Bürgerkirche und messianische Kirche

1.


Am Anfang dieser Untersuchung soll ein Gleichnis stehen, das Jesus erzählt:

Dann richtete er dieses Gleichnis an gewisse Leute, die von sich selber überzeugt waren, gerecht zu sein, und die anderen verachteten: Zwei Menschen stiegen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war Pharisäer, der andere Zöllner. Aufrecht stehend, betete der Pharisäer bei sich selbst so: O Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie der Rest der Menschen bin, wie die Räuber, Rechtsbrecher, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche; ich gebe den Zehnten von allem, was ich erwirtschafte. Der Zöllner hielt sich auf Distanz und wollte nicht einmal die Augen zum Himmel richten, sondern er schlug sich an die Brust, indem er sagte: O Gott, sei mit mir Sünder wieder versöhnt.
Ich sage euch, dieser stieg als der, der Recht bekommen hat, wieder hinunter nach Hause, eher als jener. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, aber derjenige, der sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.

(Lk 18, 9-14, übers. Francois Bovon, 2001)

a.
Weder Jesus wird genannt, noch die Adressaten seiner Erzählung. Diese „gewissen Leute“, die als selbstgerecht und verachtend beschrieben werden, sollen als Thema nicht nur des Gleichnisses, sondern auch meiner anschließenden Erörterung schon am Beginn in den Blick kommen. Gerade ihre ausdrückliche Nichtnennung macht den Hörer/Leser erst recht aufmerksam auf sie. Es ist eine Geste, welche anwesende Personen auf eine Weise adressiert, dass sie es erst bemerken können,
wenn sie dem Lauf der Geschichte folgen und die Pointe verstehen. Der Erzähler rechnet also damit, dass Anwesende die Geschichte hören könnten, ohne sie zu verstehen und sich selbst als Gemeinte zu erkennen. Somit hätte diese ungewöhnliche Einleitung eine markierende Funktion, etwa wie: Wer Ohren hat, der höre. Aber es ist mehr als das: Es wird vom Hörer eine Positionierung verlangt, er soll Stellung beziehen, ob er sich deklariert oder nicht. Denn er muss Kritik einstecken.

b.
Was hat es nun mit dem Gebet des Pharisäers auf sich, dass damit diese Person so umständlich und aufwändig in den Mittelpunkt gestellt wird? Es ist keine Bitte darunter – stattdessen eine Art Dank an Gott. Aber das, wofür gedankt wird, ist nicht ein glückliches Leben oder eine glückliche Geburt, sondern der Pharisäer dankt eigentlich für seine eigenen Leistungen – sich selbst. Denn kein Gesetzesbrecher zu sein führt er ja auf sein Pharisäersein zurück, das sich auf Gesetzestreue stützt. Fasten und der Zehnte entsprechen ebenfalls der pharisäischen Praxis zur Zeit Jesu. Somit bezieht sich sein vorgebliches Gespräch mit Gott gar nicht auf diesen, sondern ist ein Reflex auf sich selbst, eine Selbstvergewisserung im Tempel – aber nicht vor Gott, sondern vor der Tempelöffentlichkeit, als die hier bloß der Zöllner genannt ist.
Mit Ironie zeichnet der Text einerseits die aufrechte Haltung des Pharisäers, andererseits (siehe F. Bovon, S.209) sein Selbstgespräch, das womöglich laut – und dennoch zu sich selbst vorgetragen wird. Entscheidend ist hier, dass der vorgebliche Gottesbezug des Pharisäers, der in besonderer Gesetzestreue bestünde, als bloßes Selbstgespräch demaskiert wurde.

c.
In dieser Demaskierung scheint mir die besondere Dynamik des knappen Textes zu liegen. Die kleine Begebenheit im Tempel wird durch die Gegenüberstellung zweier Figuren zum Lehrgedicht, was am Schluss durch die doppelte Lehraussage angezeigt wird. Aber die Dynamik liegt nicht in diesem Ergebnis, das auswendig zu lernen und formelhaft nachzusagen wäre, sondern in der Anstrengung des Hörers, sich selbst als Angesprochenen zu erkennen und sich sodann auf den Weg der Umkehr zu machen. Dieser Erkenntnis dient dieses Gleichnis; sein Appell geht vom Zuhörer aus, der verstanden hat. Andererseits darf derjenige, der nicht dazu bereit ist, sich mit Unverständnis umhüllen und weiterhin andere Adressatengruppen benennen. Somit erlaubt das Gleichnis eine Navigation zwischen Glauben und Unglauben, und der Eingeweihte erkennt die Aufforderung zur Umkehr.

d.
Die Spannung, in die der Hörer versetzt wird, kann eigentlich nicht mehr zur Ruhe kommen. Denn sobald er aufhört, sich in seiner kirchlichen und sozialen Position von Gott legitimiert zu wähnen, wird er keine andere Ausflucht mehr finden. Er wird keine Umkehr mehr sehen, die in ein bestimmtes Verhalten mündet, in Frömmigkeitsformen oder eine bestimmte religiöse oder ethische Praxis, ohne wieder in die Ausgangssituation der Selbstgenügsamkeit zurückzukehren. In diese scheinbare Aporie einzutreten – vielmehr hineingestoßen zu werden, ist die eigentliche Absicht des Gleichnisses.
Doch diese unabschließbare Such- und Fragebewegung ist gerade die im Text gezeichnete Position des Zöllners, der sich auf Gottes Gnade angewiesen weiß. Seine Bitte um Versöhnung mit Gott ist das eigentliche Gebet. Die Distanz, die er hält, markiert seine religiöse und soziale Position, sein Beiseitestehen ist der Verzicht auf religiöse und soziale Anerkennung, auf die ein Zöllner offenbar von Standes wegen nicht hoffen darf. Was ihm nach menschlichem Ermessen verwehrt bleibt, richtet er als Bitte an Gott.

e.
Es bleibt also nur, entweder im Pseudogebet zu verharren und sich zu immunisieren durch Umadressierung religiöser Forderungen an die anderen, oder sich als von Gott getrennt zu bekennen und um Versöhnung zu bitten. Der solcherart anvisierte spannungsvolle Schwebezustand ist die eigentliche religiöse Haltung, die genau genommen in einem Offenhalten besteht. Im Gleichnis mag das in der Distanz des Zöllners sichtbar werden. Wie aber soll sich eine solche Spannung in einer geschichtlichen Religion manifestieren, ohne sofort wieder ins Pharisäische umzuschlagen? Diese Frage ist die Leitfrage des vorliegenden Essays.

f.
Die historische Gestalt der Pharisäer scheint im zweiten vorchristlichen Jahrhundert gegenüber den Makkabäern aufzutauchen, von denen sie sich abwenden. Die Peruschim (die Abgesonderten) wurden wohl zunächst abfällig so genannt (Gnilka 1994, S.107), fallen aber schon da durch ihre eigenwillige gesellschaftliche Positionierung auf. Trotz zeitweiliger Zerwürfnisse mit den Hasmonäerkönigen erlangen sie zunehmend gesellschaftlichen Einfluss, v.a. durch ihre besondere Art der Gesetzesauslegung. Josephus beschreibt als Zeitzeuge die pharisäische Halacha als eine außerbiblische Tradition, mit der die Tora zeitgemäß interpretiert werden konnte. Der „Zaun um die Tora“ ermöglichte eine Laienfrömmigkeit, die sozusagen demokratisch an die Seite des Tempelpriestertums trat und sich in den Synagogen entfaltete. Sadduzäer und Essener warfen ihnen Lässigkeit, Verführung und Irrtum vor und kritisierten ihren Standesdünkel und ihre strenge Vergeltungslehre, nach der die Heiligen und Frevler jeweils belohnt oder bestraft würden. Anhänger und Gegner berichten gleichermaßen von ihrem großen Interesse an der sozialen Stellung, die religiös sanktioniert wird. Ihre Führer stammen aus dem städtischen Bürgertum und tws. aus der Priesterschaft, ihre Anhänger aus allen gesellschaftlichen Schichten (Roland Deines). Nach dem jüdischen Krieg gehen die Pharisäer in der Rabbinischen Bewegung auf und bestimmen deren Gestalt maßgeblich.

g.
Ganz anders sieht es Jacob Neusner (Ein Rabbi spricht mit Jesus, 2007), der dem Jesus des „jüdischen“ Matthäusevangeliums wie ein Zeitzeuge bei der Bergpredigt begegnet und als amerikanischer Rabbiner des 21. Jahrhunderts in ein fiktives Gespräch mit ihm eintritt. Neusner kann viele Forderungen der Bergpredigt nachvollziehen. Aber woran er sich immer wieder stößt, ist Jesu Adressatenkreis. „Jesus spricht nicht zum ewigen Israel, sondern zu einer Gruppe von Jüngern.“ (45) Neusner wirft Jesus vor, sich mit einer Jüngerschar zu begnügen, anstatt seine Botschaft an das ganze Volk zu richten und ihm eine praktizierbare Form zu geben. Diese Radikalisierung der Tora, die Neusner durchaus anerkennt, fordert persönliche Entscheidung und führt tendenziell aus der sozialen Ordnung heraus, während Neusner die Tora an das Volk in seiner Gesamtheit adressiert sieht. Im Blick Neusners sucht Jesus ein abgeschiedenes Leben mit Anhängern, die ihre soziale Einbettung verlassen und sich allein seiner über der Tora stehenden Autorität unterwerfen müssen. Er verteidigt das Ansinnen der Pharisäer, durch Studium und Aneignung der Tora zu persönlicher Reinheit und Heiligung gelangen zu wollen, und zitiert zustimmend Rabbi Pinchas (Mischna, Sota 9,14), der eine Stufenleiter bis zur Auferstehung von den Toten anführt. Neusner zieht dieses allgemeine Gebot der Heiligung der Forderung Jesu vor, denn sie sei an das ganze Volk gerichtet und könne auch im gewöhnlichen alltäglichen Leben befolgt werden, etwa wie das Sabbatgebot. „Verkaufe alles, was du hast, gib das Geld den Armen und folge mir nach“ ist jedoch immer an einzelne gerichtet und würde als allgemeines Gebot jede Gesellschaft unterminieren.
Rabbi Neusner demonstriert, wie die Pharisäer das alltägliche Leben im Blick haben und dieses durch vernünftige, fromme Reglementierung an den in der Tora bezeugten Gott heranführen. Aber prophetisch argumentiert er nicht.

h.
In der Tat stehen die meisten alttestamentlichen Propheten gerade in einem Gegensatz zu dem bürgerlich-selbstzufriedenen Leben der Israelitenmehrheit. Die Beschimpfungen des Amos entzünden sich an leeren religiösen Ritualen, während die Armen – ebenfalls ein Anliegen der Tora! – geflissentlich übersehen und weiterhin übervorteilt werden. Seit den Tagen des Elija suchen die Propheten die Entscheidung, wollen prüfen, wollen Zuspitzung, verlangen den Wahrheitsbeweis. Das prophetische Drängen nach der göttlichen zurechtrichtenden Offenbarung mündet in die Apokalyptik, in die Erkenntnis von der eigentlichen, sonst verborgenen wirklichen Zugehörigkeit des Gläubigen wie des Gottlosen. Und während prophetische Kritik meist den Einzelnen vom ganzen, irrenden Volk abhebt, steht in der Apokalyptik doch Rettung oder Verderben aller auf dem Spiel. Gerade diese Zuspitzung aber führt zum Messianischen.



2.


Michel Foucault hat wie nebenher den Begriff des Dispositivs eingeführt und ihn kaum irgendwo definiert, außer durch den jeweiligen Gebrauch. Neuerdings hat Giorgio Agamben wieder darauf hingewiesen (2008) und ist dem Begriff durch die ganze Denkgeschichte gefolgt.

a.
Foucault verwendet den Begriff für eine „heterogene Gesamtheit von Willensäußerungen“, etwa durch Diskurse, Institutionen, Gesetze, Polizeimaßnahmen oder philosophische Haltungen. Es geht um Macht, und zwar weniger um Aneignung oder tätige Ausübung, sondern um das, was man will, und wie es dazu kommt, dass dieses oder jenes gewollt wird. Foucault gewinnt den Begriff durch sein Hegel-Studium und dessen Auseinandersetzung mit der Differenz zwischen „natürlicher“ und „positiver“ Religion. Ihn interessiert nämlich, wie es dazu kommt, dass einer historischen Religion mit ihren Vorschriften, Regeln und Institutionen ein bestimmter, persönlicher Glaube entspricht. Es geht um den Zusammenhang zwischen der inneren Einstellung und den realen, beobachtbaren gesellschaftlichen Vorgängen. Für das Verständnis von realer Macht leistet der Begriff Dispositiv vielleicht soviel, dass er die Gefühle und Einstellungen, die Haltungen und Normen, Gesetze, Ängste, Sorgen, Wünsche usw. ins Interesse rückt, ohne bei Beschreibungen von Machttechniken, Machtzentren oder Herrschaften stehen zu bleiben. Ihm geht es mehr um die subjektiven Vorgänge, als um die gesellschaftspolitische Umsetzung. Foucault hat mit diesem Begriff dem Machtverständnis eine entscheidende Wende gegeben, um von technischen Fragen, wer wozu welche Macht besitzt, zu den Fragen vorzudringen, was Menschen eigentlich suchen und erstreben, oder wovon sie sich abwenden, womit sie im Diskurs sind und in welche Richtung der Diskurs geht.

b.
Agamben zeigt den Begriff Dispositiv mit der theologischen Rede der göttlichen Ökonomia verwandt, die Gottes Schöpfungshandeln in der Welt, sein Inkarnationshandeln im Menschen, oder auch Gnadenhandeln in der Seele beschreibbar und unterscheidbar macht – während zugleich von Gottes Einheit gesprochen wird. Er nennt verschiedene Impulse oder verschiedene „Subjektivitäten“ in Gott (die drei Hypostasen Vater – Sohn – heiliger Geist), der dennoch als einer denkbar bleiben soll. Agamben stellt nun die Dispositive neben die Lebewesen, und sieht zwischen ihnen sich Subjekte bilden. So formt z.B. ein Mobiltelefon (gegenständliches Dispositiv) den Menschen zu einem Mobilfunknutzer (Subjekt), eine Domkirche (Architekturdispositiv) den Besucher zu einem Touristen, Kunsthistoriker oder Betenden (Subjekt), oder eine Kindermissbrauchsdiskussion (diskursives Dispositiv) den Diskursteilnehmer zu einem Richter über Institutionen (Subjekt) – und blockiert zugleich dessen Gläubigersein (Subjekt), denn für den Gläubigen ist Kirche Glaubensgemeinschaft, also ein Subjekt höherer Ordnung, und keine Institution. Man mag an diesen wenigen Beispielen ermessen, welch große Bedeutung Dispositive für subjektive Vorgänge haben. Agamben spricht von einem maßlosen Anwachsen der Dispositive und der daraus folgenden maßlosen Vermehrung der Subjektivierungsprozesse. (Was ist ein Dispositiv?, S.27)

c.
Das Dispositiv stellt sich zwischen des Menschen Sein und Handeln. War der Mensch früher einmal ein Waldbewohner, der auf Wetter, Tiere und Pflanzen achtete und mit ihnen kommunizierte, so hat sich durch das Dispositiv der Axt und der Säge sein Handeln völlig verändert, noch mehr durch das Dispositiv der Rechenoperationen und des Handels mit Gütern und Geld, und schließlich noch einmal durch das technische Dispositiv des iPods mit den Kopfhörern. Man sieht, dass jedes dieser Mittel ein anderes Subjekt erzeugt, das gilt für technische Geräte ebenso wie für Diskurse wie Tauschwirtschaft oder Export, für Jagd oder für Verkehrsverbindungen. Foucault spricht von Dispositiven als Maschinen, die Subjektivierungen produzieren. Die heutige Disziplinargesellschaft produziert mit Moden, Idolen und Feindbildern Massensubjekte wie eine Maschine – eine „Regierungsmaschine“. Interessant anzumerken, wie das Verständnis für Dispositive sogleich verstehbar macht, dass Subjekte etwas Abgeleitetes sind, und nicht diejenigen, die, wie die Aufklärungsphilosophie optimistisch dachte, durch freien Plan und Entschluss Wissenschaft betreiben oder technische Geräte zu bestimmten Zwecken herstellen. Foucault zeigt, dass umgekehrt die Existenz der Klinik erst die pathologische Wissenschaft hervorbringt, die Existenz des Gefängnisses durch Kontrolle und Steuerung die moderne Disziplin, ebenso wie Schulen und Fabriken.

d.
Agamben nennt das Opfer ein religiöses Dispositiv. Ihn interessiert nun weniger die transmissive Bedeutung des Opfers als Bedeutungsträger zwischen Mensch und Göttern, sondern die Absonderung des Gegenstandes vom weltlichen Bereich durch bestimmte Praktiken und Rituale. In diesem Sinne kann auch der Sabbat ein religiöses Dispositiv genannt werden, denn er ist der Tag der Gottesruhe und sondert auch seinen „Benutzer“ vom weltlichen Bereich ab und gliedert ihn in die göttliche Sphäre ein, im Medium der Ruhe. Das gleiche kann auch vom Dekalog gesagt werden, der den „Benutzer“ zu einem Empfänger göttlicher Weisungen macht (Subjekt). Das Dispositiv des Tempels macht den „Benutzer“ zum Volk Gottes und bringt ihn in Verbindung zum Göttlichen. Das Dispositiv der Beichte – dieses ist ausführlich untersucht und kommentiert worden (z.B. Roeder, Die Rolle des Geständnisses im Sexualitätsdiskurs, 2007) – produziert Sündersubjekte, d.h. Subjekte mit einer Spaltung, sodass sie sich von sich selbst distanzieren und auf die eigenen Wünsche und Verhaltensweisen kontrollierenden und korrigierenden Einfluss nehmen.
Solchen Dispositiven der Sakralisierung, die etwas von der Welt absondern und heiligen, stehen Gegendispositive der Profanisierung gegenüber, die etwas Heiliges in den alltäglichen Gebrauch zurückführen (Agamben, 2005). Agamben hat aber auch auf beeindruckende Weise vorgeführt, wie Dispositive nicht nur Subjektivierung erzeugen, sondern auch Desubjektivierung. In „Homo sacer“ (2002) entwickelt er das Bild vom abgesonderten Heiligen, der für das Opfer vorbereitet wurde, um daran etwa den heutigen Rechtlosen in seinen Konturen hervortreten zu lassen, der auf seine nackte Existenz reduziert wird. Hier verläuft eine Linie von den Konzentrationslagern bis zu den Migranten, die keine Rechtssubjekte mehr sind. Aber auch die Desubjektivierung des modernen Menschen zum „Bloom“, zum „folgsamsten und feigsten Gesellschaftskörper ..., den es in der Menschheitsgeschichte je gab“, durch das Dispositiv des potentiellen Terroristen soll hier mit Blick auf eine spätere Mediendiskussion angeführt werden, welche durch elektronische Überwachung des ganzen öffentlichen Raums die Stadt zu einem riesigen Gefängnis macht. (ebda 2008, S. 39f)

e.
Von Agamben gehen wir wieder zu Foucault zurück und betrachten das, was er die „strategische Funktion“ des Dispositivs nennt. Nehmen wir nochmals das einfache Beispiel des Mobiltelefons. Seine bloße Existenz „verführt“ den Besitzer dazu, es zu benutzen und z.B. einen Anruf entgegenzunehmen – gleich, in welcher Situation. Sobald es aber auch Internet-Funktionen aufweist, werden auch diese genutzt, ebenso wie die angebotene Möglichkeit der Musikwiedergabe oder der Fotographie oder Filmaufnahme. Und so hat die bloße Passivität gegenüber diesem Gegenstand bereits die Subjekte des Sprechers, Surfers und Musikhörers erzeugt, ohne dass solches beabsichtigt oder angestrebt werden musste. So ist die strategische Funktion zu verstehen. Ohne den Dispositivbegriff hätte man die durch den Gegenstand durchreichenden Absichten des Erfinders und Erzeugers verantwortlich gemacht für seinen Einfluss auf den Benutzer, wie bei einem trojanischen Pferd. Aber man wird sehen, dass das bei den meisten Dispositiven nicht möglich ist. Foucault nennt das Dispositiv Geschlecht. Es erzeugt Subjekte, durch die und über die Macht ausgeübt wird. Aber die Subjekte sind nicht die Verursacher, auch nicht die Träger von Macht, sondern sie nehmen an ihrer Manifestation teil.

f.
Ich möchte nun versuchen, das Pharisäertum als Dispositiv zu beschreiben. Dabei spielt es keine Rolle, wieviel oder wie wenig über diese historische und erst recht soziologische Formation bekannt ist. Es geht eher um die bestimmte Haltung, die von den Subjekten eingenommen wird. Auch die politischen Absichten und Strategien der religiösen Partei, über die nur wenig bekannt ist, sind nicht entscheidend für das Dispositiv, sondern hier ist eher interessant, wie sich die Teilnahme an dieser Gruppierung auf die Subjekte bzw. auf ihre Gegner auswirkt.
Grundlegend für das Selbstverständnis der Pharisäer ist das jüdische Auserwähltheitsbewusstsein. Der Sinai-Bund zwischen Jahwe und Israel (Ex 34) ist
symmetrisch, d.h. er fordert auch von der Familie Jahwes ein bestimmtes Verhalten, obwohl Israels Treue in der Einhaltung der Zehn Gebote nicht als Bedingung für Gottes Erwählung Israels angesehen wird. Während zur Zeit des ersten Tempels der Kult konstitutiv für Gottes Volk war, das darin seine Identität hatte, so wanderte nach dem Exil die Treue zur Tora in das Zentrum der Identität, die somit geistiger wurde. „Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“ (Ex 19,6), wurde zum pharisäischen Leitgedanken, der nunmehr Heiligkeit nicht mehr vornehmlich im Kult zu gewinnen suchte, sondern im Verhalten der Gläubigen. Dabei kann der Sabbat als neues Dispositiv durchaus als „demokratische Neuerung“ verstanden werden, da Heiligkeit nicht mehr der priesterlichen Abstammung vorbehalten wurde, sondern allen, auch einfachen Gläubigen niederschwellig zugänglich war. Damit wird die Möglichkeit der Heiligung zwar breit gestreut, aber sie hat sich nun von der Gnade der Gottesnähe gewandelt in ein aktives Hintreten des reinheitsbedachten Pharisäers vor das erwartete Kommen Gottes. Man erinnere sich an Rabbi Pinchas´ Rede vom Stufenaufstieg des Gläubigen, der sich heiligt, bis vor Gottes Angesicht (Sota 9,14). Um die Tora für die Zeitgenossen unter hellenistischen Bedingungen anwendbar zu machen, entwickeln die Pharisäer neben der schriftlichen Tora eine mündliche Tora - gewissermaßen aktualisierbare Anwenderregeln.

g.
Das Dispositiv des Pharisäers ist somit eine Nachahmung des Priesters – und deshalb eigentlich eine Weiterführung oder Substitution des Tempels. Die Sakralisierung des Tempeldieners für den Kult übersetzt sich hier in die Sakralisierung des vom Profanen Abgeschiedenen (Φαρισαῖος/ pharisaios vom hebräischen Verb פרשׂ (prš). Somit ist das Verhalten des Pharisäers im Gleichnis alles andere als überraschend, vielmehr ist seine Differenz zu den anderen konstitutiv für seine Gruppe, und stellvertretend für ganz Israel. Wenn sein angebliches Gebet gerade diese Differenz ausspricht, dann ist das weniger Arroganz als religiöser Auftrag. Dass die Abgeschiedenheit keine persönlichen Vorlieben widerspiegelt, sondern vom Pharisäerdispositiv erzeugtes Subjekt ist, entspricht der Strategie des Dispositivs. Es macht aus Kaufleuten und Händlern, Handwerkern und Stadtbürgern Heilige und Auserwählte, die naturgemäß sofort zu den aristokratischen Sadduzäern wie zu den radikalen Essenern in Differenz geraten. Dabei übersetzt das Dispositiv den Widerspruch zwischen dem geschäftigen, banalen Alltagsleben und der Sakralisierung in einen Standesdünkel, mit dem sie sich am Markt der Tora-Interpretationen behaupten und bewähren müssen.
Das Pharisäer-Dispositiv generiert Subjekte, die sich von der Autorität der Tora ableiten, und nicht von einer bestimmten Abstammung innerhalb des jüdischen Volkes. Für die Art der Herleitung besitzen sie einen bestimmten Schlüssel, den „Zaun der Tora“. Das Dispositiv ist dieser Schlüssel. Es erzeugt eine bestimmte Kasuistik, ein Regelwerk. Das Dispositiv ist der Diskurs der Anbindung der Alltagsereignisse an die Sinai-Offenbarung (Tora), also eine aktive Einbindung des Subjektes in dem Raum des Vorbeigangs Gottes (Ex 19), gewissermaßen eine Institutionalisierung der Offenheit und Zugänglichkeit dieses Raumes. Nochmals soll das Demokratische dieser Gestalt des Sakralen hervorgehoben werden, denn das Pharisäertum ist frei zugänglich und wählbar und bietet im wesentlichen keine sozialen Vorteile; ein eigener sozialer Stand ist in der Antike nicht nachweisbar. Was aber repräsentiert nun demgegenüber der Zöllner?

h.
Ein Zöllner ist ein freier Unternehmer, der im Dienst der römischen Besatzungsmacht Zoll auf den Warenverkehr einhebt und von der von eingehobenen Gewinnspanne lebt. Die Zusammenarbeit mit den heidnischen Römern macht ihn kultisch unrein. Der toratreue Jude muss sich also von ihm fernhalten. Wenn also der Zöllner ein Repräsentant von etwas ist, dann von Geschäftstüchtigkeit und Pragmatismus gegenüber der Besatzungsmacht. Und was ist er außerdem?
Auf dieser Ebene wäre das Gleichnis eine Art Sozialkritik, wozu es in heutigen Predigten gern benützt wird. Augustinus sieht darin eine Lehre des Betens, er unterscheidet Stolz und Demut (Sermo 115,1). Luther gibt zu, dass in der Reue des Zöllners auch eine Rechtfertigung gesehen werden könnte. Er unterscheidet jedoch im Gleichnis die wahre Frömmigkeit von der heuchlerischen – ohne die soziale Stellung des Pharisäers anzugreifen. Rudolf Bultmann sieht wie Luther den Fehler des Pharisäers nicht in seiner sozialen Situation oder seiner Überheblichkeit, sondern darin, sich für gerechtfertigt zu halten. Was seine Stellung jedoch verunsichert, ist die Anwesenheit des Ausgegrenzten. Während sein Geltungsbedürfnis legitim sei, vermindere sich angesichts des Fremden seine Ernsthaftigkeit vor Gott – und vor dem Nächsten. Die Weise, sich Geltung zu verschaffen vor Gott und den Menschen, würde hier insgesamt scheitern. (Bultmann, Marburger Predigten 107-117)

i.
Ein viel emphatischerer Kritiker des Pharisäertums ist jedoch der ebenfalls protestantische Sören Kierkegaard – der bezeichnenderweise viel weniger zitiert wird als der psychologische Bultmann oder der Moralist Albert Schweitzer.



....




3.


Als oben das Pharisäertum im Blick war, da galt das Interesse weniger der historisch-soziologischen Erscheinung, sondern der bestimmten Beziehung der Vertreter gegenüber der Religion und gegenüber Gott – wobei ja der Pharisäer als Text erschienen ist in einem Gleichnis. Auf die gleiche Weise soll jetzt die Formation des Bürgertums untersucht werden.

a.
Panajotis Kondylis hat 1991 einen wichtigen Essay geschrieben, den kennen sollte, wer über die Stellung der Kirche in der heutigen Gesellschaft nachdenkt. „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“ ist im wesentlichen eine Analyse der bürgerlichen Weltanschauung und dessen, was sie abgelöst hat. Als deren Leitmotiv stellt Kondylis das Harmoniebedürfnis heraus. Sie entsteht durch genaue Berechenbarkeit der Teile, die zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Dieses Motiv wirkt als Motor sowohl der Naturerforschung, der Analyse des Verstandes, der Vernunft und der Gesellschaft. Die bürgerliche Aufklärung arbeitet dabei mit Gegensatzbegriffen wie Natur und Vernunft, Geist und Materie, Norm und Trieb oder Orient und Okzident. Dabei versucht das Harmoniestreben, weder in einen Dualismus noch in einen Monismus zu verfallen. Der Mensch soll nicht als rein materielles Ding gelten, noch als himmlisches Geistwesen, der Naturalismus wird ebenso bekämpft wie die asketische Moral. Der Mittelweg der bürgerlichen Weltanschauung sieht den Menschen mit Vernunft über die Natur herrschen, indem er sich selbst beherrscht und das vernünftig geordnete Gesellschaftswesen. Die Natur versteht er gesetzmäßig geordnet und solcherart erkennbar und beherrschbar. Darum hat das Bürgertum höchstes Interesse, Mensch, Gesellschaft und Welt zu verstehen, um über das Verstandene verfügen zu können (ebda 30).

b.
Dem bürgerlichen Herrschaftsbedürfnis entsprach der Aufstieg der historischen Wissenschaften, mit deren Hilfe auf lange Sicht das dogmatische und hierarchische Denken des Mittelalters beseitigt und der moderne Fortschrittsglaube vorbereitet werden konnte. Kondylis stellt ausdrücklich den Zeitfaktor als Signum des bürgerlichen Zeitalters heraus (34), das er von der Aufklärung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sich erstrecken sieht. Die Ausweitung der bürgerlichen Selbstbehauptung gegenüber dem Feudaladel und der Kirche sieht er sich ökonomisch, dann wissenschaftlich und technisch sich vollziehen. Sein Evolutionismus kommt bereits in der Phasenteilung der Geschichte zum Ausdruck, wo primitive Völker von den hochentwickelten und zivilisierten zu beherrschen sind, ebenso wie das aufgeklärte Bürgertum die mittelalterliche Religion sich zu beherrschen anschickt.
Den großen Schachzug gegen das Christentum sehe ich in der Erfindung der deistischen Gottesfigur. Ein Gott, der sich in die erste der bürgerlichen Geschichtsphasen einreiht, wenn er die Welt erschafft, und sie daraufhin ihren eigenen Gesetzen überlässt, welche nun von den Menschen entdeckt und manipuliert werden können, ohne dabei auf diesen Gott zu stoßen, ist ein abwesender Gott und eher ein Künstler, der sein Kunstwerk vergisst. Die vollgültige Vollendung dieses Denkansatzes ist in den Vätern zu erblicken, die Kinder zeugen, um danach eigene Wege zu gehen und sich mehr um die eigene Entwicklung zu sorgen als um die der Kinder. Vaterlos aufwachsende Kinder, alleinerziehende Mütter und der christliche Gottesglaube sind gleichermaßen Leidtragende dieser bürgerlichen deistischen Denkfigur, die von Descartes bis zum heutigen Radikalindividualisten ihren emanzipativen Siegeszug durchführt.

c.
Warum war das Bürgertum nicht gleich atheistisch? Nun, Kondylis zeigt, wie die Religion in den bürgerlichen Dienst genommen wurde. Zwar war die bürgerliche Weltanschauung rein diesseitig, ihr Herrschaftsanspruch verbot aber, sich dem Nihilismusverdacht aussetzen. Religion wurde auf Ethik reduziert, Gott als Garant einer moralischen Ordnung vorläufig weiter benötigt. Dem Jenseitsglauben wurde eine symbolische Bedeutung zugestanden, biblische Aussagen als historisch bedingt interpretiert. Die geschichtliche Religion wurde nicht nach ihrem Selbstverständnis, sondern nach ihrem gesellschaftlichen Nutzen bewertet, etwa nach ihren karitativen, kunstschaffenden oder friedensstiftenden Leistungen. Alles darüber Hinausgehende wurde als irrational klassifiziert bzw. als interne Wahrheit in einem abgezirkelten Gültigkeitsbereich in der segmentierten bürgerlichen Welt.
Es ist deutlich zu sehen, dass diese Weltanschauung eines ontologischen Fundaments bedarf, das die Vernunft sich geben muss. Trotz größter Anstrengungen der neuzeitlichen Philosophie bis ins 19. Jahrhundert und bis zu Heidegger ist wohl weniger in diesem Bereich der Siegeszug gelungen als in der pragmatischen Selbstbehauptung des Bürgertums durch ökonomischen und gesellschaftlichen – und zuletzt auch durch politischen Einfluss.

d.
Die Bastionen des bürgerlichen Christentums sind Tugenden wie Ordnung, Pünktlichkeit, Fleiß und Sparsamkeit (40), der Beruf selbst, der gesellschaftliche Bedeutung und materiellen Nutzen vereint, Kalkül, Zucht und Leistung. Dem bürgerlichen Bedürfnis nach Sicherheit und Berechenbarkeit entspricht die Anständigkeit und Zuverlässigkeit des Bürgers. Seine Gewohnheiten und Regelmäßigkeit schlagen sich allesamt in seiner Kreditwürdigkeit nieder – einer ursprünglich religiösen Kategorie. Meistgenanntes Beispiel ist die Ehe, die idealerweise Geschlechtstrieb und Befriedigung, Gefühl und Rationalität, Liebe und Institution vereint und harmonisiert und die goldene Mitte zwischen Kalkül und Herz darstellt. Die Familie stellt den Schnittpunkt zwischen privat und öffentlich dar, zwischen Selbstentfaltung und Fremdkontrolle. Ich stelle diese Lebensformen deshalb so zusammen, um das Konstruierte an ihnen hervortreten zu lassen. Spricht nicht sämtliche Liebeslyrik von unbändigen Bedürfnissen und Hoffnungen? Erzählt nicht jeder Liebesroman vom unsäglichen Widerspruch zwischen unbedingter Liebe und gesellschaftlicher Konventionen? Und weiter von der bürgerlichen Doppelmoral, die Öffentliches von Privatem trennt und anders bewertet? Vielleicht liegt hier die Spitze bürgerlicher Anmaßung, und ist deshalb die Klage über das Scheitern gerade hier so laut.

e.
Das Lamento über den Verlust bürgerlicher Tugenden und christlicher Werte setzt beide in eins. Und sicherlich haben sich kirchliche Einrichtungen gerade wegen der hohen Kompatibilität mit dem bürgerlichen Selbstverständnis so gut behaupten können. Als Beispiel möge das Weihnachtslied Stille Nacht dienen, das sowohl die Familienidylle beschwört, wie sie auch die Schutzbedürftigkeit des Menschen in der unwirtlichen winterlichen Natur darstellt. Der knisternde Holzofen illustriert das Bild vollendeter Harmonie, die so schlicht Menschliches wie ein Kind, und so Unfassbares wie göttliche Anwesenheit vereint. Damit übersetzt sich das christologische Dogma der Inkarnation in ein beschauliches Gefühl, welches sogleich den Siegeszug in die Welt antritt, nicht ohne sich seiner Aussage sorgsam zu entkleiden. Und dieser inzwischen interreligiös dargestellten Seligkeit ist bis heute das gesamte Weihnachtsfest gefolgt, das sich in eine familiäre Beschwörung verwandelt hat, die dennoch die ersehnte Harmonie selten wiedergeben kann. Wahrscheinlich ist die Inkarnation der am wenigsten geglaubte christliche Glaubensinhalt – gefolgt von der Auferstehung.

f.
All diese Beispiele weisen auf einen Wandel hin, den Kondylis als Entfaltung der hedonistischen Massendemokratie beschreibt. Ein Motor dafür ist der Funktionalismus, der aufkommt, sobald soziale und logische Hierarchien beseitigt und substanzielle Unterschiede überwunden sind. Das wirkt sich bei den Geschlechterrollen aus, sowie insgesamt bei der Befreiung des Individuums. Schule und Berufswelt wirken darauf hin, das Individuum von sozialen Voraussetzungen und substanziellen Bindungen zu trennen, denn das Dogma der Massendemokratie ist die freie Entfaltung des eigenen Persönlichkeitskerns. Da Bindungen keine substanzielle, sondern nur mehr funktionale Bedeutung haben, sind sie alle gleichwertig und frei wählbar, im Bereich der Geschlechter ebenso wie im Bereich der Abstammung. Die freie Selbstverwirklichung wird nicht mehr in familiärer Harmonie, sondern in Absolutsetzung des Ich und seines Genusses gesehen.
Die am Ende des 19. Jahrhunderts erreichte industrielle Massenproduktion von Gütern ermöglicht zunehmend einen Massenwohlstand und entdeckt auch in den unteren Schichten Konsumenten. Arbeiter werden auch politische Konsumenten, Massenorganisationen entstehen. Das Überangebot von Gütern bildet den autonomen Bürger in einen Massenkonsumenten um. Kondylis betont an dieser Stelle die Unausweichlichkeit der Entstehung von Massendemokratie – was ja gegenwärtig in den Umwälzungen in den arabischen Ländern beobachtet werden kann, und sich in den Wandlungen der osteuropäischen, ehemals kommunistischen Länder wohl bestätigt hat.

g.
Kondylis spricht vom analytischen Denkmodell, welches ein Ganzes in seine Bestandteile zersetzt und daraus wieder ein neues Ganzes aufbaut. Auf diese Weise werden Arbeitsprozesse zweckrational optimiert, Bevölkerungsgruppen sozial neu geordnet oder ethnisch umgestaltet. Damit ist sowohl der Gedanke der sozialen Umverteilung gemeint, wie auch ethnische Umsiedlungen und ethnische Vereinheitlichung durch Auslöschung, wie sie nicht nur im letzten Jugoslawienkrieg und im Holocaust, sondern auch im türkischen Genozid an den Armeniern während des ganzen 20. Jahrhunderts planmäßig stattfand. An dieser Stelle muss über Kondylis hinausgegangen werden, der die beiden Weltkriege nicht in seine Analysen einbezieht. Dabei stellt bereits der erste große Krieg einen massendemokratischen Vorgang par excellence dar, weil er eine Massenproduktion von Kriegsgütern voraussetzt und zugleich die Vermassung und Entwurzelung der Individuen auf die Spitze treibt. Darüber hinaus vermag das faschistische Regime, nicht nur den Wert des Menschen rein materialistisch zu beschreiben, sondern auch endgültig den Hedonismus in den Massen zu verankern. Die Analysen dieser Zeit konzentrieren sich nur auf das Maß der Gewalt, die dabei eingesetzt wurde, und erblicken Grenzen der Gewalt in Formen von heldenhaftem menschlichen Großmut oder von gemeinschaftlichem Zusammenhalt, die Widerstand leisteten oder sich dem Anpassungsdruck verweigerten. Dennoch hat sich die Anpassung an das Massenförmige weiter durchgesetzt, während der singuläre Widerstand antiquiert wirkt. Um die Möglichkeit des modernen Faschismus zu verstehen und die hohe Kongruenz zu heutigen ethischen Standards bei der Tötung unerwünschten ungeborenen Lebens, der Euthanasie oder der Ausbeutung menschlicher und natürlicher Ressourcen sogenannter Entwicklungsländer, ist wohl das Merkmal sichtbarer Gewalt nicht ausreichend. Stattdessen ergeben sich von Kandylis´ Analyse der Massendemokratie neue Ansatzpunkte, die auch auf moderne Formen der Meinungsbildung ein neues Licht werfen.

h.
Den Übergang vom Bürgertum zur Massendemokratie sieht Kondylis in der Massenproduktion von Konsumgütern, die nunmehr über den Bedarf hinausgeht und Bedürfnisse schaffen muss, sowie neue Konsumenten – zuerst aus den Unterschichten, dann aus den Entwicklungsländern, und schließlich aus Senioren, Jugendlichen und Kindern. Die Massenproduktion schafft Massenkonsum.
Weiters spricht er von einer Mechanisierung des Alltags durch Maschinen, einerseits im Bereich der Produktion in Industrie und Landwirtschaft, andererseits im Haushalt und schließlich sogar in der Freizeit. Ich sehe diesen Vorgang in der Synthetisierung aller Lebensbereiche fortgesetzt, die von elektronischen Medien bis zur Nahrungsergänzung reicht. Der Mensch wird selbst, in allen Lebensbereichen, vom Konsumenten zu einem Produkt der Maschine.
Die Auflösung der substanziellen Bindungen hat zunächst dem sozialen Aufstieg des Bürgertums gedient, sie hat aber schließlich diesen Stand selbst aufgelöst, sobald das Emanzipationsbedürfnis auch die unteren Schichten erreicht hat. Das Ende der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand mit bestimmter Existenzform und bestimmtem Weltbild durch Geburt bedeutet den Beginn der freien Wählbarkeit von Lebensform und Meinung – die Soziologie nennt es Freisetzung und beschreibt zugleich auch den Vorgang der Entwurzelung. Das bedeutet geforderte geographische und soziale Mobilität, das bedeutet auch, dass nunmehr Leistung und Bildung, Anpassungsfähigkeit und Dominanz zu Kriterien des gesellschaftlichen Aufstiegs werden. Die demokratische Gleichstellung der Individuen wurde um den Preis der geforderten permanenten Selbstbestätigung erkauft. Fortbildung, Leistung im Beruf, Erweiterung der Konsummöglichkeiten, Produktionssteigerung, Beschleunigung, Effektivitätssteigerung, permanente Innovation – das ist das (späte) Echo des bürgerlichen Fortschrittsdenkens.

i.
Wir halten fest, wie im Prozess der Demokratisierung der Druck auf den einzelnen ständig zunimmt, ohne diesen Vorgang schon erklären zu können. Ein weiteres Produkt der massendemokratischen Entwicklung ist ein neues Subjekt, der „kleine Mann“. Weil das Prinzip der Zugehörigkeit ersetzt wurde durch das Prinzip der Leistung, müssen nunmehr Eliten die Führung übernehmen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, welche sich permanent rechtfertigen müssen und ansonsten ausgetauscht werden. Politische Eliten werben um die Wählergunst, die nicht mehr auf Standeszugehörigkeit zurückgreifen kann, und setzen Methoden der Bedürfniserzeugung ein, z.B. durch Erzeugung von Feindbildern. Nach dem Ende der Monarchie waren das in Mitteleuropa in erster Linie der Bolschewismus bzw. das Kapital, sodann bestimmte Bevölkerungsgruppen, die ökonomisch interpretiert wurden als Ausbeuter oder Schmarotzer, Unproduktive oder Leistungsunwillige. Diesen Negativbildern entsprachen positiv der unbescholtene Bürger und beflissene Konsument, der verlässliche Angestellte sowie der Teilnehmer an verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen – was in den letzten Jahren durch ein entsprechend angesehenes Hobby abgelöst wird.

j.
Dieses so konstituierte Subjekt der massendemokratischen Gesellschaft tritt nunmehr anspruchsvoll und selbstbewusst auf und unterscheidet sich darin vom Kleinbürger des bürgerlichen Zeitalters (200). Er weiß sich als Zielpunkt des industriellen Werbens um Konsumenten, des populistischen Werbens um Wähler sowie des massenmedialen Werbens um Meinungen. Durch Leistung verschafft er sich Einkommen und Konsumkraft, und kommt so in den Genuss von Konsumgütern, gesellschaftlicher Anerkennung und sogar zu Wissen und Meinung – allesamt Konsumartikel. Die Forderung der Geschlechtergleichstellung ist ein hervorragendes Beispiel für dieses Subjekt, das sich durch Leistung und Konsum definiert, und zugleich ist zu sehen, wie dieses Subjekt sogleich universal eingefordert wird auch für ganz anders strukturierte Gesellschaften.
Das Konsumdispositiv – ich möchte es an dieser Stelle erstmals so nennen – erzeugt ein Subjekt, das Kondylis als hedonistisch beschreibt. Nicht nur Gebrauchsgegenstände werden nämlich konsumiert, sondern auch Bildung, Freizeit, Werte und Ideale (203), und es entsteht ein Relativismus, der für eine Massendemokratie notwendig erscheint. Die individuelle Erfüllung wird im Konsum von Massenprodukten gesehen, die Entstehung von Konformismus und Individualismus erscheint wie dessen notwendige Resultante (204). Die Auffassung vom Selbst hat sich völlig gewandelt: Selbstverwirklichung wird nicht von der Umsetzung großer Aufgaben erwartet, sondern vom Genuss, statt Selbstkontrolle und Triebverzicht steht Ausleben der Bedürfnisse, statt Aufrichtigkeit steht Authentizität (212). Kondylis spricht vom „Selbstkonsum des Selbst“ (215), das sich in keine Rollenbilder mehr fügen will, sondern sich selbst produziert und dabei erst recht ein Massensubjekt bildet. Ablesbar ist diese egalitäre Grundeinstellung wiederum in der Geschlechterbeziehung. „Mann“ und „Frau“ fungieren als soziale Chiffren ohne Substanz, ihre Beziehungen müssen verhandelt werden und sollen dem Genuss und der Selbstverwirklichung dienen. Sex ist ein Konsumartikel geworden, der nicht mehr an Beziehung gekoppelt ist. In der Bevorzugung von Minderheitenphänomenen wie der Homosexualität sieht Kondylis einen Nivellierungsvorgang, der auch im Jugendkult durchschlägt (220).

k.
Was die christliche Positionierung in der Massendemokratie so erschwert, ist die grundlegende Änderung des Wahrheitsbegriffs. Bereits der Verfall von Verbindlichkeit erschwert jede Argumentation, und die Pluralisierung hat auch vor der Wahrheit nicht haltgemacht. De facto wird Wahrheit als punktueller Konsens betrachtet, und nicht von Axiomen abgeleitet oder auf metaphysischen Boden gestellt. Funktionale Argumente sind deshalb substanziellen prinzipiell gleichgestellt, was z.B. bei Diskussionen um kirchliche Fragen schnell für Verwirrung sorgt.

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