich fasse diese Erfahrungen zusammen in dem Begriff Relevanzverlust. Die Ritualisierung des Sonntagvormittags, angereichert mit Anektotischem aus der Predigt, motiviert durch die tangentiale Begegnung mit (lieben) Menschen; das alles zusammengehalten und unterfaßt von der Ahnung von innerer, allerdings verborgener Richtigkeit und abstrakter Heilsbedeutung des Vollzugsganzen. Eine solche Motivationslage wäre vielleicht ausreichend in einer hermeti-schen Nachkriegsgesellschaft mit hohen Pflicht- und Anpassungswerthaltun-gen, profilierter Ausdruck eines wählbaren, stark kollektiv orientierten christlichen Ethos. In individualistischer Motivationslage erscheint solche Liturgie- und Gemeindekonzeption vorwiegend interessant für ältere Generationen und Anpassungsbedürftige. Ansonsten bietet die Pfarre jede Menge Freizeitgestaltung und Sinnstiftung, die auf gleicher Ebene erscheint wie Sportvereine, Feuerwehr und Musikgruppen. Die Notwendigkeit der Funktionen ergibt sich jeweils daraus, daß es sonst ja niemand machen würde - aber nicht aus dem Sinn des Ganzen. Und dieser Sinn des Ganzen müßte m.E. in der existenziellen Relevanz der Liturgie zusammengefaßt zum Ausdruck kommen - transparent und zugänglich für jeden Teilnehmer, affektiv und intellektuell kommuniziert und vollzogen. Ich halte die zugesagte Präsenz Christi in der Eucharistie für so bedeutend, daß auch die antwortende Präsenz der Gemeinde entwickelt werden muß, weil die Gegenwart des einen die Gegenwart des anderen erschließt.


2.

a.

VORÜBERLEGUNGEN ZUR GEMEINDE- UND LITURGIEKONZEPTION: Ich sehe Sinn und Aufgabe pastoraler Arbeit in der Heranführung der Menschen an die Gegenwart Christi in der Eucharistie. Das eröffnet mehrere in unserer Situation zugängliche Dimensionen von Seelsorge:
• Ein entwickelnd-heilender Umgang der Menschen miteinander: Nicht die Funktionserfüllung steht im Mittelpunkt, sondern die Menschwerdung der Gläubigen. Personzentrierte Gesprächsformen mit therapeutischem An-spruch (i.w.S.) sowie suchende, fragende und gestaltentwickelnde Vollzüge prägen das Gesamtbild. [Das pure Gegenbild dazu: eine „Wir sind wir“- Club-mentalität, die starre Vollzüge mit großem Aufwand in Gang hält, um fixierte Identität aufrechtzuerhalten]
• Ausgang und Ziel Liturgie: Festkreise, liturgische Elemente und Symbole (Wasser, Blut, Fleisch, Wein, Brot, Kreuz, Chrisam, Prozessi-on/Gehen, Hören, Sprechen/Singen, Stille, Schauen...) bestimmen Aufgaben und Vollzüge. Sie sind Themen der Auseinandersetzung und Vorbereitung von Gruppen. Die Aktivität dieser Gruppen ist somit themenbezogen und auf die An-eignung durch die Gemeinde orientiert. [Der Kontrast dazu: die Präsentation ei-nes an sich bedeutungslosen Wandteppichs in der Kirche, den die Gruppe ... gemacht hat und damit ein Lebenszeichen von sich gibt]
• Ein sich fortwährend reflektierender und weiterentwickelnder Selbstvollzug: Persönliche und gruppendynamische Stabilisierung soll durch Auseinandersetzung und Kompetenz erreicht werden, nicht durch abgeschlos-sene und ausschließende Formen. Z.B. soll die fünfte Neukonzeption der Oster-liturgie nicht fixe Bausteine und festgelegte Aufgabenverteilungen bereitstellen, sondern Erfahrung im Gestalten und Nachfragen nach dem Sinn. Gleichwichtig wie die Durchführung selbst ist demnach die tiefschürfende Vorbereitung und die umfassende Erfolgskontrolle durch Beobachtungen und Befragungen. Damit eng in Zusammenhang steht die
• Intellektuelle Entwicklung: Das durchschnittlich vorhandene Glau-benswissen auf Volksschulniveau, angereichert mit massenmedial produziertem Meinen, ist unserer hochintellektualisierten Welt nicht angemessen, in der schon die Bedienung von Computer und Fernsehfernbedienung den Geist mehr heraus-fordert als die Religion. Aber zum „Wissen“ gehört Verstehen, Erkennen und Interpretieren gesellschaftlicher, politischer (bes. in Kärnten), kultureller und re-ligiöser (i.w.S.) Erscheinungen. Entwickelte Theorie und entwickelte Praxis be-dürfen einander.
• Künstlerischer Anspruch: „Kunst“ ist hier nicht akademisch ver-standen, auch nicht nur vom Werk her, sondern als Prozeß der Auseinanderset-zung. Es geht nicht um möglichst perfekten Nachvollzug von Formen (z.B. Lie-der), sondern um experimentelles Beschreiten neuer Wege, ohne konfliktscheu zu sein. Das führt zu einer Ausweitung der Bereiche und Dimensionen. Musik im Gottesdienst führt über die Schubert- oder Katschtaler Messe hinaus zu Neuer Musik, Gregorianik, atonalen, seriellen oder elektronischen Experimenten, Perkussion, zu Musik anderer Völker und v.a. zu verschiedenen Formen von Gemeindebeteiligung in Hören, Mit/Nachsingen, Tanzen, Text, Klang, Melodie verinnerlichen usw. Andere Bereiche: Kirchenraum, Bewegung, Licht, Literatur. Diese Dimension zeigt am deutlichsten die Zukunftsorientierung der ganzen Konzeption.
• Integrative Vollzüge: Eine Isolierung und Abschottung von Grup-pen ist vorübergehend möglich, um konzentriert bei einer Sache bleiben zu kön-nen - im ganzen aber ist die Bildung von Sondergruppen unerwünscht. Auch das Sonderbewußtsein der Gemeinde soll sich darauf beschränken, für andere schon erprobte Wege bereitzustellen. Eine solche Gemeinde müßte ein regiona-les Zentrum darstellen, das suchende und/oder in irgendeiner Weise kompeten-te Menschen anzieht. Bevorzugte Ansprechpartner müssen alle pastoral Tätigen sein, z.B. Religionslehrer. Kooperation mit anderen Gemeinden und der Kirchen-leitung müssen selbstverständlich sein. Auf jeden Fall müssen Kompetenzen im-portiert werden, d.h. Menschen, die etwas für die Entwicklung der Gemeinde Relevantes können, eingeladen werden. Auch soziale, religiöse und ethnische Begegnung ist ein wichtiges Ziel dieser Dimension (somit die Bereiche Caritas und Mission).
• Spirituelle Dimension aller Vollzüge: Spiritualität erschöpft sich nicht in Gebetsübungen. Meditation, Bildung von Leib und Seele, v.a. ein ganz-heitliches Menschenbild prägen Liturgie und Alltag. Mystische Tiefe wird nicht auf Sonderbereiche ein-(aus-)gegrenzt, sondern in der Vertiefung aller Dinge gesucht. Vielleicht ist auf diesem Wege eine Verbindung mit den sog. Fernste-henden am ehesten möglich, die sich häufig an bestimmten Vollzügen stoßen, deren Offenheit aber durch die Konfrontation mit der als Institution erfahrenen Kirche Begrenzungen erfährt.
Die beiden letzten Dimensionen halte ich für die wichtigsten in Bezug auf die kirchliche Erneuerung auf personeller Ebene. Ich habe nirgends soviel Ausgrenzung und Oberflächlichkeit erlebt wie im Priesterseminar und im Zu-sammenhang mit der ganzen „Priesterausbildung“. Ich habe dutzendfach gese-hen, daß man mit kreativen, lebhaften und spirituell tiefen und ernsthaften Men-schen nichts anzufangen weiß und ihnen nichts zu bieten hat, weshalb sie selbst gewöhlich nicht lange im Seminar aushalten. Das verdünnt die Begabungen im Klerus ungemein, ohne die Angepaßten zu stärken . Das hier zu entwickelnde Konzept will einen Raum zur Reifung solcher Menschen bieten.

b.

ZIELFORMULIERUNGEN: Hier sind eine praktische, vom Vollzug bestimmte Ebene von der Ebene der inhaltlichen Auseinandersetzung zu unterscheiden. Außerdem müssen allgemeine, weit ausgreifende Formulierungen konkreten, anwendungsbezogenen gegenüberstehen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines Leitbildes für Gemeinde und Liturgie, das Identifikation von Mitarbeitern und Gemeindemitgliedern ermöglicht (auch Ablehnung). Für jede Dimension (s.o.) müssen Grobziele formuliert werden, anschließend (von Arbeitsgruppen) operationalisierte Etappenziele (deren Erreichung überprüfbar ist). Außerdem ist für die Durchführung wohl am wichtigsten, über die nötigen finanziellen, personellen und baulichen Mittel Bescheid zu wissen.

c.

VERFAHRENSFRAGEN: Ein solches Konzept einer bestehenden Pfarre zu implantieren erscheint gewaltsam. Entweder läßt sich der Einstieg in eine solche Arbeit mit einer Neugründung verbinden (das könnte den Vorteil eines konzepti-onellen Kirchenneubaus haben), oder eine Pfarrübernahme könnte das Konzept schrittweise einführen, adaptieren und aneignen . Das Einzugsgebiet müßte groß genug sein, um Austausch und Kommunikation zu ermöglichen. Z.B. würde ich Kontakte zur Universität, zu Künstlern und kulturellen Institutionen vertiefen und erweitern. Für kulturelle Aktivitäten wird eine professionelle PR-Arbeit u-nerläßlich sein. Begegnung und künstlerische Arbeit erfordern Räumlichkeiten, Werkstätten und Ateliers sowie Unterbringungsmöglichkeiten.
Die finanzielle Einbindung sollte die Anstellung und Unterbringung einiger hauptamtlicher Fachleute ermöglichen, die eine ganze Region versorgen könnten - z.B. für musikalische Entwicklung, für spirituelle Vertiefung, für therapeuti-sche Begleitung, für künstlerische Anleitung und pädagogische Führung. Ande-rerseits könnte bei entsprechender PR-Arbeit auch ein künstlerisch-pastorales Zentrum entstehen, das sich durch den österreichweiten Verkauf selbst herge-stellter liturgischer Geräte und Gewänder oder durch Beratung und Hilfe bei künstlerischen Kirchenraumgestaltungen z.T. selbst erhalten kann. Diesbezügli-che Kontakte zu Künstlern, Therapeuten, Gesangausbildnern und Universitäts-professoren und -Assistenten baue ich seit Jahren auf.

3.

ANSÄTZE IN MEINER BISHERIGEN ARBEIT: Das vergangene Arbeitsjahr in Maria Rain bot Gelegenheit zu manchen Experimenten. Am auffälligsten und wirkungsvollsten waren zwei Dinge, die Hinführung der Kinder zur Liturgie und die Taufliturgie, jeweils unter Einbezug der ganzen Gemeinde. Die entwickelte Präsenz der Kinder wirkte auf alle belebend. Das Charisma einiger, Zusammen-hänge schnell zu durchschauen und auszusprechen, oder das Charisma anderer (recht vieler), so intensiv im Lauschen, Gehen oder Beten anwesend zu sein, daß sie alles andere vergaßen, überzeugte die Gemeinde, allen voran die Eltern (meist Mütter) der Kinder, die deren Bewegtheit spürten.
In der Taufliturgie setzte ich meine von Schulkindern gemachte Taufstola ein, die mit Bildern aus dem langen Taufwasserweihgebet und mit Symbolen für Leben und Tod geschmückt ist, weiters verwende ich Chrisamöl in einem gläsernen Fläschchen und vermeide es, nach der Salbung die Hände abzuwischen, als hätte ich mich mit Ekeligem beschmutzt (wie bei den grünspanigen watte-verfilzten Blechdöschen), sondern verreibe und verstreiche behutsam das Öl auf der Haut des Kindes. Dabei entsteht außerordentliche Berührungsintensität. Bei Predigtgespräch und Gesanganleitung (GL 46) wurde Fremdheit schon aufgelockert und Kontakt hergestellt, bei der Versammlung um den offenen, mit Was-ser gefüllten Taufbrunnen Intensität erzeugt, beim Eintauchen der Hände ins Wasser (Epiklese) auf dieses konzentriert. Die stärkste Wirkung und Überzeu-gung geht von der vollendenden und abschließenden Präsentation des getauften Kindes am Altar aus, wenn die Gemeinde um diesen versammelt ist und das Vater unser betet.
Weiterzuführen wäre die Beteiligung der Kinder an allen Gottesdiensten als Normalform, die Vertiefung der Wassersymbolik, das Taufgedächtnis, die Verankerung der Taufe in der Osternacht, überhaupt das Taufbewußtsein und -Charisma der ganzen Gemeinde.
Durch Selbstgestaltung mancher liturgischer Gegenstände (Kelch, Evan-geliar) wurde Aufmerksamkeit auf diese gelenkt. So habe ich etwa des öfteren Stolen und Meßgewänder eigener Fabrikation verwendet - und zum Abschied eine von den Kindern selbst gestaltete Seidenstola bekommen (was sogar unbe-teiligte Gemeindemitglieder als Lernerfolg der Gemeinde bezeichneten). Die Erneuerung alter (vergessener) Bräuche, wie z.B. der Gabenprozession, hat manchmal Verwunderung und Fragen ausgelöst. Das Gespräch über solche Vollzüge wäre allerdings noch weiterzuführen. Ein großer Dorn im Auge ist mir nach wie vor die Beschränkung der Gaben auf die große Hostie (welche wo-möglich, in den kleinen Pfarren, samt Kelch schon am Altar wartet, um keine Umstände zu machen), die dann feierlich konsekriert im Mund des Priesters verschwindet, worauf er für die Gemeinde die schon längst verstauten (und versteckten) Gaben aus dem Tabernakel holt wie aus dem Kühlschrank. Die Einheit des Vollzugs ist dadurch gestört, Priestervollzug vom Gemeindevollzug abgehoben und zwei zusätzliche, sachlich nicht gerechtfertigte Wege zurückzulegen. Die ohnehin unterentwickelte eucharistische Frömmigkeit unserer Gemeinden wird dadurch weiterhin behindert.
Besonders wäre der eigene Kirchenraum zu erschließen, denn wenig Menschen in Maria Rain wissen etwas darüber, obgleich die meisten ihn sehr schätzen. Die den wunderbaren Steinboden verdeckenden Teppichböden, die vielen herumstehenden kleinen Bänklein, der monumentale Gabentisch, der üppige Blumenschmuck auf dem Hochaltar und vieles andere wäre genauer in Augenschein zu nehmen.
Für alles das und vieles mehr wäre natürlich ein ständiges Gespräch über und Interesse an liturgischen Vollzügen nötig - die Fragen danach wurden aber geweckt.
Ein Zwischenschritt aber bis zur künstlerischen Durchdringung und Verwesentlichung liturgischer und pastoraler Vollzüge, der auch in der gegen-wärtigen Praxis längst zu vollziehen wäre, ist die Einübung der Gemeinde in ihre eigenen Gemeindedienste wie Lektor (sinnerfülltes, bewußtes Lesen), Kantor, eigenes stilles und verbalisiertes Gebet (Orationen als Zusammenfassung wo-von?, Fürbitten), Antworten (Monsignore gibt sich immer selbst die Antwort und behindert damit die Gemeindeantwort) und v.a. Gesang (nicht nur zu besorgen von Stellvertretern) und Körperhaltung (gegen das zum Dösen verleiten-de Aussitzen). Dafür zumindest allmählich ein Bewußtsein zu schaffen wäre ein gutes Ziel für mein zweites Jahr in Ferlach, Dollich und Unterloibl.


Bisherige künstlerisch-entwickelnde Aktionen:
• Filmprojekt mit 15 Jugendlichen vom Rosental bis St.Veit: Schnee von ge stern - Tau von morgen
• Rilke-Lesereise nach Duino, Triest und Koper
• Musil-Lesegruppe I & II zum Mann ohne Eigenschaften
• Kindermesse in Grado
• Evangeliar aus Email mit Jugendlichen aus Maria Rain und Schülern der HTL Ferlach
• Evangeliar aus Keramik-Mosaik von Kindern aus und für Ferlach
• Ausstellungen moderner Künstler aus Albanien in St.Georgen, im Schloß Ferlach und in der Pfarrkirche Greifenburg
• Konzert Neuer Musik: Engel von Ensemble Hortus Musicus in der Stadt- pfarrkirche Ferlach (im kommenden Advent)
• Rockmesse mit selbstkomponierten Liedern zum Prophet Elija in Berg/Dr.








Ferlach, im Oktober 1999

Dieses Positionspapier wurde zwei Bischöfen vorgelegt und von einem als undurchführbar verworfen, vom anderen als pastorales Programm angenommen. Sie führte schließlich zu meiner Inkardinierung und in meine heutige Pfarre. Nach zehn Jahren prüfe ich nun die Umsetzung des damals Geschauten

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weichensteller - 16. Aug, 11:56
Hallo Weichensteller!...
habe ich genauso in Erinnerung wie auf deinen Fotos....
SCHLAGLOCH - 15. Aug, 15:16

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