1. grunderfahrungen

a.

Erfahrungen wie die, vom Psiloritis-Gipfel in Kreta abzusteigen, immerhin fast 2500 Höhenmeter und, hätte ich nicht im Übermut den Weg verloren beim Abstieg, jeweils sieben Stunden hinauf und dann wieder hinunter zu steigen, so also länger, und daher bei einbrechender Dunkelheit über die letzten Schafweiden und Steinmauern auf das Dorf Kamares zu: und dann nichts mehr gesehen! Im Blendlicht der Straßenlaternen mit den Händen weitergetastet, durch Gestrüpp und über Mäuerchen, ohne die Spur eines gebahnten Weges, bestimmt noch eine Stunde lang, am Dorfrand entlang, jeden einzelnen Schritt sorgfältig gesetzt in der völligen Entzogenheit des Bodens. Nicht zu sehen, wo man steht und wo man hinsteigt, sozusagen in der Unwegsamkeit schwebend, und nach allen Seiten tasten und irren, vor, zurück, seitwärts – und irgendwann doch einen Durchschlupf finden, und endlich befreit hinaustreten auf die Dorfstraße und hinüberschreiten zum Quartier, und dann wieder aufgefangen von der Sorgsamkeit des Wirts, dem guten Essen und dem festen Dach/

Oder voriges Jahr in Neum, der einzigen bosnischen Stadt am Meer, von der Magistrale, die an der Küste entlangführt, wo Urlauber mich mitgenommen haben, nachdem ich schon beinahe im Landesinneren gestrandet wäre an der Weiterfahrt von Medjugorje: und dann hinuntergestiegen die Kurven auf das Meer zu, im Finstern, und noch eine Kurve, nun muß doch schon das Meer sein, und noch eine, und dann der Kiesweg, der Parkplatz, und von drüben laute Musik und grelles Licht, aber kein Meer, kein Spiegel, kein Plätschern, nur schwarz. Langsam, Schritt für Schritt, mit gespitzten Ohren und aufgerissenen Augen: und dann endlich, die Umrisse eines Ruderbootes, das leicht, fast unmerklich schaukelt, da muß das Meer sein.

Und vorhin, beim Laufen, am Kiesweg entlang der Drau, in die Nacht hinein: etwas weniger Tempo, sehr aufmerksam für die Zeichen des Bodens, kleine Unebenheiten, Kies, Erde, Gras, Laub, im Freien, unter Bäumen, der Geruch des Flusses, der Widerschein der Bahnsignale, das Blendlicht eines entgegenkommenden Zuges. Plötzlich fällt der Weg ab, es hebt dir den Boden aus für einen Augenblick, oder an der finstersten Stelle wirst du angesprochen von einer Frau, die ihr Fahrrad schiebt und von einer weißgefleckten Katze umstrichen wird, so daß du ganz aus dem Rhythmus kommst, und beim Zurücklaufen nocheinmal.

Grund zum Gehen, zum Steigen, zum Laufen, zum Stehen – zum Suchen und Finden. Grund, dessen man habhaft zu sein glaubt untertags, und der sich nachts zurückzieht. Grund der Erkenntnis, der Orientierung, der Einsicht. An der Grenze, am Übergang zeigt sich, dass er dich preisgeben könnte, und dann tut er es doch nicht. Aber einen Grund brauchst du. Für alles.


b.

Wenn die Schüler über Franz von Assisi nachdenken sollen, dann wäre es ein schwacher Grund, was sie über ihn bisher gehört haben. Verniedlicht, verkitscht von Volksschulzeit an, zum Tierschützer degradiert. Assisi gesehen und erfahren wäre ein besserer Grund, nach ihm zu fragen. Aber auch da: aus dem Busfenster und Luxusquartier oder mit den Mühen des Fußweges gibt sehr verschiedene Gründe. Der beste Grund wird dann erschlossen sein, wenn, auf ihm stehend, die Gestalt des Heiligen in ihrer Eigentümlichkeit erkennbar wird in ihrer ganzen Fragwürdigkeit, am Sonderweg mit Mensch und Gott, und besonders mit sich selbst. Du kannst den Schüler nicht „motivieren“, den Heiligen verstehen zu wollen oder sich mit ihm zu identifizieren. Du kannst ihn höchstens auf den Boden stellen, von dem aus er den Blick frei hat auf ihn. Und zwar im Zwielicht. Im Scheinwerferlicht erkennt man das Heilige nicht. Auf einen Blick und ohne Anstrengung.
Ich lasse sie seine Charaktereigenschaften raten. Da geraten sie an die Fragwürdigkeit der Berichte, an die Selektion der Überlieferung, und beginnen nachzufragen, wie er wirklich war. Und dann tasten wir nach unseren eigenen Eigenschaften, einzeln und gemeinsam. Auch wir selbst sind nicht eindeutig und geradeheraus. – Und schon ist eine Beziehung da zwischen uns und ihm. Kein ganz Fremder mehr, wir selbst hingegen etwas verfremdet. Und seht ihr: so entsteht ein gemeinsamer Boden. Und dann geht’s zur Sache. Dann kommen die Berufungsstationen, die immer Entfremdung bringen und Grund bieten und entziehen zugleich. Und keine Erfahrung ohne Herausforderung, ohne eigene Stellungnahme, ohne eigene Sinngebung. All das Widerstrebende muß beantwortet werden, das Widersprüchliche ausgehalten. So kommt er Schritt für Schritt weiter, und unter seinen Füßen zeichnet sich ein Boden ab, ein Weg nach und nach. Kaum ist sein Weg benennbar, kaum hat er Gefährten, kaum bekommt er Anerkennung: da ist schon wieder alles gefährdet, da beginnt sich unmerklich unter der Hand, im Weitergehen, der mühsam errungene Weg zum System einzurollen, da möchte man schon wieder alles habhaft haben, eine Gemeinschaft ordnen, Häuser bauen und um Unterstützung werben. Aber Franz gibt das Zwielicht nicht auf. Er bleibt auf dem Boden, der unter seinen Füßen entsteht. Keine asphaltierten Plätze. Ob ich ihnen das zeigen kann.


c.

Schwester Johanna hat lange Jahre quälenden Suchens hinter sich. Eine gute Ausbildung, eine gute Stelle, ein guter Freundeskreis haben ihre Unruhe nicht stillen können. Ein solches bürgerliches Leben ist nicht genug Boden für jemand, dem Gebet bereits Nahrung geworden ist, und wenn zunächst verschiedene Wohngemeinschaften und Arbeitsstellen ein Weg-Tasten waren, so führte die Spur später zu Schwesternhäusern und Ordensgemeinschaften. Diese Art Gehen ist immer mit dem nächsten Schritt beschäftigt, da helfen keine Übersichtskarten und Entfernungsangaben, da gibt es noch keine festen Kriterien. Da hat man nur Zeichen, und die müssen entschlüsselt werden anhand der wogenden und fließenden Innerlichkeit, ohne Vorbild, ohne Ratgeber, ohne Vorwissen. Eigentlich eine unmögliche Aufgabe. Aber der Boden wird unter dem Füßen.

Schwester Johanna lebt schon über zehn Jahre mit der ewigen Profeß, und heute noch können einige ihrer damaligen Freundinnen ihren Weg nicht verstehen. Obwohl sie selbst religiös sind. Aber auch für sie selbst sind noch viele Fragen offen, vielleicht noch mehr als anfangs. Und sie selbst findet sich immer wieder, und immer tiefer in Frage gestellt, sie ringt und kämpft – und löst, oder findet Auseinanderfallendes gelöst in Gott. Vielleicht würde sie zustimmen, dieses Beantwortenlassen des Fraglichen in ihr selbst und überall in Gott für das Geistliche ihres und unseres Weges zu halten/

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