Übergänge

Alle drei standen sie in der Großen Halle ganz hinten, im Rücken der vielen Unbekannten, unter denen seine Familienangehörigen, Arbeitskollegen, Bekannte oder vielleicht sogar ehemalige Patienten sein mochten, die sie alle ihre Gesichter dem Prediger zuwandten, der jahrzehntelang sein Kollege gewesen war und nun das letzte Wort behalten wollte: gesetzte Worte, mit wohlklingender Stimme über den Saal verteilt, dabei auf das Pult gestützt, den Sarg neben sich wie ein Utensil, das zur Veranschaulichung der Rede benötigt wurde.
Der Pfarrer hatte sich hinten hineingeschlichen zu einem Zeitpunkt, als er schon mit den Schlussworten der Verabschiedung rechnen musste, nach der Schule durch die halbe Stadt geradelt und schnaufend angekommen – aber der Atem sollte genug Zeit bekommen, wieder zurückzukehren, denn es schien erst die Einleitung gewesen zu sein, und als er sich zurechtgefunden hatte, meinte er im unaufhörlichen Redefluss die Schriftlesung zu erkennen, im selben Singsang und ohne Buch aus seinem Munde, als wäre es seine eigene Eingebung, wie alles andere.
Auch als er irgendwann in dieser Stunde dann den Sarg umschritten hatte mit dem Weihwasser, versiegte der Redefluss nicht, und hätte man nicht hingesehen, würde man gar keinen Unterschied wahrnehmen im Ergehen der Bedeutung. Ein anderes Mal gab es rhetorische Fragen wie: Wer war denn nun unser lieber Verstorbener eigentlich, oder: Warum hat er wohl diesen Beruf gewählt, um dann sogleich die wohlfeile Antwort mit einem „Nun“ daran zu fügen, sodass man sich in einer Art Vorlesung wähnen mochte, wo nun alles klar zusammengefügt wurde, oder in einem gediegenen Seniorenclub, denn der Sprecher, der sich von allen Seiten an das Pult lehnte, die langen Finger wie bei einer Fingerpuppe das Gesagte unterstreichen ließ und den langen Bart über das Pult hängte, repräsentierte die Ewigkeit mit einer Würde, die keinen Widerspruch duldete und tatsächlich von den Scharen wie eine Offenbarung nickend angenommen wurde in allem Ernste.
Natürlich sagte das alles, was sich in dieser Stunde über die Halle ausbreitete, weit mehr über den Sprecher aus als über den Verstorbenen, und der Pfarrer hatte für eine Sekunde die Vision, er würde unter dem Deckel seufzen und die Augen überdrehen. Wofür der Lebende nur wenig Worte gehabt hatte, nur ein Stammeln und Fragen, dafür hatte der Redner nun klare Urteile, fest verschraubt wie der Deckel, und sogar für diejenigen, die jetzt unten in der ersten Reihe stehen mussten, wusste er, was gelungen war und was nicht, und in welcher Beziehung sie zu ihm gestanden hatten, so als wäre er ihrer aller Vater und hätte sie jede Woche um den Tisch gehabt.
Man soll aber nicht meinen, dass er, ohne Ministranten und Lektoren – ja nicht einmal an irgendeine Musik konnte sich hernach noch jemand erinnern – ausschließlich alleine gesprochen hätte, denn zur Überleitung von einem geschilderten Lebensabschnitt zum nächsten, oder von einer Anekdote zu einem Weisheitsspruch über die Ewigkeit – und vieles wusste er darüber zu sagen, und die schweigende Andacht der Hörer schien dabei vom grauen Bart überzeugt worden zu sein – setzte er anstandslos jeweils ein ÜBER-GANGSRITUAL, das mit „Herr, gib ihm ... die ewige Ruhe“ begann und sogleich von der sich in diesem Moment konstituierenden Gemeinde mit „und das ewige Licht leuchte ihnen“ beantwortet wurde. Andere Trauerredner setzen das ans Ende ihrer Andacht, treten zur Seite und übergeben den Angehörigen das Schäufelchen, damit an den einmaligen Übergang vom Zeitlichen (dieses mit einem Seufzer hinter sich bringend) ins Ewige mahnend. Die Endlosigkeit dieser heutigen Zeremonie schien dagegen eher mit einer Kette von Wiedergeburten zu tun zu haben, die trotz so vieler Urteile nicht und nicht zum Abschluss kommen konnte, und vielleicht hatte sie ja deshalb so großen Zulauf

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