2. Genaues Lesen
a.
Ulrich beschreibt die moderne Geisteshaltung als die der Genauigkeit. Das erklärt nun seine bisherige Ausbildung als Ingenieur und Mathematiker. Genauigkeit wird als der Ausgriff auf die Welt durch Vermessung und Bebauung verstanden, in einem wissenschaftlichen Pathos, der seit Musils Zeiten bestimmt nicht abgenommen hat. Dem Schwelgen in den Erfolgen von Wissenschaft und Technik stellt Ulrich aber stets eine andere Geisteshaltung entgegen, die mehr auf Ganzheit und Ursprünglichkeit bedacht ist. Zwischen beiden Geisteshaltungen pendelnd wird der Fortgang der Weltgeschichte dargestellt – also unentschieden.
Eine Stelle dabei soll nun als Warnung angeführt werden, sich die Sinnfrage nicht zu leicht zu machen: Denn all die modernen und genauen Menschen, die ihr ganzes Leben rationalisieren, überlassen die Fragen der Schönheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Glaubens ... am liebsten ihren Frauen, und ... einer Abart von Männern, die ihnen von Kelch und Schwert des Lebens in tausendjährigen Wendungen erzählen, denen sie leichtsinnig, verdrossen und skeptisch zuhören, ohne daran zu glauben und ohne an die Möglichkeit zu denken, dass man es auch anders machen könnte. (248)
Die Sinnfrage erscheint in der Gesellschaft also aufgespalten. Das ist umso folgenreicher, als eine der beiden Fragegestalten ja ausdrücklich Ganzheit beansprucht. Lässt sich das durchhalten?
b.
Mit dieser zitierten Bemerkung wird also bereits eingangs eine christliche Beantwortung der Sinnfrage im Predigerstil ausgeschieden: daran wird nicht geglaubt. Glaubensantworten haben keine Plausibilität mehr, zumindest im eindeutigen kirchlichen Predigerkontext. Dennoch sollte die Hoffnung auf eine Lösung nicht vorschnell aufgegeben werden, denn es ist auf die Zusatzbemerkung zu achten: ...ohne daran zu glauben und ohne an die Möglichkeit zu denken, dass man es auch anders machen könnte. Es anders zu machen ist neben der Sinnfrage der zweite rote Faden des Romans. Ulrich nennt das Möglichkeitssinn, und gerade dieser Gedanke motiviert ja seine Sinnsuche. Er möchte sein Leben nicht in durch Konventionen vorgegebenen Bahnen führen, er sucht nach Möglichkeiten und ringt um Alternativen. Der erste Teil des Romans besteht sozusagen aus der Bestandsaufnahme der Sinnkonzepte von Ulrichs Zeitgenossen – zu denen er eine Alternative sucht.
c.
Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass sich das Andersmachen auch auf die Predigt in tausendjährigen Wendungen bezieht. Die Sinnfrage im christlichen Kontext ist in Formeln erstarrt und abartig geworden, also nicht mehr männlich, unternehmend und angriffig. Allerdings ist die christliche Erstarrung der Sinnfrage im Zusammenhang zu sehen mit der Abspaltung der anderen Ganzheitsfragen, nach Schönheit, Gerechtigkeit und Liebe. Da ist an die Ausdifferenzierung der modernen westlichen Gesellschaft zu denken, wie sie Max Weber zu Musils Zeiten für die moderne Soziologie formuliert hat, die nicht nur soziale Milieus, sondern auch Sinnbezirke abzirkelt, und dann der Wissenschaft einen, der Kunst einen weiteren, und eben auch der Kirche nur einen bestimmten Gültigkeitsbereich zuweist. Es kann zu Recht behauptet werden, dass die Gesellschaft durch diese Entwicklung der ganzheitlichen Sinnfrage das Wasser abgegraben hat – und in der Folge wurde diese Not auch häufig artikuliert, sei es durch totalitär-ganzheitliche Systeme, sei es durch überzogene oder reduzierte Sinnansprüche der Kunst, sei es durch ganzheitliche Psychologie oder durch ganzheitliche Spiritualitäten und Körperübungen. Die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt zeigt sich hiervon unbeeindruckt und bietet den Angeboten einen lukrativen Markt, wodurch der Ganzheitsanspruch erst recht wieder beschnitten ist. Ist darauf eine kirchliche Antwort bekannt?
d.
Der Roman meint es trotz üppiger Sprachbilder und gewagter Vergleiche durchaus ernst, wie am Kriterium des „Jüngsten Tages“ zu sehen ist, an dem die wissenschaftlichen Abhandlungen über die Ameisensäure zerschellen. Dass es sich hier nicht nur um eine griffige Metapher handelt, soll durch die Vergleichsstelle auf S.596f beleget sein, wo Ulrich in sehr aufgeladenem Kontext eine Abrechnung angesichts des Jüngsten Tages fordert. Dort nimmt er ausdrücklich Bezug auf seine eigene und die Unentschiedenheit der Arbeitsgruppe, in der er mitdenkt. Es ist einer der Höhepunkte des Romans, eine folgenschwere Wendung einleitend. Wiederum verankert der Text durch dieses Kriterium die Sinnfrage im christlichen Weltbild, auch wenn die kirchliche Erstarrung keinen Ausweg bietet.
e.
Eine biographische Gestalt der Sinnfrage, die eine bestimmte Art von Antworten zulässt oder ausschließt, hat der junge Ulrich „hypothetisch leben“ genannt. Diese Haltung der Unverbindlichkeit folgt dem Misstrauen an der Gültigkeit und Wahrheit der vorgefundenen Haltungen und Grundsätze. Es ist eine Position des Abwartens und Prüfens, und Ulrich hat das sogar sich selbst gegenüber angewendet: auch seinen eigenen Entscheidungen gegenüber bewahrt er Distanz, seinem Charakter, seinem Beruf, seiner Lebensweise. Es könnte auch anders sein, ist seine Formulierung, derentwegen er sich als Möglichkeitsmensch bezeichnet. Dass er darum zögert, etwas aus sich zu machen, zeigt den größeren Ernst seiner hypothetischen Haltung, die nicht einfach mit der Pubertät zu überwinden ist. Denn nach welchem Kriterium soll sich denn eine Meinung und Ansicht als richtig und gültig erweisen vor einem solchen dogmatischen Skeptizismus?
f.
Die fortgeschrittene Gestalt der Sinnfrage nennt Ulrich Essayismus, sie gibt dem Kapitel den Namen. Es ist die Erkenntnishaltung, eine Sache von allen Seiten zu beleuchten. Diese Haltung ist gerade der Grund, warum in der Frage der Beurteilung des Lustmörders Moosbrugger kein Fortschritt zu erreichen ist: denn Moosbrugger hängt mit allem zusammen! Mit seiner Herkunft und Erziehung, mit seiner Lebenssituation, mit seinem Milieu und seiner Zeit – aber was besagt dies alles für seine subjektive Verantwortung? Die Zusammenhänge lösen gerade die Verantwortung auf, nämlich durch die Aushöhlung der Freiheit. Die psychologische, soziologische, juristische, biologische, vielleicht statistische Beschreibung des Menschen lässt keinen Raum mehr für eine freie Entscheidung. Das interessiert Ulrich am Fall Moosbrugger, weil es sein eigenes Existenzproblem ist: eine Moral, ein Lebenskonzept als bloßer Durchschnittswert, als labiles Gleichgewicht, das erzeugt eine signifikante Lebensunsicherheit, die ihn mit dem Mörder verbunden erscheinen lässt.
g.
Daraus bildet Ulrich in einem weiteren Schritt einen „bewussten menschlichen Essayismus“, der nun diese Jenachdem-Unentschiedenheit absichtlich herbeiführt. Ulrich vergleicht das mit dem Gehen: mit der Gewichtsverlagerung von einem Bein auf das andere begibt er sich von einem labilen Gleichgewicht ins nächste, und kommt dadurch gut voran. Er weigert sich, das Charakter zu nennen, was die Umstände aus ihm gemacht haben, er nennt Selbstfindung und Ausbau der eigenen Persönlichkeit geringschätzig Ichbautrieb, analog zum Nestbautrieb der Vögel, und er empfiehlt, die Moral dem Geschmack der Zeit anzupassen.
Spätestens hier ist der Zynismus in Ulrichs Haltung sichtbar geworden, die sich gegen jeden moralischen Einwand immunisiert hat. Es ist fraglich, ob es überhaupt eine Erfahrung geben kann, die Ulrich aus dieser Position herausstoßen kann. Vorläufigkeit als Prinzip, das kann als Opportunismus ausgelebt werden, das kann ein Leben als Selbstgenuss bedeuten, reine Selbstbezogenheit. Verbrechen kann man so begehen, egomanisch wird man sein, individualistisch. Eigentlich liegt hier die literarische Begründung des heutigen extremen Individualismus vor, der zur Zeit Musils noch kein Massenphänomen war. Auch so lässt sich der Roman lesen: als Sprachgebung an eine sich sonst kaum legitimierende heutige Existenzweise, welche die westliche Gesellschaft dominiert. Wenn die Sinnfrage genauer gefasst werden kann, lassen sich vielleicht auch dazu Einsichten und Antworten gewinnen.
h.
Aber das ist noch nicht der ganze Essayismus. In einem zweiten Anlauf (253) nennt Ulrich einen Essay die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt. Als Beispiel nimmt er Abraham, der seinen Sohn zu opfern bereit ist. Musil hat Kierkegaard gekannt, der Abrahams Opfer breit analysiert. Das Opfer Isaaks steht jeder Moral entgegen, auch jeder Vernunft. Das Tötungsverbot ist Grundlage jeder Gesellschaft, und der Sohn ist Errungenschaft und Stolz des Vaters. Kierkegaard arbeitet an der Widernatürlichkeit und Unmoral der Tötungsabsicht Abrahams die unbedingte und unmittelbare Forderung des Absoluten heraus. Dem Absoluten ordnet sich Vernunft und Natur unter, so lautet verkürzt Kierkegaards Erkenntnis. Ulrich bewundert an diesem „Meister des innerlich schwebenden Lebens“ die eindeutige Gewissheit, entgegen allen Wissens richtig zu handeln. Entgegen Kierkegaard weigert er sich, aus der unbedingten Gewissheit Abrahams eine Lehre zu ziehen oder einen Inhalt zu verallgemeinern. Ulrichs Essayismus ist nicht nur Freihalten, sondern warten auf diese Gewissheit: Und ihm ahnte doch, dass man es aus ganzem Wesen heraus tun oder lassen könnte. (255)
Ulrich beschreibt die moderne Geisteshaltung als die der Genauigkeit. Das erklärt nun seine bisherige Ausbildung als Ingenieur und Mathematiker. Genauigkeit wird als der Ausgriff auf die Welt durch Vermessung und Bebauung verstanden, in einem wissenschaftlichen Pathos, der seit Musils Zeiten bestimmt nicht abgenommen hat. Dem Schwelgen in den Erfolgen von Wissenschaft und Technik stellt Ulrich aber stets eine andere Geisteshaltung entgegen, die mehr auf Ganzheit und Ursprünglichkeit bedacht ist. Zwischen beiden Geisteshaltungen pendelnd wird der Fortgang der Weltgeschichte dargestellt – also unentschieden.
Eine Stelle dabei soll nun als Warnung angeführt werden, sich die Sinnfrage nicht zu leicht zu machen: Denn all die modernen und genauen Menschen, die ihr ganzes Leben rationalisieren, überlassen die Fragen der Schönheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Glaubens ... am liebsten ihren Frauen, und ... einer Abart von Männern, die ihnen von Kelch und Schwert des Lebens in tausendjährigen Wendungen erzählen, denen sie leichtsinnig, verdrossen und skeptisch zuhören, ohne daran zu glauben und ohne an die Möglichkeit zu denken, dass man es auch anders machen könnte. (248)
Die Sinnfrage erscheint in der Gesellschaft also aufgespalten. Das ist umso folgenreicher, als eine der beiden Fragegestalten ja ausdrücklich Ganzheit beansprucht. Lässt sich das durchhalten?
b.
Mit dieser zitierten Bemerkung wird also bereits eingangs eine christliche Beantwortung der Sinnfrage im Predigerstil ausgeschieden: daran wird nicht geglaubt. Glaubensantworten haben keine Plausibilität mehr, zumindest im eindeutigen kirchlichen Predigerkontext. Dennoch sollte die Hoffnung auf eine Lösung nicht vorschnell aufgegeben werden, denn es ist auf die Zusatzbemerkung zu achten: ...ohne daran zu glauben und ohne an die Möglichkeit zu denken, dass man es auch anders machen könnte. Es anders zu machen ist neben der Sinnfrage der zweite rote Faden des Romans. Ulrich nennt das Möglichkeitssinn, und gerade dieser Gedanke motiviert ja seine Sinnsuche. Er möchte sein Leben nicht in durch Konventionen vorgegebenen Bahnen führen, er sucht nach Möglichkeiten und ringt um Alternativen. Der erste Teil des Romans besteht sozusagen aus der Bestandsaufnahme der Sinnkonzepte von Ulrichs Zeitgenossen – zu denen er eine Alternative sucht.
c.
Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass sich das Andersmachen auch auf die Predigt in tausendjährigen Wendungen bezieht. Die Sinnfrage im christlichen Kontext ist in Formeln erstarrt und abartig geworden, also nicht mehr männlich, unternehmend und angriffig. Allerdings ist die christliche Erstarrung der Sinnfrage im Zusammenhang zu sehen mit der Abspaltung der anderen Ganzheitsfragen, nach Schönheit, Gerechtigkeit und Liebe. Da ist an die Ausdifferenzierung der modernen westlichen Gesellschaft zu denken, wie sie Max Weber zu Musils Zeiten für die moderne Soziologie formuliert hat, die nicht nur soziale Milieus, sondern auch Sinnbezirke abzirkelt, und dann der Wissenschaft einen, der Kunst einen weiteren, und eben auch der Kirche nur einen bestimmten Gültigkeitsbereich zuweist. Es kann zu Recht behauptet werden, dass die Gesellschaft durch diese Entwicklung der ganzheitlichen Sinnfrage das Wasser abgegraben hat – und in der Folge wurde diese Not auch häufig artikuliert, sei es durch totalitär-ganzheitliche Systeme, sei es durch überzogene oder reduzierte Sinnansprüche der Kunst, sei es durch ganzheitliche Psychologie oder durch ganzheitliche Spiritualitäten und Körperübungen. Die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt zeigt sich hiervon unbeeindruckt und bietet den Angeboten einen lukrativen Markt, wodurch der Ganzheitsanspruch erst recht wieder beschnitten ist. Ist darauf eine kirchliche Antwort bekannt?
d.
Der Roman meint es trotz üppiger Sprachbilder und gewagter Vergleiche durchaus ernst, wie am Kriterium des „Jüngsten Tages“ zu sehen ist, an dem die wissenschaftlichen Abhandlungen über die Ameisensäure zerschellen. Dass es sich hier nicht nur um eine griffige Metapher handelt, soll durch die Vergleichsstelle auf S.596f beleget sein, wo Ulrich in sehr aufgeladenem Kontext eine Abrechnung angesichts des Jüngsten Tages fordert. Dort nimmt er ausdrücklich Bezug auf seine eigene und die Unentschiedenheit der Arbeitsgruppe, in der er mitdenkt. Es ist einer der Höhepunkte des Romans, eine folgenschwere Wendung einleitend. Wiederum verankert der Text durch dieses Kriterium die Sinnfrage im christlichen Weltbild, auch wenn die kirchliche Erstarrung keinen Ausweg bietet.
e.
Eine biographische Gestalt der Sinnfrage, die eine bestimmte Art von Antworten zulässt oder ausschließt, hat der junge Ulrich „hypothetisch leben“ genannt. Diese Haltung der Unverbindlichkeit folgt dem Misstrauen an der Gültigkeit und Wahrheit der vorgefundenen Haltungen und Grundsätze. Es ist eine Position des Abwartens und Prüfens, und Ulrich hat das sogar sich selbst gegenüber angewendet: auch seinen eigenen Entscheidungen gegenüber bewahrt er Distanz, seinem Charakter, seinem Beruf, seiner Lebensweise. Es könnte auch anders sein, ist seine Formulierung, derentwegen er sich als Möglichkeitsmensch bezeichnet. Dass er darum zögert, etwas aus sich zu machen, zeigt den größeren Ernst seiner hypothetischen Haltung, die nicht einfach mit der Pubertät zu überwinden ist. Denn nach welchem Kriterium soll sich denn eine Meinung und Ansicht als richtig und gültig erweisen vor einem solchen dogmatischen Skeptizismus?
f.
Die fortgeschrittene Gestalt der Sinnfrage nennt Ulrich Essayismus, sie gibt dem Kapitel den Namen. Es ist die Erkenntnishaltung, eine Sache von allen Seiten zu beleuchten. Diese Haltung ist gerade der Grund, warum in der Frage der Beurteilung des Lustmörders Moosbrugger kein Fortschritt zu erreichen ist: denn Moosbrugger hängt mit allem zusammen! Mit seiner Herkunft und Erziehung, mit seiner Lebenssituation, mit seinem Milieu und seiner Zeit – aber was besagt dies alles für seine subjektive Verantwortung? Die Zusammenhänge lösen gerade die Verantwortung auf, nämlich durch die Aushöhlung der Freiheit. Die psychologische, soziologische, juristische, biologische, vielleicht statistische Beschreibung des Menschen lässt keinen Raum mehr für eine freie Entscheidung. Das interessiert Ulrich am Fall Moosbrugger, weil es sein eigenes Existenzproblem ist: eine Moral, ein Lebenskonzept als bloßer Durchschnittswert, als labiles Gleichgewicht, das erzeugt eine signifikante Lebensunsicherheit, die ihn mit dem Mörder verbunden erscheinen lässt.
g.
Daraus bildet Ulrich in einem weiteren Schritt einen „bewussten menschlichen Essayismus“, der nun diese Jenachdem-Unentschiedenheit absichtlich herbeiführt. Ulrich vergleicht das mit dem Gehen: mit der Gewichtsverlagerung von einem Bein auf das andere begibt er sich von einem labilen Gleichgewicht ins nächste, und kommt dadurch gut voran. Er weigert sich, das Charakter zu nennen, was die Umstände aus ihm gemacht haben, er nennt Selbstfindung und Ausbau der eigenen Persönlichkeit geringschätzig Ichbautrieb, analog zum Nestbautrieb der Vögel, und er empfiehlt, die Moral dem Geschmack der Zeit anzupassen.
Spätestens hier ist der Zynismus in Ulrichs Haltung sichtbar geworden, die sich gegen jeden moralischen Einwand immunisiert hat. Es ist fraglich, ob es überhaupt eine Erfahrung geben kann, die Ulrich aus dieser Position herausstoßen kann. Vorläufigkeit als Prinzip, das kann als Opportunismus ausgelebt werden, das kann ein Leben als Selbstgenuss bedeuten, reine Selbstbezogenheit. Verbrechen kann man so begehen, egomanisch wird man sein, individualistisch. Eigentlich liegt hier die literarische Begründung des heutigen extremen Individualismus vor, der zur Zeit Musils noch kein Massenphänomen war. Auch so lässt sich der Roman lesen: als Sprachgebung an eine sich sonst kaum legitimierende heutige Existenzweise, welche die westliche Gesellschaft dominiert. Wenn die Sinnfrage genauer gefasst werden kann, lassen sich vielleicht auch dazu Einsichten und Antworten gewinnen.
h.
Aber das ist noch nicht der ganze Essayismus. In einem zweiten Anlauf (253) nennt Ulrich einen Essay die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt. Als Beispiel nimmt er Abraham, der seinen Sohn zu opfern bereit ist. Musil hat Kierkegaard gekannt, der Abrahams Opfer breit analysiert. Das Opfer Isaaks steht jeder Moral entgegen, auch jeder Vernunft. Das Tötungsverbot ist Grundlage jeder Gesellschaft, und der Sohn ist Errungenschaft und Stolz des Vaters. Kierkegaard arbeitet an der Widernatürlichkeit und Unmoral der Tötungsabsicht Abrahams die unbedingte und unmittelbare Forderung des Absoluten heraus. Dem Absoluten ordnet sich Vernunft und Natur unter, so lautet verkürzt Kierkegaards Erkenntnis. Ulrich bewundert an diesem „Meister des innerlich schwebenden Lebens“ die eindeutige Gewissheit, entgegen allen Wissens richtig zu handeln. Entgegen Kierkegaard weigert er sich, aus der unbedingten Gewissheit Abrahams eine Lehre zu ziehen oder einen Inhalt zu verallgemeinern. Ulrichs Essayismus ist nicht nur Freihalten, sondern warten auf diese Gewissheit: Und ihm ahnte doch, dass man es aus ganzem Wesen heraus tun oder lassen könnte. (255)
weichensteller - 13. Dez, 22:52