3. Subversives Lesen
a.
Origenes war in der Bibelexegese ein Wegweiser. Er hat minutiös den Originaltext rekonstruiert, säuberlich nach hebräischer und griechischer Herkunft getrennt. Literalsinn oder somatischen Sinn hat er das genannt, ein Meister der Exaktheit. (Musil nennt das Buchstabensinn.) Dazu kommt dann die Textauslegung nach dem pneumatischen, psychischen und moralischen Sinn. Die „Königsdisziplin der Improvisation“ aber ist die Allegorie. Das ist die freieste Auslegung, da sind kaum mehr Kriterien, da hilft nur mehr ein grundlegender Glaubenssinn, ein Gespür für das Gemeinte, aufgrund von Erfahrung mit der Heiligen Schrift und von persönlicher Glaubenserfahrung.
Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, spricht von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn. Ich möchte von einem Lesen im Wortsinn sprechen, oder auch Schriftsinn genannt. Er sucht nach der bisher dargestellten Weise den Text nach schwer verständlichen Passagen ab, versucht sie zu erklären – durch Vergleich mit anderen Textstücken aus dem Roman, oder mit Literaturen, auf die sich der Autor bezieht. So lassen sich Textmarken finden, von denen aus sich ein Blick auf den ganzen Text sowie auf das sich öffnende Gemeinte ergibt. Solche Beispiele sind gerade gezeigt worden.
Nun folgt aber ein zweiter Schritt, der das bisher Gewonnene nur so wie Baumstämme eines abgeholzten Waldes betrachtet, und daher über den Baumstümpfen die Stämme und Kronen imaginiert, um so zum Eindruck des ganzen Waldes zu kommen. Dieser zweite Durchgang versucht also, etwas zu sehen, was gar nicht da ist. Und gerade dadurch soll der Text allererst richtig verständlich werden – denn dasselbe hat schon der Autor getan.
b.
Was Ulrich (bzw. der Erzähler: das wird hier nicht unterschieden) Ichbautrieb nennt, die Aufrichtung des Ich aus verschiedenen Arten von Stoff mithilfe einiger Verfahren (252), ist eine prosaische Umschreibung der materiellen Vorgänge des Zusichkommens des Menschen. Die Aufklärung hat gerade darin den besonderen geistigen Akt des freien Menschseins gesehen, Kant nennt es Selbstbestimmung. Genau das ist das Hauptthema des Romans, dessentwillen Ulrich ein Jahr Urlaub vom Leben nimmt, um zu finden, was ihn erfüllen kann und soll. An diesem Problem arbeitet der Autor mindestens 30 Jahre seines Lebens fast ausschließlich, der Leser vollzieht den Niederschlag dieser Arbeit auf 1300 oder 2000 Seiten, falls er solange durchhält. Wie ist es jetzt zu verstehen, dass in einem resonierenden Abschnitt desselben Textes dieses überaus komplexe Problem als “Ichbautrieb“ bezeichnet wird?
Es ist eine Ironie, gerade das Höchste in etwas ganz Niedriges umzudrehen, eine gewisse Derbheit, oder genauer, eine kalkulierte Brüskierung des Lesers, der durch die vorangegangenen Spitzfindigkeiten zu gewagtesten Spekulationen geneigt ist, ein Herabholen des Hochfliegenden auf den Boden der Tatsachen. Vielleicht möchte man es als Selbstkontrolle des Autors bezeichnen, um den Boden nicht zu verlieren. Jedenfalls ist es eine Methode, die der Autor von der ersten Seite an unablässig einsetzt, wodurch er den Text sperrig macht und des Lesers Spekulationen zähmt. Im Text selbst tritt das in Ulrichs Brüskierungen seiner Mitmenschen auf, besonders in seiner Rolle als Wissenschaftler und nüchterner Denker.
c.
Große Teile des vorliegenden Kapitels erörtern die Forderungen einer Haltung der Genauigkeit, entnommen aus den Beispielen der technischen und wissenschaftlichen Modernisierung der Gesellschaft. Diese Fortschritte werden kontrastiert mit Verlusten in den Fragen der Schönheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Glaubens. Kann das denn nun anders gelesen werden denn als eine Klage, als ein Versuch, die Tugend der Genauigkeit auch auf die wirklichen Lebensfragen anzuwenden? Und als Beleg für diese Lesart lässt sich die schon genannte Vergleichsstelle auf S. 597 anführen, wo Ulrich den aberwitzig erscheinenden Vorschlag eines Erdensekretariats für Genauigkeit und Seele macht, der diesmal nicht von ihm selbst, sondern von den anderen lächerlich gemacht wird, von Ulrich selbst aber mit dem Mut der Verzweiflung vorgebracht wurde. Ein andermal wünscht er sich, als Wissenschaftler die Visionen der Heiligen zu erfahren oder den Weg der Erleuchteten mit dem Kraftwagen zu befahren. Im vorliegenden Abschnitt beschneidet er die lange ausgebreitete gesellschaftliche Dominanz des Fortschritts- und Tatsachengeistes mit dem Jüngsten Tag, vor dem die exakte Wissenschaft nichts mehr zu sagen hat.
d.
Hypothetisch leben und Essayismus sind unverbindliche Lebensformen, die philosophisch und gesellschaftlich erörtert werden, aber das existenzielle Problem Ulrichs noch nicht lösen. Die Literatur zum Mann ohne Eigenschaften tendiert eher dahin, diese Lebensunsicherheit historisch aufzufassen als Zustand nach dem Zusammenbruch des alten Europa – auf den die Anlage des Romans ja zusteuert -, und als Nährboden für die aufkommende faschistische Ideologie. Subversiv betrachtet, ist die neue Unverbindlichkeit aber als Veränderung des Freiheitsbegriffs zu betrachten: es geht um die Verwirklichung des potentiellen Menschen, wie er nach der Dekonstruktion aller Verbindlichkeiten hervortritt, mit allem in Zusammenhang, aber an nichts gebunden. Man wird unschwer Beispiele heute lebender Menschen dafür finden. Aber auch Ulrich selbst ist ein solches Beispiel. Sein Freihalten wird aber als ein Suchen und Fragen nach Sinn dargestellt.
e.
Es wird aber noch subversiver. Mit Essayismus ist wohl zunächst eine bestimmte Art von Erkenntnisprozess gemeint, darüber wurde schon gesprochen. Das ungeschriebene Gedicht seines Daseins. Nun soll aber einmal darauf geachtet werden, was es bedeutet, dass in einem Buch das Leben als Textgattung dargestellt wird! Unzweifelhaft wird in dieser Metapher die Grenze von Darstellung und Dargestelltem weggenommen. Der Text ist das Leben, und das Leben ist der Text. Ulrich sagt einmal zu seiner Cousine: Lieben wir einander wie die Figuren auf den Seiten eines Buches! Und der Existenzweise der Meister des innerlich schwebenden Lebens nähert Ulrich sich durch das Studium ihrer Texte. Aber auch der Romanautor unterscheidet wenig zwischen seinem eigenen Leben und dem Romantext: die selben Fragen, das selbe Ringen, die gesuchte Lösung im Roman wäre auch die gesuchte Lösung für den Autor. Es zeigt sich: die existenzielle Frage umgreift Text und Autor – und Leser.
f.
Noch einen Schritt weiter. Die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist, sagt der textgewordene Ulrich und macht damit die Gegenwart ihrerseits zum Text. Er tut das in enger Anbindung an sein Vorbild Friedrich Nietzsche, der in Die fröhliche Wissenschaft (V.Buch, Aph. 374), alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein nennt (Colli/Montinari S.626). Ulrich, der nichts für fest hält, für in sich selbst bestehend, steht im Wandel der sich ändernden Auslegung des Textes Welt. - Aber als guter Nietzscheaner kennt Ulrich auch den nächsten Schritt: Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist .... – nun, umso besser. (Jenseits von Gut und Böse, 1. Hauptstück, Aph. 22; S.37)
Hinter Ulrichs hypothetischem Leben steckt also Nietzsches Totalauflösung der Ontologie: Die Welt als Text und Interpretation zugleich heißt, kein Seinsgrund, kein fester Boden, keine Entscheidung, ob Seiendes ist oder nicht ist. Ulrichs und Musils Literaturwerdung dokumentieren die Auflösung einer real existierenden Welt.
Vor dieser Entwicklung ist die Rede vom Jüngsten Tag noch einmal genauer zu betrachten: Der Untergang der Welt bezeugt doch diesen gerade? Ist nicht unter dem Weltgericht eine Abrechnung zu verstehen über die Realität und Sinnhaftigkeit des Existierenden?
g.
Die eine Frage, die allein das Denken lohne, ist für Ulrich die nach dem richtigen Leben. Diese Richtigkeit erscheint nunmehr aber in einem neuen Lichte: Nicht mehr steht jetzt zur Debatte, ob diese oder jene Berufswahl besser wäre, sondern eher, ob das Leben nicht in Gefahr ist, synthetisch oder fiktional zu werden – die Fiktionsindustrie folgt Ulrich hier beharrlich. Das falsche Leben könnte ein fremdes Leben sein, die Wahl des nicht eigenen Lebens, nach fremden Maßstäben gelebt, die verfehlte Identität. Auch dafür gibt es Textbelege im Roman. Die Frage nach der Richtigkeit ließe sich dann etwa so übersetzen: Bist du es? – Und vor dem Jüngsten Gericht: Bist du es gewesen?
h.
Aber auch die Frage selbst hat nun, indem sie immer wesenhafter gefragt wurde, eine ganz neue Bedeutung erkennen lassen. Denn indem das Leben, das richtige, das eigene, das wahrhafte Leben, das wirklich seiende erfragt wurde, sind seine Seinsstufen ja überhaupt erst hervorgetreten. Das Leben ist kein Fragloses, das sich einfach ergibt, aus einem bestimmten, vorliegenden Material, durch fortgesetzte Auseinanderfaltung – sondern das Leben bekommt Identität erst, wenn gefragt wird. Nur eine Frage lohnt das Denken wirklich – ist jetzt zu lesen, also nicht ein Deduzieren von ewigen Wahrheiten (Axiomen), oder eine Umsetzung von Grundgesetzen, seien es moralische oder Gesetze der Natur. Die Frage des rechten Lebens ist somit schon als Existenzform zu betrachten – noch nicht als Lösung/ Antwort, noch nicht als Ausschlag zwischen Sein und Nichtsein.
Damit ist aber im Hintergrund auch die Bedeutung des Textes neu hervorgetreten. Der Roman, und wenn man so will, im Roman das literaturgewordene Existieren, ist somit zur Frage geworden, zur Existenzfrage. Er ist fragend auf etwas hingeordnet, als Hypothese zwischen Sein und Nichtsein, er hat einen Bezug auf etwas, das nicht im Licht ist, nicht angesprochen, nicht erkennbar – aber an Zeichen doch erschließbar.
i.
Solcher Art sind die Abgründe, über die Ulrich schreitet: im Fragen nach Identität öffnen sich Sein und Nichtsein, und nicht nur sein eigenes persönliches Leben, sondern der Seinsgrund überhaupt ist fraglich geworden. Das essayistische Existieren ist zwar ein Fortschreiten, aber es ist kein Ziel zu sehen: es ist wie ein Schritt, der nach allen Seiten frei ist, aber von einem Gleichgewicht zum nächsten und immer vorwärts führt – taumelnd an den Abgründen vorbei (und nicht immer vorbei, wie der Roman sagt). Diese Nähe und Wirkung der Abgründe verbindet Ulrich mit den Essayisten und Meistern des innerlich schwebenden Lebens – Abgrund nun buchstäblich als Bodenlosigkeit.
Aber in dieser doch sehr hypothetischen und zweifelhaften Lage gibt es nun, wie angedeutet, Hinweise auf eine mögliche Antwort.
j.
Ulrich wartet hinter seiner Person, während seine Verzweiflung mit jedem Tag höher stieg. Seine Abgründigkeit, mit der er so spielerisch umzugehen scheint, hat ihn doch in den schlimmsten Notstand seines Lebens gebracht. Aber dieses Warten ist ein Zeugnis: das, was sein Fragen beantworten, seine Unruhe stillen, seine Ahnung erfüllen soll – das wird nicht von Ulrich selbst erwartet, sondern das wird etwas sein, das ihm begegnet. „Im Kreis seiner Gedanken“ wartet Ulrich wie im Vorzimmer des Anwalts – weil es nicht die Gedanken selbst sind, von denen er Erlösung erhofft; sie sind nur Ankläger und Streitparteien. Ulrich wartet auf etwas, das für ihn aufbewahrt ist, wie ein Text, der schon geschrieben, aber noch nicht gelesen ist.
Und dann, nach geistigen Höheflügen, während ihm die Nacht durch die Fenster ins Leben schaut, steigt Ulrich die Treppe hinunter und tritt aus dem Haus in den nächtlichen Garten. Er sucht festen Boden unter den Füßen, er will die Kälte spüren, er besteht die Finsternis, er tritt fest auf den Weg. Ulrich hat den Abgrund betreten und erfahren, dass er fest ist und trägt. Und dann ereignet sich etwas Zeichenhaftes, selbst im Text fast verborgen: Ein Weg führte zum Gittertor ... ein zweiter kreuzte ihn dunkel deutlich – Ulrich begegnet einem in den dunklen Grund eingeschriebenen Kreuz. Darauf leuchtet ihm Moosbrugger auf, mit diesem von Gott mit allen Zeichen von Güte gesegnetem Gesicht (68), mit dem Gesicht mit den Zeichen der Gotteskindschaft über Handschellen (69). – Eine Kreuzerfahrung im Abgrund, eine Christusbegegnung im Verborgenen, ein Genanntes, das im Nennen nicht aus der Verborgenheit heraustritt, sondern namenlos bleibt, oder mit einem anderen, stellvertretenden Namen zugedeckt wird. Dem abgründigen Fragen ist ein verdecktes Nennen zur Seite getreten – gibt es ein richtiges Leben? Ja, es wird gegeben.
k.
Aber wenn wir ehrlich sind, dann ist diese hintergründige Religion, dieses Bodensuchen des bodenlosen Denkers, seine unwissende Kreuzerfahrung, seine Vision des gefangenen Gotteskindes, eben auch nur Literatur, ebenso Text wie das Subjekt, das diese Erfahrungen macht – oder nicht macht, sondern sie nur dem Leser unterschwellig durchscheinen lässt. Möglicherweise stellt die Begehung des Bodens durch Ulrich auch nur den Kontext der abendländischen Ontologie dar, die zwar nächtens betreten, aber ebenso wieder verlassen und vergessen wird und deshalb nicht von sich aus eine Rolle spielt - außer man spielt mit ihr. Es scheint, als würde dadurch Erfahrung überhaupt aufgehoben. Von dieser Art ist wahrscheinlich allein eine Antwort auf die Frage des Textes nach dem sinnvollen Leben zu erwarten: ob der Text nichts oder alles bedeutet, entscheidet der Leser. Die Analyse der Strukturen liefert ihm dazu Möglichkeiten. Vielleicht liegt darin eine Chance für moderne Seelsorge im Umgang mit der Sinnfrage, Antwortmöglichkeiten zu bieten – aber die Wahrheitsfrage muss anders gestellt werden.
Origenes war in der Bibelexegese ein Wegweiser. Er hat minutiös den Originaltext rekonstruiert, säuberlich nach hebräischer und griechischer Herkunft getrennt. Literalsinn oder somatischen Sinn hat er das genannt, ein Meister der Exaktheit. (Musil nennt das Buchstabensinn.) Dazu kommt dann die Textauslegung nach dem pneumatischen, psychischen und moralischen Sinn. Die „Königsdisziplin der Improvisation“ aber ist die Allegorie. Das ist die freieste Auslegung, da sind kaum mehr Kriterien, da hilft nur mehr ein grundlegender Glaubenssinn, ein Gespür für das Gemeinte, aufgrund von Erfahrung mit der Heiligen Schrift und von persönlicher Glaubenserfahrung.
Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, spricht von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn. Ich möchte von einem Lesen im Wortsinn sprechen, oder auch Schriftsinn genannt. Er sucht nach der bisher dargestellten Weise den Text nach schwer verständlichen Passagen ab, versucht sie zu erklären – durch Vergleich mit anderen Textstücken aus dem Roman, oder mit Literaturen, auf die sich der Autor bezieht. So lassen sich Textmarken finden, von denen aus sich ein Blick auf den ganzen Text sowie auf das sich öffnende Gemeinte ergibt. Solche Beispiele sind gerade gezeigt worden.
Nun folgt aber ein zweiter Schritt, der das bisher Gewonnene nur so wie Baumstämme eines abgeholzten Waldes betrachtet, und daher über den Baumstümpfen die Stämme und Kronen imaginiert, um so zum Eindruck des ganzen Waldes zu kommen. Dieser zweite Durchgang versucht also, etwas zu sehen, was gar nicht da ist. Und gerade dadurch soll der Text allererst richtig verständlich werden – denn dasselbe hat schon der Autor getan.
b.
Was Ulrich (bzw. der Erzähler: das wird hier nicht unterschieden) Ichbautrieb nennt, die Aufrichtung des Ich aus verschiedenen Arten von Stoff mithilfe einiger Verfahren (252), ist eine prosaische Umschreibung der materiellen Vorgänge des Zusichkommens des Menschen. Die Aufklärung hat gerade darin den besonderen geistigen Akt des freien Menschseins gesehen, Kant nennt es Selbstbestimmung. Genau das ist das Hauptthema des Romans, dessentwillen Ulrich ein Jahr Urlaub vom Leben nimmt, um zu finden, was ihn erfüllen kann und soll. An diesem Problem arbeitet der Autor mindestens 30 Jahre seines Lebens fast ausschließlich, der Leser vollzieht den Niederschlag dieser Arbeit auf 1300 oder 2000 Seiten, falls er solange durchhält. Wie ist es jetzt zu verstehen, dass in einem resonierenden Abschnitt desselben Textes dieses überaus komplexe Problem als “Ichbautrieb“ bezeichnet wird?
Es ist eine Ironie, gerade das Höchste in etwas ganz Niedriges umzudrehen, eine gewisse Derbheit, oder genauer, eine kalkulierte Brüskierung des Lesers, der durch die vorangegangenen Spitzfindigkeiten zu gewagtesten Spekulationen geneigt ist, ein Herabholen des Hochfliegenden auf den Boden der Tatsachen. Vielleicht möchte man es als Selbstkontrolle des Autors bezeichnen, um den Boden nicht zu verlieren. Jedenfalls ist es eine Methode, die der Autor von der ersten Seite an unablässig einsetzt, wodurch er den Text sperrig macht und des Lesers Spekulationen zähmt. Im Text selbst tritt das in Ulrichs Brüskierungen seiner Mitmenschen auf, besonders in seiner Rolle als Wissenschaftler und nüchterner Denker.
c.
Große Teile des vorliegenden Kapitels erörtern die Forderungen einer Haltung der Genauigkeit, entnommen aus den Beispielen der technischen und wissenschaftlichen Modernisierung der Gesellschaft. Diese Fortschritte werden kontrastiert mit Verlusten in den Fragen der Schönheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Glaubens. Kann das denn nun anders gelesen werden denn als eine Klage, als ein Versuch, die Tugend der Genauigkeit auch auf die wirklichen Lebensfragen anzuwenden? Und als Beleg für diese Lesart lässt sich die schon genannte Vergleichsstelle auf S. 597 anführen, wo Ulrich den aberwitzig erscheinenden Vorschlag eines Erdensekretariats für Genauigkeit und Seele macht, der diesmal nicht von ihm selbst, sondern von den anderen lächerlich gemacht wird, von Ulrich selbst aber mit dem Mut der Verzweiflung vorgebracht wurde. Ein andermal wünscht er sich, als Wissenschaftler die Visionen der Heiligen zu erfahren oder den Weg der Erleuchteten mit dem Kraftwagen zu befahren. Im vorliegenden Abschnitt beschneidet er die lange ausgebreitete gesellschaftliche Dominanz des Fortschritts- und Tatsachengeistes mit dem Jüngsten Tag, vor dem die exakte Wissenschaft nichts mehr zu sagen hat.
d.
Hypothetisch leben und Essayismus sind unverbindliche Lebensformen, die philosophisch und gesellschaftlich erörtert werden, aber das existenzielle Problem Ulrichs noch nicht lösen. Die Literatur zum Mann ohne Eigenschaften tendiert eher dahin, diese Lebensunsicherheit historisch aufzufassen als Zustand nach dem Zusammenbruch des alten Europa – auf den die Anlage des Romans ja zusteuert -, und als Nährboden für die aufkommende faschistische Ideologie. Subversiv betrachtet, ist die neue Unverbindlichkeit aber als Veränderung des Freiheitsbegriffs zu betrachten: es geht um die Verwirklichung des potentiellen Menschen, wie er nach der Dekonstruktion aller Verbindlichkeiten hervortritt, mit allem in Zusammenhang, aber an nichts gebunden. Man wird unschwer Beispiele heute lebender Menschen dafür finden. Aber auch Ulrich selbst ist ein solches Beispiel. Sein Freihalten wird aber als ein Suchen und Fragen nach Sinn dargestellt.
e.
Es wird aber noch subversiver. Mit Essayismus ist wohl zunächst eine bestimmte Art von Erkenntnisprozess gemeint, darüber wurde schon gesprochen. Das ungeschriebene Gedicht seines Daseins. Nun soll aber einmal darauf geachtet werden, was es bedeutet, dass in einem Buch das Leben als Textgattung dargestellt wird! Unzweifelhaft wird in dieser Metapher die Grenze von Darstellung und Dargestelltem weggenommen. Der Text ist das Leben, und das Leben ist der Text. Ulrich sagt einmal zu seiner Cousine: Lieben wir einander wie die Figuren auf den Seiten eines Buches! Und der Existenzweise der Meister des innerlich schwebenden Lebens nähert Ulrich sich durch das Studium ihrer Texte. Aber auch der Romanautor unterscheidet wenig zwischen seinem eigenen Leben und dem Romantext: die selben Fragen, das selbe Ringen, die gesuchte Lösung im Roman wäre auch die gesuchte Lösung für den Autor. Es zeigt sich: die existenzielle Frage umgreift Text und Autor – und Leser.
f.
Noch einen Schritt weiter. Die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist, sagt der textgewordene Ulrich und macht damit die Gegenwart ihrerseits zum Text. Er tut das in enger Anbindung an sein Vorbild Friedrich Nietzsche, der in Die fröhliche Wissenschaft (V.Buch, Aph. 374), alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein nennt (Colli/Montinari S.626). Ulrich, der nichts für fest hält, für in sich selbst bestehend, steht im Wandel der sich ändernden Auslegung des Textes Welt. - Aber als guter Nietzscheaner kennt Ulrich auch den nächsten Schritt: Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist .... – nun, umso besser. (Jenseits von Gut und Böse, 1. Hauptstück, Aph. 22; S.37)
Hinter Ulrichs hypothetischem Leben steckt also Nietzsches Totalauflösung der Ontologie: Die Welt als Text und Interpretation zugleich heißt, kein Seinsgrund, kein fester Boden, keine Entscheidung, ob Seiendes ist oder nicht ist. Ulrichs und Musils Literaturwerdung dokumentieren die Auflösung einer real existierenden Welt.
Vor dieser Entwicklung ist die Rede vom Jüngsten Tag noch einmal genauer zu betrachten: Der Untergang der Welt bezeugt doch diesen gerade? Ist nicht unter dem Weltgericht eine Abrechnung zu verstehen über die Realität und Sinnhaftigkeit des Existierenden?
g.
Die eine Frage, die allein das Denken lohne, ist für Ulrich die nach dem richtigen Leben. Diese Richtigkeit erscheint nunmehr aber in einem neuen Lichte: Nicht mehr steht jetzt zur Debatte, ob diese oder jene Berufswahl besser wäre, sondern eher, ob das Leben nicht in Gefahr ist, synthetisch oder fiktional zu werden – die Fiktionsindustrie folgt Ulrich hier beharrlich. Das falsche Leben könnte ein fremdes Leben sein, die Wahl des nicht eigenen Lebens, nach fremden Maßstäben gelebt, die verfehlte Identität. Auch dafür gibt es Textbelege im Roman. Die Frage nach der Richtigkeit ließe sich dann etwa so übersetzen: Bist du es? – Und vor dem Jüngsten Gericht: Bist du es gewesen?
h.
Aber auch die Frage selbst hat nun, indem sie immer wesenhafter gefragt wurde, eine ganz neue Bedeutung erkennen lassen. Denn indem das Leben, das richtige, das eigene, das wahrhafte Leben, das wirklich seiende erfragt wurde, sind seine Seinsstufen ja überhaupt erst hervorgetreten. Das Leben ist kein Fragloses, das sich einfach ergibt, aus einem bestimmten, vorliegenden Material, durch fortgesetzte Auseinanderfaltung – sondern das Leben bekommt Identität erst, wenn gefragt wird. Nur eine Frage lohnt das Denken wirklich – ist jetzt zu lesen, also nicht ein Deduzieren von ewigen Wahrheiten (Axiomen), oder eine Umsetzung von Grundgesetzen, seien es moralische oder Gesetze der Natur. Die Frage des rechten Lebens ist somit schon als Existenzform zu betrachten – noch nicht als Lösung/ Antwort, noch nicht als Ausschlag zwischen Sein und Nichtsein.
Damit ist aber im Hintergrund auch die Bedeutung des Textes neu hervorgetreten. Der Roman, und wenn man so will, im Roman das literaturgewordene Existieren, ist somit zur Frage geworden, zur Existenzfrage. Er ist fragend auf etwas hingeordnet, als Hypothese zwischen Sein und Nichtsein, er hat einen Bezug auf etwas, das nicht im Licht ist, nicht angesprochen, nicht erkennbar – aber an Zeichen doch erschließbar.
i.
Solcher Art sind die Abgründe, über die Ulrich schreitet: im Fragen nach Identität öffnen sich Sein und Nichtsein, und nicht nur sein eigenes persönliches Leben, sondern der Seinsgrund überhaupt ist fraglich geworden. Das essayistische Existieren ist zwar ein Fortschreiten, aber es ist kein Ziel zu sehen: es ist wie ein Schritt, der nach allen Seiten frei ist, aber von einem Gleichgewicht zum nächsten und immer vorwärts führt – taumelnd an den Abgründen vorbei (und nicht immer vorbei, wie der Roman sagt). Diese Nähe und Wirkung der Abgründe verbindet Ulrich mit den Essayisten und Meistern des innerlich schwebenden Lebens – Abgrund nun buchstäblich als Bodenlosigkeit.
Aber in dieser doch sehr hypothetischen und zweifelhaften Lage gibt es nun, wie angedeutet, Hinweise auf eine mögliche Antwort.
j.
Ulrich wartet hinter seiner Person, während seine Verzweiflung mit jedem Tag höher stieg. Seine Abgründigkeit, mit der er so spielerisch umzugehen scheint, hat ihn doch in den schlimmsten Notstand seines Lebens gebracht. Aber dieses Warten ist ein Zeugnis: das, was sein Fragen beantworten, seine Unruhe stillen, seine Ahnung erfüllen soll – das wird nicht von Ulrich selbst erwartet, sondern das wird etwas sein, das ihm begegnet. „Im Kreis seiner Gedanken“ wartet Ulrich wie im Vorzimmer des Anwalts – weil es nicht die Gedanken selbst sind, von denen er Erlösung erhofft; sie sind nur Ankläger und Streitparteien. Ulrich wartet auf etwas, das für ihn aufbewahrt ist, wie ein Text, der schon geschrieben, aber noch nicht gelesen ist.
Und dann, nach geistigen Höheflügen, während ihm die Nacht durch die Fenster ins Leben schaut, steigt Ulrich die Treppe hinunter und tritt aus dem Haus in den nächtlichen Garten. Er sucht festen Boden unter den Füßen, er will die Kälte spüren, er besteht die Finsternis, er tritt fest auf den Weg. Ulrich hat den Abgrund betreten und erfahren, dass er fest ist und trägt. Und dann ereignet sich etwas Zeichenhaftes, selbst im Text fast verborgen: Ein Weg führte zum Gittertor ... ein zweiter kreuzte ihn dunkel deutlich – Ulrich begegnet einem in den dunklen Grund eingeschriebenen Kreuz. Darauf leuchtet ihm Moosbrugger auf, mit diesem von Gott mit allen Zeichen von Güte gesegnetem Gesicht (68), mit dem Gesicht mit den Zeichen der Gotteskindschaft über Handschellen (69). – Eine Kreuzerfahrung im Abgrund, eine Christusbegegnung im Verborgenen, ein Genanntes, das im Nennen nicht aus der Verborgenheit heraustritt, sondern namenlos bleibt, oder mit einem anderen, stellvertretenden Namen zugedeckt wird. Dem abgründigen Fragen ist ein verdecktes Nennen zur Seite getreten – gibt es ein richtiges Leben? Ja, es wird gegeben.
k.
Aber wenn wir ehrlich sind, dann ist diese hintergründige Religion, dieses Bodensuchen des bodenlosen Denkers, seine unwissende Kreuzerfahrung, seine Vision des gefangenen Gotteskindes, eben auch nur Literatur, ebenso Text wie das Subjekt, das diese Erfahrungen macht – oder nicht macht, sondern sie nur dem Leser unterschwellig durchscheinen lässt. Möglicherweise stellt die Begehung des Bodens durch Ulrich auch nur den Kontext der abendländischen Ontologie dar, die zwar nächtens betreten, aber ebenso wieder verlassen und vergessen wird und deshalb nicht von sich aus eine Rolle spielt - außer man spielt mit ihr. Es scheint, als würde dadurch Erfahrung überhaupt aufgehoben. Von dieser Art ist wahrscheinlich allein eine Antwort auf die Frage des Textes nach dem sinnvollen Leben zu erwarten: ob der Text nichts oder alles bedeutet, entscheidet der Leser. Die Analyse der Strukturen liefert ihm dazu Möglichkeiten. Vielleicht liegt darin eine Chance für moderne Seelsorge im Umgang mit der Sinnfrage, Antwortmöglichkeiten zu bieten – aber die Wahrheitsfrage muss anders gestellt werden.
weichensteller - 13. Dez, 22:51